Frankreich vor der zweiten Runde: Wer entscheidet am 24. April?

Allons enfants de la patrie! Aber welche Richtung werden die Französinnen und Franzosen am 24. April wählen, um mit ihrer Nationalhymne den „jour de gloire“ zu erleben? Auf dem scharf rechten Weg steht Marine le Pen mit weit geöffneten Armen und verspricht ihrem gespaltenen und radikalisierten Volk mütterlich eine „Heilung“. Eine Abbiegung nach scharf Links führt ins Aus: Der Volkstribun Jean-Luc Mélenchon hat es trotz der beachtlichen fast 22 Prozent nicht in die Stichwahl geschafft. Und auf dem Weg mittendurch wartet ein Mann auf seine Wiederwahl, der als Hoffnungsträger vor fünf Jahren begann, dann von den gelben „Warnwesten“ mit Hass überschüttet wurde und heute mit seinem eher knappen Vorsprung von 27,5 vor le Pens 23 Prozent nicht geschlagen, aber angeschlagen in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl geht: Emmanuel Macron wird um die Zustimmung seiner Landsleute kämpfen müssen. Die Zeit ist knapp und Skepsis ist angebracht. Wie konnte das nach seinem monatelangen Umfragehoch und seiner zumindest ökonomisch leidlich positiven Bilanz passieren? Ein nüchterner Blick auf die Landkarte nach den Wahlen vom 10. April ist aufschlussreich.

Der Ruck der Franzosen und Französinnen nach Rechts, nach sehr weit Rechts, lässt sich nicht mehr als bloßer Protest Unzufriedener verharmlosen: Für Marine le Pen, Éric Zemmour und die dritte rechtsradikale Splitterpartei des Nicolas Dupont-Aignan stimmten insgesamt über 32 Prozent derjenigen, die überhaupt gewählt haben. Das sind 11, 3 Millionen Männer und Frauen aus dem Norden, der ehemaligen Kohle-und Stahlregion, der ländlichen Mitte und dem tiefen Süden; 3,4 Millionen mehr als vor fünf Jahren. Für die extreme Rechte stimmten überdurchschnittlich Angestellte und Arbeiter mit eher niedrigen Einkommen zwischen 35 und 59 Jahren, also die Erwerbstätigen der unteren und untersten Mittelschicht.

„Franzosen first“

Diese Wählerschaft stört sich nicht an den rassistischen und fremdenfeindlichen Parolen eines Zemmour (7 Prozent), der noch im Wahlkampf mehrfach wegen Volksverhetzung bestraft wurde. Sie unterstützt die populistischen Versprechen Marine le Pens, Frankreich den Franzosen, dem „peuple“, zurückzugeben, was nichts anderes ist, als die französische Variante des Trumpismus in den USA: „le peuple“, das le Pen zu allem und jedem mit einem Referendum einbeziehen will, meint die „weiße“ Mehrheit des Hexagone, die „richtigen“ Franzosen, nicht die aus den Kolonien, aus Algerien oder Marokko, aus dem Senegal oder aus Martinique Eingewanderten, geschweige denn die Flüchtlinge aus Afrika, Nahost oder der Ukraine. Ohne irgendeinen Widerspruch von le Pen forderte Zemmour, alle Franzosen und Französinnen nur nach dem christlichen Namenskalender zu benennen. Sie selbst will das Kopftuch im öffentlichen Raum verbieten. Für soziale Leistungen und Arbeitsplätze soll „Franzosen first“ gelten, das Atomkraftwerk Fessenheim an der deutsch-französischen Grenze im Badischen soll wieder ans Netz, supranationale Rüstungsvorhaben sollen aufgekündigt werden. Undsoweiter, Marine le Pens Programm steht innenpolitisch weit außerhalb der heutigen laizistischen Republik von égalité, fraternité, liberté.

