Das Alphabet der Gewaltherrschaft

Für einen Repressionsapparat, der sich ein inländisches oder ein ausländisches Staatswesen unterwirft, ist das Vermögen, den Raum zu beherrschen von größter Bedeutung. Der den Raumgewinn garantierenden Waffengattung kommt das meiste Gewicht zu. Die Landstreitkräfte sind bei einem Waffengang gegen die eigene oder die fremde Bevölkerung bedeutender als die Marine oder die Luftwaffe. Putschisten und klassische Imperialisten sind Geopolitiker, das liegt in der Natur der Sache. Während Demokratien mit ihren Legislaturperioden zeitlich gegliedert sind, agieren Diktaturen raumbezogen. Das ganze Land mit Straßensperren überziehen und sich die Hauptstadt als Trophäe aneignen, ist ihre Logik. Ihr müssen sie bei Strafe des Untergangs gehorchen.

Diesem Gedanken geht dieses Buch nach. Man landet beim Lesen in der Gegenwart, obwohl seine beiden Autoren mit Chile ein südamerikanisches Land und einen Putsch vor einem halben Jahrhundert zum Gegenstand haben. Das Alphabet der Gewaltherrschaft besteht, ist das von ihr angerichtete Blutbad vorbei, aus nur wenigen Buchstaben. Der Repressionsapparat braucht Dossiers über seine Gegner, einen Geheimdienst, der ihm die Gegner verrät und Folterer, die sie in die Mangel nehmen. Der Apparat muss einen allgegenwärtigen Schrecken verbreiten und diesen Schrecken auf Dauer stellen. Im Falle Chiles war ein terroristisches Mittel der Wahl, politische Gefangene verschwinden zu lassen. Militärs und ihre Auftraggeber sind nicht sonderlich erfindungsreich. Vielleicht erlebt diese Variante des Terrors gegenwärtig ihr Comeback.

Putin und Xi Jinping arbeiten daran

Was soll an einem Zettelkasten Aufregendes sein? Die schiere Zahl von 45.000 Karten, gefunden in der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad? Die auf einem riesigen Areal im Süden Chiles beheimatete Sekte hatte mit diesem Archiv den putschenden Generälen geholfen, Oppositionelle zu jagen, zu foltern und umzubringen. Die Sekte hat es zu zweifelhaftem Ruhm gebracht; sie war Gegenstand eines durchaus ansehnlichen Films mit der wunderbaren Emma Watson. und Netflix hat den sektiererischen Siedlern letztes Jahr eine Spielfilmserie gewidmet. Was das Buch aber dem verfilmten Material voraushat, ist die präzisere Innenansicht einer gleichsam staatlich legitimierten Terrorinstanz. Es zeigt die Arbeit im Backoffice des datengestützten Staatsterrorismus. Sein Gegenstand, weit davon entfernt, der Vergangenheit anzugehören, scheint einer glänzenden Zukunft entgegen zu gehen. Die Herren Putin und Xi Jinping arbeiten daran.

Maier und Narváez nehmen sich das auf den Karten niedergelegte semantische Rohmaterial vor. Ihre Semiologie fördert viel hervor. Das Archiv gibt mit treuherziger Offenheit wieder, was die Protagonisten der Unterdrückung so denken. Sie sind von viel weniger Ideologie beherrscht, als man gemeinhin annimmt. Wer einen Menschen foltert, braucht ihn nur als Kommunisten, Freimaurer oder Juden zu sehen, und die zivilisatorische Hemmung schwindet völlig. Schon ein slawisch klingender Name genügt und ein Mensch gerät in die Maschinerie; so im Falle der Colonia Dignidad. Die Opfer sind Studentinnen und Studenten, Gewerkschaftsleute oder kommunistische Bergarbeiter. Auf den Karteikarten sind sie verzeichnet und die Täter ebenso. Die sich der Diktatur zur Verfügung stellen, haben Eigenschaften, die an die Männerphantasien des gleichnamigen Buchs denken lassen: „Raucht und trink nicht. Lebt asketisch. Schnell und hart in seinen Entschlüssen.“ Die meisten dieser Männer gelten als derecho, was anständig heißt.

Hass als Kitt des autoritären Charakter

Das Wort Jude, judio, ist notiert, als bezeichne es die Zugehörigkeit zur feindlichen Front. Werden Versatzstücke von Ideologie verwendet, spricht der Buchhalter der Karteikarten vom Krebsgeschwür des Marxismus. Ein verdächtiger Priester gilt als semi-marxista. Das Vaterland retten, die Einheit der Nation wahren, das ist alles an ideologischem Überbau. Den Unterbau machen die Autoren im Hass aus. In der Tiefenstruktur der Karteikartentexte spüren sie diesem Ferment nach. Der Hass ist gleichsam der Kitt des autoritären Charakters; er hält den Einzelnen zusammen und verbandelt ihn mit den Gleichgesinnten.

