„Heim ins russische Reich“

Bild: Dim Grits auf wikimedia commons

Es ist selten, dass gewaltbereite Machthaber ihre wirklichen Ziele so deutlich offenlegen, wie es Russlands Präsident Putin am 21. Februar getan hat, als er die von ostukrainischen Abtrünnigen ausgerufenen «Volksrepubliken» anerkannte. Dank dem Berliner «Tagesspiegel» liegt die Rede auch auf Deutsch vor. Putin richtet sich «natürlich auch an unsere Landsleute in der Ukraine» und macht sogleich klar, dass er damit die ganze Bevölkerung meint: die Ukraine sei «ein integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unseres spirituellen Raums».

Dass sich die Ukraine überhaupt abspalten konnte, führt Putin auf das von Lenin gewährte Sezessionsrecht der Sowjetrepubliken zurück, das «nicht nur ein Fehler, sondern wie man sagt, viel schlimmer als ein Fehler» gewesen sei. Die Fortsetzung des – einem französischen Minister zugeschriebenen – Zitats liess Putin unerwähnt: «nämlich ein Verbrechen». Aber so sieht er es: Lenin habe Russland mit den «oft willkürlich gebildeten Verwaltungseinheiten … einen Teil seiner eigenen historischen Territorien entrissen» und namentlich den (jetzt umkämpften) Donbass «buchstäblich in die Ukraine hineingepresst». Spöttisch fährt der Präsident fort: «Und jetzt haben ‹dankbare Nachkommen› Lenin-Denkmäler in der Ukraine abgerissen. Sie nennen es Entkommunisierung. Wollen Sie die Entkommunisierung? Nun, wir sind sehr zufrieden damit. Aber wir dürfen nicht, wie man so schön sagt, auf halbem Weg stehen bleiben. Wir sind bereit, Ihnen zu zeigen, was eine echte Entkommunisierung für die Ukraine bedeutet.»

Mit strafendem Arm nach Odessa

Dass der ganze Weg «heim ins russische Reich» bedeute, sagte er nicht, und auch nicht, was es für den Schritt von der Bereitschaft zum «Zeigen» noch brauchen würde. Aber er kündigte ein Eingreifen weit über den Donbass hinaus an einer Stelle deutlich an: «Wir kennen ihre Namen und werden alles tun, um sie zu bestrafen, sie zu finden und vor Gericht zu stellen», sagte er über die Brandstifter des Gewerkschaftshauses, in dem 2014 in Odessa Dutzende prorussischer Demonstranten ums Leben kamen.  

Jene Ereignisse sind tatsächlich ein besonders düsterer Teil des Sündenregisters, das Putin dem «Marionettenregime» in Kiew vorhielt. Die Vorwürfe mangelhafter Demokratie und grassierender Korruption sind zwar nicht unberechtigt, klingen aber aus berufenem russischen Mund geradezu grotesk, so auch dieser: «In der Ukraine gibt es einfach kein unabhängiges Gericht.» Schwerer wiegt die Benachteiligung der weit verbreiteten russischen Sprache, als «Derussifizierung und Zwangsassimilierung» überzeichnet.

Daniel Goldstein erläutert, dass diese Analyse am Mittwoch, 23. Februar 2022, geschrieben und unverändert gelassen wurde. Einen Tag später begann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Auch Putins Ansprache vom frühen Donnerstag zum Beginn seiner «Militäroperation» ist beim «Tagesspiegel» in deutscher Übersetzung zu lesen. Weitere Sprachanalysen Daniel Goldsteins stehen auf seiner Website sprachlust.ch

Als Beleg für die «externe Kontrolle» der Ukraine führt der Präsident insbesondere deren Zusammenarbeit mit der Nato an, die sich immer mehr als Bedrohung Russlands erweise. Da US-Planungsdokumente «die Möglichkeit eines so genannten Präventivschlags gegen feindliche Raketensysteme vorsehen», sagt er voraus: «Die Ukraine wird als Sprungbrett für diesen Schlag dienen.» Als Vorbeugung sieht er seinen Vorschlag, die Nato möge ihre Ost­erweiterungen zurückrollen. Da dies «ignoriert» werde, kündigt er «Gegenmassnahmen» an, und zu den angedrohten Sanktionen meint er, diese würden selbst ohne Vorwand kommen, um «die Entwicklung Russlands zu unterdrücken».

Lenins Fehler korrigieren

Wenige Stunden nach seiner Rede erteilte Putin seinen Truppen den – nunmehr offiziellen – Marschbefehl Richtung Donbass. Gerade wenn der russische Präsident sein Land durch eine nahende Nato wirklich bedroht sieht, kann er es dabei nicht bewenden lassen, sondern muss eine aus seiner Sicht genügende Kontrolle über die Ukraine anstreben – ganz abgesehen von seiner Berufung auf die historische Zusammengehörigkeit. Das Rad der Geschichte auf einen angeblich richtigen Stand zurückzudrehen, ist ein beliebter Anspruch von Politikern, die mit dem heutigen Stand der Dinge unzufrieden sind.

Dass sich Putin mit der Unabhängigkeit der Ukraine nicht abgefunden hat, zeigt indirekt ein verklausulierter Satz über Lenins «Geschenk an die Nationalisten» – eben das Sezessionsrecht als Mittel, ihnen die gefährdete junge Sowjetunion beliebt zu machen: Der heutige Präsident sagt dazu, «dass die Erwägungen der aktuellen politischen Situation … keinesfalls die Grundlage für die Grundprinzipien der Staatlichkeit bilden dürfen und können». Verbunden mit seiner mehrfach wiederholten Geringschätzung der ukrainischen Staatlichkeit drängt sich der unausgesprochene Schluss auf, nur im Verbund mit Russland lasse sich in der Ukraine Staat machen.

Unter dem Titel „Sprachlupe: Es lohnt sich, Putins Rede zu lesen“ erschien der Beitrag zuerst auf infosperber.ch

Daniel Goldstein
Dr. Daniel Goldstein studierte Geschichte und Volkswirtschaft in Zürich. Er arbeitete journalistisch als Korrespondent in Brüssel, war Redakteur der Zeitung „Bund“ und später Kolumnist. Seit November 2021 erscheinen seine Kolumnen ausschliesslich online und können im laufend nachgeführten E-Buch "Sprache im Gros und im Detail (III)" nachgeschlagen werden.

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