Im Nachhinein sind wir klüger, aber noch lange nicht klug – oder die Schwierigkeit das Richtige zu tun

Wir wissen jetzt alle, dass Deutschland Putin in naiver und egoistischer Weise auf den Leim gegangen ist. Wie konnten wir so dumm sein, billigerem und umweltfreundlicherem russischen Gas gegenüber anderen Alternativen den Vorzug zu geben? Wie konnten wir glauben, dass enge wirtschaftliche Verflechtung Putin davon abhalten könnte, die Konfrontation mit dem Westen zu suchen? Wie konnten wir 2008 eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens ablehnen, wo diese ihnen doch einen sicheren Schutzschirm gegen die russische Aggression geboten hätte? Wie konnten die USA und das Vereinigte Königreich die Ukrainer überreden ihre Atomwaffen abzugeben, wenn Sie dann nicht gewillt sind, britische und amerikanische Soldaten für die Sicherheitsgarantien in den Krieg zu schicken? Wie konnte Deutschland solange meinen, dass es besser ist, zusammen mit Frankreich eine Verhandlungslösung zu suchen, statt der Ukraine Waffen zu liefern? Im Nachhinein ist alles einfach und klar. Aber wenn unter Ungewissheit zu entscheiden ist (hat man Gewissheit, braucht man nicht zu entscheiden), ist die Lage unübersichtlicher.

Das unsägliche Leid der Kinder, Frauen und Männer in der Ukraine, die bewegenden emotionalen Appelle von Präsident Selensky verlangen nach scharfen Maßnahmen. Politiker und Politikerinnen werden von Journalist:innen in Talkrunden bedrängt. Warum wird die Gangart gegen Russland nicht weiter verschärft ? Warum werden keine schweren Waffen geliefert? Kann man sich angesichts bombardierter Krankenhäuser der ukrainischen Forderung nach einer Flugverbotszone verschließen? Warum werden nicht alle Handelsbeziehungen mit Russland eingefroren oder zumindest ein sofortiger Importstopp für Öl, Gas und Kohle verhängt? Bei jeder Maßnahme entsteht in der Debatte eine Dringlichkeit und Unbedingtheit, dass gerade dieser Schritt (Einstellung North Stream 2, Lieferung von Verteidigungswaffen, Ausschluss vom SWIFT … ) entscheidend sei oder zumindest wesentlich das Kriegsgeschehen beeinflussen könnte. Jede Unterlassung muss sich den Vorwurf des Verrats an der Ukraine oder zumindest der nationalen Eigensüchtigkeit gefallen lassen.

Darf man angesichts des furchtbaren Leids und der russischen Aggression trotzdem die Frage stellen, was jetzt nicht nur moralisch geboten ist, sondern auch zielführend und klug ist? Dass es bisher in der Ukraine nicht nach Putins Plan läuft, ist dem Mut der Ukrainer, dem Dilettantismus des russischen Überfalls und der westlichen Ausbildung und Ausrüstung der ukrainischen Armee zu verdanken. Die Sanktionen spielen dabei bisher keine Rolle.

Möglichkeiten und Grenzen von Sanktionen

Sanktionen können theoretisch in verschiedener Weise das Kriegsgeschehen beeinflussen. Sie können dem Aggressor einen so großen wirtschaftlichen Schaden zufügen, dass sich aus seiner Sicht eine Fortsetzung des Krieges nicht weiter rechnet. Leider ist trotz des erheblichen finanziellen und politischen Schadens kein Umdenken bei Putin zu erkennen. Sanktionen können darauf abzielen, so viel wirtschaftliche Not und Versorgungsengpässe auszulösen, dass sich am Ende eine hungernde und frierende Bevölkerung gegen das Regime erhebt. Angesichts der Größe Russlands, des in der Bevölkerung durchaus räsonierenden großrussischen Chauvinismus, der weitgehend zerschlagenen Opposition und Russlands eigenen wirtschaftlichen Möglichkeiten ist diese Option zumindest kurzfristig unwahrscheinlich. Oder Sanktionen schwächen ein Land so sehr, dass es nicht länger die wirtschaftlichen Möglichkeiten hat, den Krieg fortzusetzen.

Nachdem die massiven Sanktionen und der offensichtliche Schock, den die von Moskau in dieser Härte nicht erwarteten Maßnahmen ausgelöst haben, zu keiner Verhaltensänderung geführt haben, verbleibt ein auf die Zerstörung der russischen Wirtschaft abzielender Wirtschaftskrieg als Ziel der Sanktionen.