Die Kategorie Klassenbewusstsein klingt dagegen wie eine im Käfig der Abstraktion eingesperrte Kategorie, schreiben die Autoren. Über ihrer Emotionstheorie vergessen sie den realgeschichtlichen Bezugspunkt nicht: Was Pinochets Diktatur ermöglichte, waren die Minenbesitzer, die reaktionären Kleinunternehmer und die Latifundios, die die Sozialisierungspläne Allendes als Bedrohung ihrer Existenz empfanden. Die den Putsch vehement begrüßten, stammten meist von den nordeuropäischen Einwanderern ab. Sie sahen ihre Privilegien von den Indigenen und den mit ihnen vermischten Unterklassen bedroht. Sie reagierten mit dem grenzenlosen Hass, den sie ihren Widersachern unterstellten.

Der Hass reagiert auf Signalwörter; vernimmt er sie, schlägt er los. Mit sich selbst im Reinen ist er erst, wenn er sein Objekt vernichtet hat. Dieter Maier und Luis Naraváez zitieren aus Friedrich Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre: „In diesem Augenblick dünkte mich’s, als ob die ganze Welt in meinem Flintenschuss läge und der Hass meines ganzen Lebens in die einzige Fingerspitze sich zusammendrängte, womit ich den mörderischen Druck tun sollte.“ Die Herren der Colonia Dignidad hatte es in den Fingern gejuckt und sie haben dem Reiz gerne nachgegeben. Darin liegt ihr Verbrechen.

Der Hass braucht einen Anlass, damit er sich entfalten kann. Die eigene Angst ist ein solcher Anlass. Die allgegenwärtige Repression induziert diese Angst. Der grenzenlose Schrecken, den sie selbst verbreitet, findet seine psychodynamische Entsprechung in dem Verfolgungswahn, dem die Gewalttätigen pathologisch ausgesetzt sind. Vom individuellen Hass unterschieden ist der Gruppenhass. Die Phänomenologen Maier und Narváez gehen den Differenzierungen des emotionalen Stoffs begrifflich nach. Auf Mischungsverhältnisse weisen sie hin. Sich endlich rächen zu können, ist von einer unbändigen Freude begleitet.

Fische, die man gefüttert hat

Ihr Hass veranlasst die Quälgeister, sich in ihre Opfer gleichsam zu verbohren. Ein Folteropfer schreibt in einem Brief an Dieter Maier von der „ekelhaften Fixierung der Folterer auf Sexualität.“ Schwer zu ertragen sind die Passagen des Buchs, wo es den Tätern über die Schulter schauen lässt: „Wir haben gerade Renato Angulo in Haft…Er hat nicht viel gesagt, aber wir hoffen, dass er es in Zukunft tut.“ Die Folter ist das Hauptinstrument im Instrumentenkasten des Terrors. Sie wird gleichsam von Mechanikern betrieben. In einem gegen einen Täter laufenden Prozess (der erst 2018 mit einer Verurteilung endete) spricht dieser vom maquinearlos; die Opfer wurden gleichsam maschinell bearbeitet. Die tortura taucht im Zettelkasten nur einmal auf und zwar als Zitat; die Süddeutsche Zeitung hatte über die Untaten der Colonia Dignidad berichtet. Die Erinnerung an die Tortur verbleibt für immer im Körper. Sie veranlasst, so ein weiteres Opfer, „intimstes Zittern“.

Die Gefangenen verschwinden zu lassen, verbreitete den größtmöglichen Schrecken. Mehr als 100 Menschen sind in der Colonia Dignidad verschwunden. Dort war ein Zwischenreich errichtet, indem man weder weiterlebte, noch gestorben und begraben war. Wie die Verschwundenen zu Tode gekommen sind, lässt sich nachlesen. Der chilenische Geheimdienst gab den Gefangenen eine als Impfung erklärte Giftspritze, verbrannte ihre Kleidung, verpackte die Leichen in Säcke, beschwerte die Säcke mit Eisenbohlen, verlud sie in Hubschrauber und warf die Toten ins Meer. Paul Schäfer, gottesfürchtiger Diktator der Sekte, sprach angelegentlich von den Fischen, die man wieder gefüttert habe. Hinter den Getöteten macht der Buchhalter des Archivs, ein Dr. Gerd Seewald, ein handschriftliches Kreuz in der rechten oberen Ecke. Ordnung muss sein. Das Schicksal der Ermordeten, so die Autoren, schreit seit 50 Jahren zum Himmel, aber leider ist der Schrei verhallt, es sei denn, dieses Buch würde breit rezipiert, was angesichts des deutschen Rezensier-Wesens ziemlich unwahrscheinlich ist.

