Die Nachdenkseiten, ein Scharnier für Verschwörungsideologie

„The New World Order is the Enemy of Humanity“ artwork on Hanbury Street, London -StreetArt. Autor: Bablu Miah auf wikimedia commons

Die Nachdenkseiten (NDS) sind ein bei Gewerkschafts-Linken und in klassisch linken Kreisen einflussreiches und weit verbreitetes Internetportal. Gegründet unter anderem von Albrecht Müller kommt das Projekt von links, hat sich jedoch nach und nach bis heute zu einem Querfront-Medium gewandelt, „das die Bezüge zur radikalen Rechten zwar indirekt aber ganz bewusst herstellt“. Zudem dienten die NDS als „Scharnier für Verschwörungstheorien“. So lauten einige der Befunde, die der Trier Politikwissenschaftler Markus Linden in einem Gutachten präsentiert, das er vor kurzem für das Zentrum Liberale Moderne erstellt hat. Wolfgang Storz führte mit ihm das Interview per Email.

Als die Nachdenkseiten (NDS) Ende 2003 starteten, folgten die meisten Medien bei wichtigen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialthemen einem marktradikalen Mainstream. Die NDS wollten dieser einseitigen Berichterstattung kritisches Wissen entgegensetzen. Aufklärung war also Motiv der Gründung. Ist dieser Rückblick aus Ihrer Sicht korrekt?

Markus Linden: Aus der Perspektive der Nachdenkseiten mag das richtig sein und es entspricht zum Teil auch der Arbeit in den ersten Jahren des Portals. Nun ist aber die Grenze zwischen Aufklärung und Ideologie fließend. Sicher gab es im Zuge der Agenda 2010 Leerstellen. Die Arbeit der Hartz-Kommission, aus der die Regierung Schröder ein Mandat für die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe abgeleitet hat, ist ein Beispiel für den tatsächlich vorhandenen Druck in Richtung auf eine Vermarktlichung der existierenden Sozialsysteme, dem auch die Gewerkschaften nachgegeben hatten. So waren die Diskussionen über die Agenda zwar heftig, aber diese Proteste fanden damals im Parlament keine angemessene Opposition. Auf derartige Prozesse der Deparlamentarisierung und wirtschaftsliberalen Konsensualisierung reagierten die Nachdenkseiten medial.

Das ist doch positiv, also ein Verdienst der Nachdenkseiten, im Sinne dieser Demokratie sogar.

Markus Linden: Na ja, dieses Portal war aber von Anfang an programmatisch eindimensional unterwegs. Man folgte einer traditionell keynesianischen Auffassung, was legitim und in Ordnung ist. Die Existenz von Meinungen, die von der eigenen abwichen, wurde jedoch schon zu dieser Zeit sehr stark auf eine angeblich gesteuerte medial indizierte Verdummung zurückgeführt. Mit diesem Todschlagargument wurde schlichtweg alles erklärt. Denn Albrecht Müller neigt als Kampagnenspezialist dazu, in allem eine Kampagne zu sehen. Dabei war es eine Mischung aus Zeitgeist, wahrgenommenem ökonomischem Druck und geschickter Politiktaktik von Gerhard Schröder, die zur Agenda 2010 führte. Die Nachdenkseiten wollten schon zu Beginn ihrer Tätigkeit nicht sehen, dass es beträchtliche Bevölkerungsteile gab, die Arbeitsuchende und Sozialleistungsempfänger unter verstärkten Leistungsdruck setzen wollten. Dass mit der Agenda 2010 im Ergebnis vor allem die Mittelschicht belastet und teilweise prekarisiert wurde, steht auf einem anderen Blatt.

Foto: Stephan Röhl auf Flickr

Markus Linden lehrt als außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier. Seine Promotion zum Thema „Politische Integration im vereinten Deutschland“ (2006) und die Habilitation über „Einschluss und Ausschluss durch Repräsentation“ (2014) sind als Monografien im Nomos-Verlag erschienen. Linden forscht und publiziert zum Thema „Theorie und Empirie der Demokratie“. Hierbei bilden die digitale Öffentlichkeit und die Geistesgeschichte radikaler Gegenwartsbewegungen aktuelle Schwerpunkte.

Nun haben Sie für das Zentrum Liberale Moderne ein Gutachten über die NDS erstellt. Zur Einstimmung eine kleine Auswahl Ihrer Befunde: Sie reihten sich mit ihrer Kritik an Medien, Politik, USA, Nato und Corona „in eine fundamentaloppositionelle Querfront ein“. Es gebe „keine Berührungsängste zu rechtspopulistischen AkteurInnen“, es handle sich heute um „ein professionell gemachtes Desinformationsmedium.“ Sie seien „ein Scharnier für verschwörungstheoretisches Denken“. Zugleich seien die NDS unverändert politisch klassisch links verortbar.
Zunächst die Frage nach Ihrem Vorgehen: Wie belegen Sie das?