Foto: ev aus Unsplash

Jeden dritten Wähler der ersten Runde schreckt dies nicht, nicht mehr, wie es scheint. Le Pens europäische und internationale Vorstellungen, die denen des ehemaligen US-Präsidenten ähneln (Motto: raus aus…), spielten im Wahlkampf bisher keine Rolle. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine verunsicherte zwischen Atlantik und Rhein kurzfristig. Als jedoch die Sprit-, Energie- und Lebensmittelpreise in die Höhe schossen (der Spritpreis, nur zur Erinnerung, war für die „gilets jaunes“ der Auslöser, auf die Straße zu gehen und Kreisel zu besetzen), entstanden bereits erste Protest- und Empörungswellen. Die „pouvoir d’achat“, die Kaufkraft, die Höhe der und das Eintrittsalter in die Rente sowie der Mindestlohn werden darüber entscheiden, ob Marine le Pen nach dem 24. April in den Élysée-Palast einzieht. Oder Emmanuel Macron in ihm wohnen bleibt.

Das unbeugsame Frankreich des Jean-Luc Mélenchon

Vor fünf Jahren entschied Macron das Duell mit über 66 Prozent in der Stichwahl für sich. Jetzt liegt er nach den relativ stabilen Umfragen seit Monaten nur noch bei 53 Prozent. Seine bisherige Wählerschaft setzt sich überdurchschnittlich aus den älteren, über 60jährigen Funktionären in den Institutionen und im Beamtenapparat zusammen und aus den über 70jährigen Rentern und Rentnerinnen. Ein „jour de gloire“ und strahlender Aufbruch lässt sich aus diesen Erkenntnissen kaum ableiten, eher Unsicherheit und Ängstlichkeit. Das wird nicht reichen.

Wer aber wird über den Ausgang entscheiden? Die Nichtwähler, diejenige Million, die bereits in der ersten Runde einen weißen Zettel in die Urnen warf (vote blanc), oder die jungen Männer und Frauen zwischen 18 und 24 Jahren, die entgegen den Umfragen doch kurz entschlossen zum ersten Mal zur Wahl gegangen sind? Sie sind es, die zusammen mit denjenigen, die diesmal zum zweiten Mal einen Präsidenten, eine Präsidentin wählen konnten, in den großen Städten von Paris bis Grenoble, von Marseille bis Straßburg und Rennes „La France insoumise“, das unbeugsame Frankreich, des linken Volkstribun Jean-Luc Mélenchon gewählt haben.

Bei diesen jungen Menschen vor allem aus den Banlieues, den sozialen Brennpunkten und den Universitätsstädten hatten die sozialdemokratischen Sozialisten einer Anne Hildalgo, die bei erbärmlichen 1,75 Prozent landete, ebenso wenig Chancen wie der Ökolinke Yannick Jadot (4,6 Prozent). Diese Parteien aus dem bisherigen parlamentarischen Spektrum kämpfen jetzt mit der Pleite und bitten um Spenden. Wie auch Valérie Pécresse, die völlig abgestürzte Kandidatin der konservativen Republikaner. Alle drei erhalten keinen Cent aus dem öffentlichen Wahlkampffond, weil sie unter der Fünf-Prozent-Hürde geblieben sind. Ein Desaster für die traditionelle Parteienlandschaft in Frankreich. Für le Pen reicht es dagegen üppig, um ihre Kredite bei von Wladimir Putin und Victor Orban kontrollierten Banken zurück zu zahlen.

Audienz im Kreml im März 2017 (Foto: The Russian Presidential Press and Information Office auf wikimedia commons)

Wie aber erklärt sich der überraschende Erfolg der Unbeugsamen? Mit seinemWahlkampf, den selbst stramme Gegner als fulminant bezeichneten, erreichte Mélenchon in den Städten vor allem diejenigen, die le Pen und Zemmour für alle Verluste der 5. Republik verantwortlich machen wie die französische Identität, die Traditionen des Christentums oder des Katholizismus. Der Volkstribun, der innenpolitisch mit seiner Forderung der Rente mit 60 (derzeit 62, 63 je nach Arbeitsjahren) und einem Mindestlohn von 1400 Euro nicht weit weg ist von Marine le Pen, mobilisierte diese junge Generation, ihn lautstark zu unterstützen: Nicht die Kommunisten, nicht die beiden trotzkistischen Parteien, sondern ihn, den 70 jährigen politischen Haudegen, der sich über die Jahre hinweg schillernd durch die französische Parteienlandschaft bewegt hat. Und es jetzt noch einmal, er meint zum letzten Mal, wissen wollte.