Bilder (3): geralt auf Pixabay

Wie groß sind dafür die Erfolgsaussichten? Wie in jedem Krieg geht es darum, dem Gegner bei möglichst geringen eigenen Verlusten größtmöglichen Schaden zuzufügen. Das Ziel einer Sanktion ist nicht, zuallererst die eigene Opferbereitschaft zu demonstrieren, sondern dem Gegner zu schaden. Ob dies bei einem sofortigen Verzicht auf alle russischen Energielieferungen der Fall ist, ist umstritten zwischen:
> Modellökonomen, die genau zu wissen vorgeben, dass es nicht so viel kostet, 
> der Bundesregierung , die tiefe Krisen und Panikreaktionen von Wirtschaft und Verbrauchern fürchtet,
> und denen, die es moralisch unerträglich finden, von den Russen irgendetwas zu kaufen.

Statt emotional jetzt eine Sanktion nach der anderen zu fordern, scheint es angebracht, mit strategischer Nüchternheit Sanktionen gemäß einer optimalen Nutzen-/Kostenabwägung zu kalibrieren. Bundeskanzler und Bundeswirtschaftsminister erwecken den Eindruck, dass sie genau das tun und trotz des medialen Dauerfeuers und der manchmal ins Maßlose abgleitenden Leidenschaft des ukrainischen Botschafters auch weiterhin zu tun gedenken.

Dabei ist sowohl die kurzfristige Schockwirkung als auch die Frage der russischen Umgehungsmöglichkeiten durch neue Handels- und Vertriebswege zu beurteilen. China, Indien und andere asiatische Länder scheinen gewillt, die Möglichkeiten nutzen, billiges russisches Öl und Gas zu kaufen. China wird nicht alles, aber vieles, liefern können, was auf der westlichen Sanktionsliste gegenüber Russland steht. Zudem macht es in dieser Situation keinen Sinn darauf zu hoffen, dass es reicht, die Kosten des Krieges in die Höhe zu trieben. Bei einer Umstellung von Friedens- auf Kriegswirtschaft treten wirtschaftliche Motive gegenüber dem Kriegszielen absolut in den Hintergrund. Oder mit anderen Worten: die kriegsnotwendigen Produkte werden hergestellt, egal was es kostet. Wenn überhaupt, wird ein wirtschaftlicher Zerstörungskrieg selbst bei weiter verschärften Sanktionen erst über Jahre den gewünschten Erfolg zeitigen. Keine Frage, er wird Russland schwer schädigen, aber eben nicht besiegen.

Vertreibung als russische Waffe

Auf der anderen Seite wird Russland versuchen, dem Westen im Gegenzug höchstmöglichen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen. Dies kann die Verstaatlichung westlicher Unternehmen in Russland, die Einstellung privater und staatlicher Kreditzahlungen und die Einstellung von Energielieferungen beinhalten. Die stärkste ökonomische Waffe sind dabei wahrscheinlich die Flüchtlingsströme. In der Flüchtlingskrise 2015 beliefen sich die Kosten pro Geflüchtetem in Deutschland auf ca. 20.000 Euro jährlich. Geht man davon aus, dass die Kosten pro Geflüchtetem aus der Ukraine im EU Durchschnitt zwischen 10.000 und 20.000 Euro liegen, wären für die EU bei bis zu 10 Millionen vom Bombenterror vertriebenen Menschen in den ersten Jahren mit Belastungen von 100 – 200 Milliarden jährlich zu rechnen. Dies beinhaltet noch nicht die indirekten Kosten, die sich insbesondere für einkommensschwache Schichten aus dem verstärkten Druck auf dem Wohnungsmarkt und den Niedriglohnsektoren ergeben. Allerdings sind mittel- und langfristig auch erheblich positive volkswirtschaftliche Effekte von einer massiven ukrainischen Zuwanderung zu erwarten.