Markus Linden: Ich habe nicht quantitativ, sondern qualitativ gearbeitet. Es erfolgte also keine direkte Zählung und computergestützte Auswertung der Inhalte, sondern eine repräsentative Auswahl einschlägiger Beiträge, die ich inhaltsanalytisch ausgewertet habe. Mithin habe ich mich klassischer Methoden bedient. Dazu gehört, das Umfeld der Nachdenkseiten zu beleuchten. Die zentralen Macher treten ja auch in anderen Alternativmedien auf und laden selber zu Veranstaltungen ein. Ich beschäftige mich seit 2013 wissenschaftlich mit der Alternativmedienszene, das Feld ist mir also geläufig. Den Machern der Nachdenkseiten sind die Zusammenhänge zwischen einzelnen Portalen mindestens so bewusst wie mir.

Die NDS sind also nur als Teil einer eigenen Medienwelt zu verstehen?

Markus Linden: Ja, davon gehe ich aus. Deshalb lag ein Fokus meiner Untersuchung auch auf den Vernetzungen mittels überlappender Autorenschaft, gegenseitigem Zitieren, Interviewen und Verlinken. Es ist eine eigene Öffentlichkeit, die dort existiert, und vom vielbeschworenen „Mainstream“ nicht wirklich wahrgenommen wird. Da ich wissenschaftlich aus der Politischen Theorie und Politischen Kulturforschung komme, ist diese Parallelwelt einerseits interessant und andererseits auch angestammtes Beobachtungsterrain. Sehr hilfreich ist, dass die Nachdenkseiten eine begrenzte Anzahl an Artikeln publizieren und die Inhalte, je nach Autor oder Autorin, teilweise sehr vorhersehbar sind. Immer wieder tauchen die selben Argumentationsmuster auf. So kann man beispielsweise recht schnell mittels des hauseigenen Archivs und einer gewöhnlichen WayBackMachine ganze Jahrgänge dahingehend durchsehen, welche Themen überhaupt eine Rolle spielten. Die Nachdenkseiten haben da ganz klare Schwerpunkte. Autoren wie Müller, Riegel oder Berger schreiben quasi immer auf dieselben Grundthesen hin.

Kann auf Basis Ihrer Befunde gesagt werden: die Arbeit der NDS reicht von sachlich radikaler Detailkritik bis hin zu fundamentalistischer antipluralistischer und antidemokratischer Systemkritik?

Markus Linden: Genau! Das ist der Clou in der gesamten Alternativmedienszene, also von denjenigen, die sich explizit in Opposition zur sonstigen Presse sehen — zumindest ist es der Clou der etwas „anspruchsvolleren“ Portale. Man pickt sich eine kleine bis mittelgroße Sache heraus, um sie dann in einen größeren Kontext einzubetten. Normal und seriös funktioniert der induktive Schluss so: Viele Einzelphänomene werden zu einer These zusammengeführt, diese These wird dann aber wieder abgeglichen mit möglichen gegenteiligen Erklärungen. Bei den Nachdenkseiten ist das anders: Bei ihnen reichen wenige Beispiele, um daraus das große Narrativ vom finanziell und medial induzierten Betrug an den Massen bilden zu können. Dieses Narrativ ist für die Macher aber gleichzeitig ein feststehendes, vorgefasstes Axiom, also die unbestreitbare Wahrheit, die keines weiteren Beweises bedarf. Und diese Wahrheit wird nicht hinterfragt, sondern instrumentell gestützt. Immer wieder müssen als Belege dafür dieselben Beispiele herhalten, etwa beim Thema Ukraine-Konflikt ein abgehörtes Telefonat von Victoria Nuland. Natürlich belegt das Telefonat, dass die USA diplomatischen Einfluss auf die Geschehnisse in der Ukraine im Jahr 2014 ausübten. Daraus wird dann aber die ganz große Theorie vom fremdgesteuerten Regime-Change gesponnen. Die Existenz einer von bedeutenden Teilen der Bevölkerung getragenen demokratischen Revolution in der Ukraine wird schlichtweg ignoriert.

Ich zitiere noch einmal aus Ihren Befunden: Desinformation, fundamental, rechtspopulistisch — und klassisch links. Wie passt das denn zusammen?

Markus Linden: Der Rechtspopulismus wird von den Nachdenkseiten eher unter der Hand gestützt, und zwar in Form von Verlinkungen oder instrumentellem Lob — etwa jüngst für Alexander Gauland. Die Nachdenkseiten erfüllen jedoch alle anderen Kriterien einer sich selbst fundamentaloppositionell verstehenden Medienlandschaft. Dabei geht man allianzbildend vor. Unter dem populistisch-systemablehnenden Grundnarrativ von der us-gesteuerten Medien- und Politiklandschaft werden verschiedene Aspekte genannt, die unterschiedliche Teile einer radikalen Systemopposition ansprechen: US- und NATO-Kritik, allgemeine Elitenkritik, Medienkritik und eine Kritik der Wirtschafts- und Sozialpolitik ergänzen sich. Diese Kritik ist immer fundamental, es gibt quasi keine Graubereiche. Diese werden nur angedeutet, um ihre Relevanz dann doch zu negieren.

Welcher der Befunde, die Sie erhoben haben, ist für Sie der wichtigste?