Es mehren sich die Zweifel

Wo sich die junge Generation gemeldet hat, dass auch sie zum „le peuple“ gehöre, zeigen einige Schlaglichter. In der von den Grünen regierten Universitätsstadt Grenoble wählten 39 Prozent Mélenchon, le Pen zehn Prozent. In Rennes (Bretagne) erhielt der Unbeugsame 36 Prozent, die Rechtsextreme 7 Prozent. Ähnlich fielen die Ergebnisse in Straßburg aus, eigentlich eine Hochburg der Rechten. In Paris brach Macron im 18. Arrondissement ein, das er vor fünf Jahren noch für sich holen konnte. Mélenchon lag mit knapp 42 Prozent vorn, le Pen erhielt 5 Prozent. In den Banlieues‚Clichy sous Bois, Bobigny oder Saint-Denis zum Beispiel, wählten über 60 Prozent den Kandidaten der „La France Insoumise“. Zemmour, der keine Gelegenheit auslässt, um gegen die Muslime im eigenen Land zu hetzen, erhielt 3 Prozent in Bobigny, Saint-Denis und Clichy sous Bois. Diese Ergebnisse liegen auch aus ähnlichen Bezirken in Marseille vor. Ob dieses Signal der jungen, oft genug in Schule und Ausbildung krass benachteiligten Generation gehört wird? Gleichzeitig lag in ihren Bezirken die Zahl der Nichtwähler besonders hoch: In Clichy wählten 41 Prozent die „Abstention“, in Drancy 45 Prozent, in Lille“ 30 Prozent und in Marseille bis zu 40 Prozent.

November 2018 im Pariser Elysee Palast (Foto: The White House from Washington, DC auf wikimedia commons)

Was erhellen alle diese Schlaglichter aber für die zweite Runde am 24. April? Kann Emmanuel Macron es in der kurzen Zeit schaffen, die jungen Französinnen und Franzosen aus den Städten und Vorstädten, die le Pen oder Zemmour ständig aus ihrem „le peuple“ ausgrenzen, für sich zu gewinnen? Kann er die Nichtwähler, vermutlich vor allem die Eltern dieser Generation der Erstwähler, der Studentinnen und Studenten oder der jungen Jobber mit Mindestlohn, bewegen, ihm eine zweite Amtszeit einzuräumen? Trotz all der Vorbehalte gegen ihn, den angeblichen Präsidenten der Reichen, der mit lockerer Zunge verächtliche und arrogante Bemerkungen fallen lässt, der unnahbar wirkt und von Medienmogulen wie dem Bretonen Vincent Bolloré mit allen Mitteln bekämpft wird?

Es mehren sich die Zweifel: Marine le Pen ruft zum „Referendum der Wut“ gegen den Amtsinhaber auf. Und auf der Linken schürt ein ziemlich bekannter Wirtschaftswissenschaftler namens Thomas Piketty die Aversionen gegen Macron. Das Gefährlichste an ihm sei, so schrieb der einflussreiche Direktor der Elitehochschule EHESS in einer Kolumne in le monde (vom 10./11.April), seine Arroganz und seine Annahme, ohne Debatte und ohne Programm wiedergewählt zu werden. Dieses Urteil ist nicht unbegründet und ein einziges Fernsehduell vier Tage vor der Stichwahl macht es nicht weniger harsch. Macrons eigene Fehleinschätzung könnte ihn das Amt kosten.

Jutta Roitsch
Jutta Roitsch, Diplom-Politologin und freie Autorin, von 1968 bis 2002 leitende Redakteurin der Frankfurter Rundschau, verantwortlich für die Seiten »Aus Schule und Hochschule« und »Dokumentation«, seit 2002 als Bildungsexpertin tätig, Engagement in der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union, vereinigt mit der Gustav-Heinemann-Initiative (GHI), Autorin der "Blätter für deutsche und internationale Politik", der "Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik".

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