Auf der Suche nach dem verlorenen Verstand  

Glaskugel aus dem Wiener Sigmund Freud Museum
(Foto: Detlef zum Winkel)

Im Ukraine-Krieg rückt die Möglichkeit eines Waffenstillstands in immer weitere Ferne. Nachdem sich die russischen Truppen aus den Gebieten nördlich von Kiew zurückziehen mussten, wird nun im Ostteil der Ukraine heftig gekämpft. Russland will dort den gesamten Donbass und möglicherweise auch die gesamte Schwarzmeerküste erobern. Mit jedem weiteren Tag wächst das Ausmaß der humanitären Katastrophe, die der Krieg anrichtet. Die Frage ist, ob es in dieser Situation gelingt, den Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien mehr Geltung zu verschaffen, als es bisher der Fall war. Damit ein Waffenstillstand eine Chance hätte, müsste man ihn allerdings erst einmal wollen.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat den von ihm angeordneten Überfall unter anderem damit begründet, dass er der Ukraine das Recht auf einen eigenen Staat streitig machte. Mehrfach betonte er in seiner Fernsehansprache vom 24. Februar, dass die heutige Ukraine „vollständig von Russland geschaffen“ worden sei und „nie stabile Traditionen echter Staatlichkeit“ gehabt habe. Es dürfte ihm schwerfallen, von diesem hohen Ross herunterzukommen, ohne hart auf dem Boden aufzusetzen. Selbst wenn es ihm gelänge, Russland Teile der Ostukraine einzuverleiben, müsste er den großrussischen Anspruch aufgeben, wonach das Nachbarland „ein unveräußerlicher Teil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unserer Religion“ sei. Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Ukraine einzugestehen, wäre demnach eine komplette Kehrtwende. Putin hat also ein starkes Motiv, die Situation offenzuhalten und den Krieg im Vertrauen auf die militärische Macht Russlands zu verlängern.

Ladenhüter des Militarismus haben Hochkonjunktur

Auf der ukrainischen Seite wechselt die Haltung zu einem kurzfristigen Waffenstillstand nahezu täglich. Mal signalisiert Präsident Wolodymyr Selenskyj die Bereitschaft, auf einen Nato-Beitritt zu verzichten und über die Neutralität der Ukraine zu verhandeln. Tags darauf wirft er Angela Merkel und Nicolas Sarkozy vor, sie hätten 2008 einen Beitritt der Ukraine zur Nato verhindert und seien daher mitschuldig an der russischen Aggression. Damit bringt er zum Ausdruck, dass es, mindestens langfristig, das Ziel der Ukraine bleibt, Mitglied in dem Militärbündnis zu werden, um dort die Rolle eines Vorpostens gegen Russland zu übernehmen.

Beide Kriegsparteien sehen bisher keinen Vorteil in einer Einstellung der Kampfhandlungen. Darin werden sie von außen bestärkt. China vermeidet alles, was den Eindruck einer Kritik am russischen Vorgehen wecken könnte. Die Nato-Staaten sind derart intensiv mit einer „Zeitenwende“ beschäftigt – Pazifismus bereuen, Russland sanktionieren –, dass kaum jemand ernsthaft darüber nachdenkt, wie man aus der Kriegshysterie wieder herauskommt. Derartige Initiativen lässt „unsere hundertprozentige Unterstützung“ (Annalena Baerbock) für die Ukraine nicht zu.

Diese Situation ist typisch für Krieg, der sich aus sich selbst heraus zu reproduzieren beginnt. Er duldet keine Aufweichung der Kampfmoral durch Friedensangebote oder auch nur moralische Skrupel. Es ist bezeichnend, dass die ältesten Ladenhüter des Militarismus binnen kürzester Zeit eine neue Konjunktur erlebt haben, etwa dass den Krieg vorbereiten müsse, wer den Frieden will, oder dass der Krieg „endlich wieder“ der Vater aller Dinge sei, wie es in vielen Kommentaren derzeit zu lesen ist. Dabei ist der Krieg vor allem der Vater des Krieges.