Foto: Luis Carcía auf wikimedia commons

Eine Alternative zum Modell der Oktoberrevolution

Salvador Allendes Unidad Popular war der Versuch, Sozialismus und Rechtsstaatlichkeit zusammen zu bringen. Der Sozialist Allende war mit den Mittel der bürgerlichen Demokratie an die Macht gekommen, und als er sie innehatte, tat er die Institutionen dieser Demokratie, den Rechtsstaat mit seinen Parteien und seiner Gewaltenteilung, nicht als historischen Plunder ab. Im Politikmodell der Unidad Popular sah eine Linke, die sich damals als neu bezeichnete, eine Alternative zum Modell der Oktoberrevolution und der autoritären Machtausübung des Realsozialismus. Im Kugelhagel der Obristen ist dieses Modell untergegangen, worauf viele der Jungen plötzlich ihre Sympathie für die alte Linke entdeckten.

Dieter Maier, einer der beiden Autoren, gehörte damals dem Sozialistischen Büro an, wo man diese Rolle rückwärts nicht hinlegen wollte. Er schrieb eine Biografie Pinochets und zwei weitere Bücher über das verrückte, gemeingefährliche Dorf am Fuß der chilenischen Anden. Der dortigen Justiz half er, übelste Totschläger aus der Zeit der Diktatur dingfest zu machen. Gegenwärtig berät er die Bundesregierung mit ihrem Fonds für ehemaligen Mitglieder der Colonia Dignidad, indem er hilft, die Täter der Sekte von ihren Opfern zu unterscheiden. Frank-Walter Steinmeier hat ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen, (was seine Freunde auf dem Waschzettel des hier besprochenen Buchs erfahren haben). Der von deutschen Aussiedlern und chilenischen Soldaten verübte Terror soll nicht vergessen werden und nicht die Ermordeten und Verschwundenen, denen doch einmal unsere Solidarität gegolten hatte. Daran arbeitet Dieter Maier. Es ist sein Lebenswerk.

Dieter Maier/ Luis Naraváez, Kartei des Terrors. Notizen zum Innenleben der. chilenischen. Militärdiktatur (1973 – 1990) aus.. der Colonia Dignidad. Schmetterling-Verlag Stuttgart, 2022, 316 Seiten, 29,80 €

Unter dem Titel „Phänomenologie des Ungeistes“ erschien der Beitrag zuerst auf Glanz&Elend

Peter Kern
Peter Kern hat Philosophie, Politik und Theologie in Frankfurt am Main studiert, war kurzzeitig freier Journalist, dann langjähriger politischer Sekretär beim Vorstand der IG Metall und ist nun wieder freier Autor und Mitarbeiter der Schreibwerkstatt Kern (SWK).

1 Kommentar

  1. Einen Dank an den Rezensenten hier auf dem Blog und vor allem an die Buchautoren, die sich überzeugend mühen, diese Vorgänge von damals dem allgemeinen Vergessen zu entreissen. Zumal diese Vorgänge nicht irgendwelche im (von hier aus gesehen) fernen und unbedeutenden Chile waren, sondern welche mit vermutlich sehr weitreichender Bedeutung: Der (vermutlich erstmalige, eventuell sogar bis heute einmalige Versuch, abgesehen von Versuchen innerhalb des damaligen Ostblocks, beispielsweise in der damaligen Tschecheslowakei) einen freiheitlich-rechtsstaatlichen Sozialismus zu praktizieren, wurde brutal (mit Hilfe der USA) zusammengeschossen, zugunsten eines (damals neuen) diktatorisch-marktradikalen Experiments der aufkommenden neoliberalen Doktrin.
    Nur eine inhaltliche Anmerkung zu einer kurzen Bemerkung des Rezensenten: Die Aktualität von Buch und Rezension liegen vermutlich weniger in der Erkenntnis, dass für (imperialistische) Diktaturen das Vermögen im Mittelpunkt steht, den Raum zu beherrschen, dass sie daran zu erkennen seien und dass sie dieser Logik „bei Strafe des Untergangs“ nachkommen müssen. Wie der Frankfurter Wissenschaftler Vinzenz Hediger jüngst (7.3.2022) im Feuilleton der FAZ überzeugend darlegte („Nur Gewalt im Angebot“), ist es eher umgekehrt: Nur scheiternde und untergehende Diktaturen, wie die von Putin, setzen noch auf die Logik des Raums und ausschließlich auf primitive Gewalt im Innern. Erfolgreiche wie die von Xi Jinping investieren in moderne Techniken und weltumspannende Projekte unter Vermeidung von Raumgewinnen, die heute auf Dauer sowieso viel Last und kaum Gewinn bringen.

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