Da Deutschland und die Nato aus guten Gründen nicht direkt militärisch eingreifen wollen, haben die Sanktionen auch die unbestreitbar wichtige Funktion, nicht hilf- und tatenlos auf den russischen Krieg zu reagieren. Aber ein solches moralisch-politisches Handlungsgebot sollte nicht den Blick auf die höchstmögliche Wirksamkeit und mögliche Risiken verstellen. Wie ist ein jahrelanger Wirtschaftskrieg zu führen, damit er Russland nachhaltig ökonomisch und militärisch schwächt, ohne aus Verzweiflung und Wut getriebene gefahrvolle Gegenreaktionen auszulösen? Stopp von Technologietransfer, Direktinvestitionen und Export von Investitionsgütern, Abwerbung von Spezialisten, Ausschluss von internationalen Finanzmärkten sind dabei mindestens so wichtig wie die Reduzierung aller Art von Energie- und Rohstoffimporten.

Es gibt einen Eskalationspunkt westlicher Strafmaßnahmen gegen Russland und militärischer Unterstützung für die Ukraine, der Putin bewegen könnte, dass Undenkbare zu tun und noch furchtbarere Waffen einzusetzen oder den Krieg über die Ukraine auszuweiten. Dieser Eskalationspunkt existiert sowohl bei der militärischen als auch der wirtschaftlichen Kriegsführung, aber keiner weiß genau an, welcher Schwelle er liegt. Ihn nicht zu überschreiten und trotzdem der Ukraine maximale Unterstützung zu geben, erfordert größtes politisches Urteilsvermögen der politischen Entscheidungsträger.

Einige Punkte scheinen auf jeden Fall richtig und geboten. Europa muss offen bleiben für Fliehende aus der Ukraine, auch wenn dies viele Milliarden kosten wird. Unterstützung mit Verteidigungswaffen, militärischen Aufklärungsdaten, Lieferung humanitärer Hilfe sowie großzügige Wirtschaftshilfe bleiben ein Gebot der Stunde. Die Ukraine muss nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich überleben.

Sanktionsaufhebungen nur mit ukrainischem Einverständnis

Glaubt man den Militärexperten, ist trotz der großen Leistungen oder – um ein aus unserem post-heroischen Alltag verschwundenes Wort zu gebrauchen – des Heldenmuts der ukrainischen Armee davon auszugehen, dass die ukrainische Armee einen Sieg Russlands verhindern, aber Russland nicht besiegen kann. Wenn das stimmt, muss nach Wegen für einen Waffenstillstand gesucht werden, dem beide Seiten zustimmen können. Wie so etwas aussehen kann, ist im Moment schwer vorstellbar. Das Ziel, die wirtschaftlichen Bestrafung und Zerstörung Russlands solange fortzusetzen, bis Russland sich aus der Ukraine zurückzieht, für die Schäden aufkommt und die territoriale Integrität in den Grenzen von 2013 anerkennt, ist moralisch verständlich, aber trotz aller Empörung und Wut über Putin möglicherweise in seiner Absolutheit eher Strafe als Lösung.

Sanktionen gegen Russland im Gegenzug zu einen international überwachten Waffenstillstand und Sicherheitsgarantien ganz oder teilweise wieder aufzuheben, selbst wenn der Diktator ungestraft im Kreml bleibt, ist möglicherweise eines der wenigen Verhandlungsangebote, die die Ukraine die Möglichkeit haben sollte, in die Waagschale zu werfen. Dabei geht es nicht darum, schon jetzt zu überlegen, wie man mit Russland wieder ins Geschäft kommen kann, sondern ausschließlich darum, Russland deutlich zu machen, dass Voraussetzung, aber auch Möglichkeit für eine Lockerung irgendwelcher Sanktionen ein von der Ukraine verhandelter und anerkannter Waffenstillstand sowie international abgesicherte Sicherheitsgarantien sind.

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Frank Hoffer
Dr. Frank Hoffer ist ehemaliger Mitarbeiter der Internationalen Arbeitsorganisation ILO und Associate Fellow an der Global Labour University Online Academy. Zuvor war er als Sozialreferent in der Deutschen Botschaft in Moskau und Minsk sowie als Geschäftsführer der Initiative ACT tätig, die sich für existenzsichernde Löhne in der Textilindustrie einsetzt.

3 Kommentare

  1. Ganz herzlichen Dank für diesen Artikel. Wenn ich auch gleich zwei kritische Anmerkungen habe, will ich doch zunächst betonen, dass ich es für unverzichtbar halte, moralische Imperative und nüchterne Überlegungen nicht gegen einander auszuspielen (ausspielen zu lassen), sondern nach Wegen zu SUCHEN, wie Beides mit einander verbunden werden kann. Und eben das wird in diesem Artikel getan.