Zu Ende bringen, was begonnen wurde…

Darum, wie es weitergeht – Begrenzung, Eindämmung, Waffenstillstand oder Fortsetzung des Kriegs bis zum Sieg über den Feind – wird nun heftig gerungen. Aus der russischen Propaganda wurden Pamphlete bekannt, die nur als faschistisch zu bezeichnen sind. Ein Gastbeitrag in der größten staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti rief kürzlich dazu auf, die „Entnazifizierung“ der Ukraine müsse auch eine „Entukrainisierung“ bedeuten, die Bevölkerung müsse bestraft und ideologisch umerzogen werden.

Ramsan Kadyrow (Foto: www.kremlin.ru)

Nationalistische Extremisten wie der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow sind dagegen, dass überhaupt mit der ukrainischen Regierung verhandelt wird: Man müsse zu Ende bringen, was man begonnen habe. Zahlreiche Augenzeugen aus den besetzten Gebieten berichten über von russischen Soldaten verübte Morde an der Zivilbevölkerung, auch Kadyrows Soldaten waren an Ort und Stelle. Die russische Armee streitet ab, solche Vergehen begangen zu haben. Wäre das ernst gemeint, müsste sie eine Untersuchung über die erhobenen Vorwürfe einleiten und sich von Kriegsverbrechern trennen, deren mörderisches Treiben sie nicht zum ersten Mal gern in Anspruch nimmt.

Gleichzeitig werden die Stimmen ukrainischer Scharfmacher und ihrer deutschen Unterstützer immer lauter und schriller, allen voran die des ukrainischen Botschafters in Berlin, Andrij Melnyk. Er bezeichnet gleich ein halbes Jahrhundert europäischer Politik gegenüber Russland, die dem Appeasement gefrönt habe, als Fehler. Dafür macht er namentlich führende Politiker der SPD, CDU und FDP verantwortlich, während die Grünen bisher von seinen Attacken verschont blieben, obwohl sie doch mit der aus ukrainischer Sicht so schädlichen Friedensbewegung engstens verbunden waren.

Der Grund für diese freundliche Behandlung ist nicht ersichtlich. Liegt es an Ralf Fücks, einem altgedienten Funktionär der Grünen, der sich in einem Gastbeitrag für die FAZ für eine militärische Konfliktlösung ausspricht? Fücks war jüngst in die ukrainische Hauptstadt Kiew gereist. Von dort brachte er die Botschaft mit, zu einem Waffenstillstand sei man in der Ukraine nicht bereit; dafür sei schon zu viel Blut vergossen worden. „Und sie [die Ukrainer] trauen sich zu, diesen Krieg zu gewinnen, wenn der Westen sie vorbehaltlos unterstützt.“ Fücks glaubt, im Kanzleramt dominiere „die Sorge vor einer militärischen Eskalation. Dabei zeigt alle Erfahrung, dass Russland sich nur durch eine Politik der Stärke abschrecken lässt.“
Der Politiker, der schon in seiner maoistischen Jugend gegen Russland eiferte, ist mit seiner Einstellung, Stand jetzt, nicht repräsentativ für die Grünen, wohl aber für eine Reihe von Mitgliedern des ehemaligen KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland), die in die Grünen eintraten, ohne sich durch besondere Naturliebe auszuzeichnen. Sie werden heute von Nato-Falken hofiert; das haben Kritiker des KBW übrigens schon vor vierzig Jahren erwartet.

Bild: geralt auf Pixabay

Den Krieg fortsetzen, um Kriegsverbrechen zu verhindern?

Mit der Aussage „Alle Russen sind gerade unsere Feinde“ erschreckte wiederum Melnyk seinen wohlmeinenden Interviewer bei der FAZ. Nach den Gräueltaten von Butscha dürfe die Weltöffentlichkeit „uns nicht mehr dazu zwingen, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden“, sagte er. „Denn eine Waffenruhe würde bedeuten, dass Hunderte andere Städte und Dörfer womöglich ein ähnlich schreckliches Schicksal erwartet.“ Den Krieg fortsetzen, um Kriegsverbrechen zu verhindern – auf die Rationalität der Argumente kommt es nicht mehr an. Es zählt nur noch, auf der richtigen Seite zu stehen.

Für ihre Verteidigung braucht die Ukraine die politische, finanzielle und militärische Unterstützung der Nato-Staaten. Für einen militärischen Sieg braucht sie mehr Unterstützung, viel mehr Geld und „Waffen, Waffen, Waffen“, wie es der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba zuletzt in Brüssel vortrug. Schließlich wird die Ukraine gegen die russische Nuklearmacht auch westliche nukleare Abschreckung fordern. Die Nato-Staaten werden dadurch zu Kriegsparteien, ohne selbst kämpfen zu müssen, das ist bequem.

Aber wenn es schiefgeht, also der Ukraine-Krieg in einen offenen Krieg der Nato gegen Russland oder einen Atomkrieg umschlägt, wird sich für alle die Frage nach dem Sieger erübrigen. Wir haben es nicht gewollt, kann der Westen dann sagen, Putin war schuld! Richtig, aber dass das Ergebnis nicht absehbar war, wird man kaum behaupten können. Wer diese bisher langsame, aber stetige Eskalation unterbrechen will, müsste nicht nur Russland sanktionieren, sondern auch damit aufhören, die Ukraine von einer Kornkammer in eine Waffenkammer zu verwandeln. Es braucht ein klares Signal, dass ein dritter Weltkrieg keine Option ist. Wie üblich dürfte eine Reduzierung der Zahlungen am ehesten verstanden werden. Wer den Frieden will, darf nicht den Krieg bezahlen.

Der Beitrag erscheint auch bei Jungle World

Detlef zum Winkel
Detlef zum Winkel, ursprünglich Physiker. Lebt in Frankfurt am Main und schreibt vornehmlich für die Berliner Wochenzeitung Jungle World. Betreut dort u.a. die Themen Atomenergie und Proliferation, aber leider auch Faschismus, weil es immer noch ein Thema ist.

3 Kommentare

  1. Alles schön und gut, aber offensichtlich möchte Herr Putin nicht verhandeln. Zudem bezeichnet er die Ukrainer als Nazis und Faschisten. Seine Soldaten töten und vergewaltigen wahllos und er behauptet immer noch, von der Nato zu dieser „Spezialoperation“ genötigt worden zu sein. Und schlussendlich behauptet er der Krieg in der Ukraine stünde in der Tradition des großen vaterländischen Krieges gegen Hitlerdeutschland. Er wirft also die Ukrainer mit Hitler und seine ruchlosen Mitmachern in einen Hut. Zeitgleich telefonieren wohl etliche Staatenlenker mit diesem üblen KGB-Faschisten und nicht passiert.
    Was sollen denn die Ukrainer machen?
    Aufhören sich zu wehren und damit den lügenboldigen Russen es erlauben, sich in ihrem Land breit zu machen und bei Gelegenheit noch ein paar mehr Ukrainerinnen zu vergewaltigen? Vermutlich wird Putin erst verhandeln, wenn er ein Mindestmaß an „Erfolg“ erzielt hat.
    Wir, die wir dies alles aus der Ferne kommentieren sind vermutlich nicht über alle Dinge, die da im Hintergrund laufen informiert, aber ich bin mir sicher, dass es etliche Initiativen gibt Verhandlungen anzuregen. Und sicher wäre es klug Waffenlieferung für die Ukraine an Bedingungen und Bereitschaften betreffs Verhandlungen zu knüpfen.
    Aber der Satz „wer den Frieden will, darf nicht den Krieg bezahlen“ klingt doch für Ukrainer, die seit Wochen im U-Bahnkeller hausen, Kinder die bei jedem Bombeneinschlag zusammenzucken, für Ukrainerinnen, die um ihre Männer bangen, für von Russen vergewaltigte Frauen, für alle ie schon Tote beklagen wie Hohn – und ist es auch!
    Vielleicht wäre ein Spezialkommando, das dem Herrn Putin den Garaus macht das Beste – ist wohl leider nicht möglich und bei Hitler leider auch nicht geklappt.

    Ganz ehrlich, auch mir ist bei dieser Gemengelage sehr sehr unwohl zumute. Zudem sei hier einmal angemerkt: auch diejenigen, die für Waffenlieferungen sind haben Sorge um Eskalation und Atomkatastrophen !!!
    Dennoch halte ich eine Unterstützung der Ukraine zur Verteidigung für besser. Die distanzierte Empathielosigkeit und Verhandlungsrethorik aus der warmen – noch – sicheren Wohnstube finde ich zynisch.