    Nach dieser – vollkommen ernst gemeinten!! – Vorbemerkung nun zwei kritische Anmerkungen:

    Frank Hoffer spricht von einem “in der Bevölkerung durchaus räsonierenden großrussischen Chauvinismus”. Ich kann und will bei meiner Kenntnis der Dinge nicht bestreiten, dass es diesen Chauvinismus gibt, denke aber, dass ein anderes Moment eine mindestens (?) ebenso große Rolle spielt:
    Ich nehme an, dass so ziemlich jede Russin/jeder Russe aus dem Geschichtsunterricht die Bilder des brennenden Moskau im napoleonischen Krieg kennt. Und weiter gehe ich davon aus, dass für die allermeisten RussInnen eine relativ direkte Linie von dort zum 1. Weltkrieg, den Interventionskriegen, dem 2. Weltkrieg führt und daher die Darstellung der russischen Führung, die NATO-Osterweiterung gehöre in diesen Kontext, auf breite Zustimmung stößt.
    Dass diese Argumentationslinie heute von der russischen Führung zur “Begründung” eines völkerrechtswidrigen Krieges herangezogen wird, ändert in meinen Augen nichts an dieser Einschätzung. (Die demagogische Verwendung eines Arguments sagt eben nichts über dessen Realitätsgehalt.)
    Wenn diese Einschätzung stimmt, hat sie ZWINGEND Auswirkungen auf die Reaktionen auf die Aggression:
    Wenn diese Reaktionen bei der Mehrheit der russischen Bevölkerung nicht die Tendenz zum Schulterschluss mit der Führung noch verstärken sollen, muss deutlich werden, dass die Ängste – ob “wir” sie nun für rational berechtigt halten oder nicht – ernst genommen werden. D.h.: Ein Eingehen auf die Forderung nach einem Stop der NATO-Osterweiterung ist nicht “Kapitulation vor Putin”, sondern eine Conditio sine qua non für eine Zustimmung der Mehrheit der russischen Bevölkerung zu einer derartigen Lösung.

    Nachdem mir diese Passage etwas länger geraten ist als ursprünglich vorgesehen, kann und will ich den zweiten Punkt deutlich kürzer machen:
    Ich denke, die Fokussierung auf die Person Putin trifft die Problematik nur eingeschränkt. Wenn es “nur” diese Person wäre, könnten wir darauf hoffen, dass sie eher über kurz als lang beiseite geschoben wird. Leider (!!!) sieht es nicht danach aus – und wir haben uns mit einer russischen Führung zu befassen, in der das Vabanque-Spiel zur bevorzugten Beschäftigung geworden ist. (Dass es dafür nicht nur interne Gründe gibt, will ich hier nicht weiter ausführen, aber doch erwähnen.)

  2. Sehr geehrter Herr Hoffer,
    Ich muss Sie enttäuschen: Die Auflistung des nun Ihres Erachtens gleichsam im Nachhinein allgemein geteilten Wissens, ist falsch. Den meisten Punkten im ersten Absatz Ihres Textes widerspreche ich hiermit mit Nachdruck. And I hope, I’m not alleine. Aber vielleicht war die Liste ja auch ironisch gemeint …
    Mit besten Grüßen
    Ingrid Kurz-Scherf

    1. Sehr geehrte Frau Kurz-Scherf, vielen Dank für ihren Kommentar. Hier liegt, glaube ich, ein Missverständnis vor.

      Ich bin eben gerade der Meinung, dass es einfach und wohlfeil ist, im Nachhinein zu sagen, dass alles, was damals getan wurde, falsch war. Gerade unter den Bedingungen von Unsicherheit gab es ja durchaus relevante Gründe für diese Politik. Aber wir müssen wohl feststellen, dass die vergangenen Entscheidungen nicht zu dem angestrebten Ergebnissen geführt haben. Sie haben den Krieg nicht verhindert.

      Im zweiten Absatz betone ich, dass jetzt erneut schwierige Entscheidungen unter den Bedingungen von Unsicherheit getroffen werden müssen. Entscheidungen, von denen wir auch erst in der Zukunft wissen, ob sie zu den erwünschten Ergebnissen geführt haben werden. In der Rückschau wird es dann wieder diejenigen geben, die schon immer wussten, dass es richtig oder falsch war.

      Beste Grüße
      Frank Hoffer

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