  2. Der Kommentar von Detlef Wend ist leider (!) ein erneutes Beispiel für eine gelegentliche geradezu denunziatorische „Argumentations“-Weise:

    Es reicht ihm nicht, dass der Satz „wer den Frieden will, darf nicht den Krieg bezahlen“, in den Augen Betroffener „wie Hohn (klingt)“ (ich denke, das trifft in vielen Fällen zu). Nein, D.W. weiß: er „ist es auch“ – zum Nachdruck versehen mit einem „!“.

    Und dann weiß er von einer „distanzierte(n) Empathielosigkeit und Verhandlungsrethorik aus der warmen – noch – sicheren Wohnstube“ zu berichten, die er „zynisch“ findet.
    Vielleicht hat er ja den Ursprungsartikel gar nicht gelesen, oder aber ihm ist entgangen, dass darin ausdrücklich auf Kriegsverbrecher/n hingewiesen wird.
    Ich weiß auch nicht, ob Herr Wend seine warme (?) und sichere Wohnstube verlassen hat, als er seinen Kommentar geschrieben hat.

    Es wäre gut, wenn Denunziation nicht als Kriterium einer „Solidarität mit der Ukraine“ gehandelt würde.
    Das schadet nämlich dieser Solidarität!!!

  3. Lieber Herr Wend, Sie sind vielleicht etwas vorschnell mit Ihren Vorwürfen von Empathielosigkeit und Distanz. Stellen Sie sich bitte einmal ganz konkret vor, Sie wären ein Familienvater und säßen mit Ihrer Familie in einem Keller von Mariupol. Sie hören explodierende Raketen und Gefechtslärm. Sie hatten anfangs gedacht, in Ihrer Stadt zu bleiben und mit Ihrer Anwesenheit zu demonstrieren, dass die Ukraine Mariupol nicht aufgibt. Nehmen wir an, dass die Stadt zu diesem Zeitpunkt zu etwa einem Drittel zerstört ist. Die Detonationen kommen immer näher. Jetzt wollen Sie raus, es gibt für Sie nur noch eines: Ihre Frau und Kinder retten. Soldaten suchen Sie in Ihrem Schutzraum auf. Es gebe keine Möglichkeit Mariupol zu verlassen, sagen die Soldaten, Asow-Leute?, allenfalls in östlicher Richtung. Aber Sie werden doch nicht zu den Russen überlaufen? fragt man Sie mit drohendem Unterton. Sie werden abkommandiert und von Ihrer Familie getrennt: Generalmobilmachung. Inzwischen ist die Stadt zu zwei Dritteln zerstört. Ob es Ihrer Familie gelingt, in einen Evakuierungskonvoi aufgenommen zu werden, hängt vom Gutdünken der Asow-Leute ab, die sich „niemals ergeben“ werden. Sie versuchen es mit Geld, ein in Kriegszeiten nicht unübliches Mittel. Ach, Sie verfügen noch über Bargeld, könnte es dann heißen, das kann konfisziert werden: Kriegsrecht. Die Stadt ist jetzt zu vier Fünfteln zerstört…
    Ich weiß nicht, ob das ein realistisches Szenario ist, aber ich befürchte es, denn so ist der Krieg. Wegen solcher Zustände und gegen solche Zustände wäre ein Waffenstillstand äußerst hilfreich. Vielleicht kann die ukrainische Regierung ein ähnliches Schicksal für Odessa vermeiden, wenn sie auf den Donbass verzichtet. Ich weiß es nicht; wir können aus der Ferne in der Tat keine stellvertretenden Verhandlungen antizipieren. Aber es wäre doch einen Versuch wert, oder? Dann hätte Selenskyj allerdings die Rechtsradikalen am Hals: Verrat! Dolchstoß aus Kiew! Ausverkauf der heiligen ukrainischen Erde! Diese Leute sollten und dürfen wir nicht finanzieren. Selenskyj wiederum sollten wir an unserer legendären Erinnerungskultur teilhaben lassen. Deutschland hat oft auf Gebiete verzichten müssen. Hat es uns geschadet? Oder hat es uns am Ende gar … genutzt?!

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