Markus Linden: Es ist ein Gesamtbild, welches mich dann doch verblüfft. Meines Erachtens könnte man ein Medium wie die Nachdenkseiten noch durchaus geschickt-manipulativer gestalten. Die Grundlinie ist doch letztlich für geübtere LeserInnen offensichtlich. Und doch scheint es gerade das Mantrahafte des immer Gleichen zu sein, welches auch die LeserInnenschaft anspricht. Aus meiner alltäglichen Arbeit kenne ich natürlich einige Beispiele, die man im Sinne der Nachdenkseiten in ideologischer Absicht aufarbeiten könnte. Es kommt aber immer wieder Dasselbe. Wirkliche Recherche wird gar nicht betrieben. An Differenzierung ist das Medium nicht interessiert. Vor einigen Jahren hatten die Nachdenkseiten Malu Dreyer zu einem Vortrag geladen. Damals schien ein Richtungswechsel beziehungsweise methodischer Pluralismus durchaus möglich. Wer aber russische Staatsmedienmacher wie Herrn Rodionov als Experten für Medienkritik präsentiert und dann behauptet, neutral zu berichten, der kann aus der Sicht politisch gebildeter Menschen nicht als ernsthafter Medienmacher wahrgenommen werden. Insofern disqualifiziert sich auch die Phalanx derjenigen, die dort auftreten. Sei es Lisa Fitz, nach deren verschwörungstheoretischen Videos auf SchrangTV ich mich über die vorerst weitere Zusammenarbeit mit dem SWR gewundert hatte, oder die ebenfalls verschwörungsideologisch und mit systematischen Falschaussagen operierende Ulrike Guérot. Man wandelt auf einem Grat zwischen Profilneurose und radikaler Systemablehnung. Das ist schade, denn konstruktive Kritik ist eine Triebfeder politischer Öffentlichkeit. Die Kritik auf den Nachdenkseiten ist aber insofern Selbstzweck, als jede Publikation das Selbstbild des radikal „Alternativen“ stützen muss.

Was sind für Sie die NDS heute: links oder rechts oder querfrontlerisch oder von allem etwas?

Markus Linden: Die Nachdenkseiten sind ein von links kommendes Querfrontmedium, das die Bezüge zur radikalen Rechten zwar indirekt, aber ganz bewusst herstellt. Sie sind ein Scharnier für Verschwörungstheorien.

Welche Versatzstücke im Denken von Linken werden für die Macher eines solchen Mediums zur Rutschbahn der Gesinnung, um irgendwann rechts außen und/oder in der Ecke der VerschwörungserzählerInnen zu landen?

Markus Linden: Eine schwierige Frage, die ich nicht systematisch untersucht habe. Insgesamt ist zu beobachten, dass die extreme Rechte sich mittlerweile gerne mit einer linken Wirtschaftspolitik schmückt. In dieser Szene kenne ich mich gut aus und glaube deshalb sagen zu können, dass man bewusst auf die Errichtung einer Querfront zielt. Wer Alice Weidels Rede im Bundestag am 27. Februar 2022 gehört hat, in der sie den Ukraine-Krieg mit einer westlichen Kränkung Russlands erklärte, der fühlte sich an die ideologischen Avancen aus Schnellroda erinnert, diesem Treffpunkt der Neuen Rechten um Verleger Götz Kubitschek.
Die Linke wiederum zielt weniger direkt auf rechte Ideologien. Man ist intern in der Defensive, da emanzipatorische Ansprüche mittlerweile von Gruppen geäußert werden, die man nicht mit klassisch linken ökonomischen Forderungen in Verbindung bringt. Zugespitzt spricht man von Identitätspolitiken, die auch als Bedrohung einer klassisch linken Weltsicht wahrgenommen werden, in der Emanzipation vor allem oder gar allein von der Konfliktlinie Arbeit-versus-Kapital bestimmt wurde. Hinzu kommt der neoliberale Diskurs Anfang der 2000er und die damalige Einseitigkeit mancher Leitmedien. Trotzdem entstand daraus keine große kapitalismuskritische Bewegung von Relevanz. An den Wahlurnen scheitern diese Ansätze regelmäßig. All diese Einzelaspekte führten offensichtlich zu einer massiven Verbitterung einzelner Akteure, die deshalb den Weg der radikalen Systemkritik wählen, um hörbar zu werden und Allianzen zu bilden.

Welche Funktion erfüllen denn diese Verschwörungsgeschichten und Fundamentalkritik?

Markus Linden: Verschwörungserzählungen helfen, den wahrgenommenen elektoralen Misserfolg zu erklären, auf den ich eben hingewiesen habe. Selbst die Corona-Pandemie musste dafür herhalten. Um eines noch einmal klar zu stellen: Es geht mir beispielsweise im Zusammenhang mit dem Corona-Krisenmanagement nicht um die Kritik an Einzelmaßnahmen. Die ist völlig legitim und Maskendeals von Parlamentariern gehören bestraft. Den Nachdenkseiten geht es aber ausschließlich um die Fundamentalkritik. Sie stellen Institutionen als durchweg korrumpiert und nicht reformierbar dar. Dazu werden dann sogar die Argumente und ScheinexpertInnnen der Corona-LeugnerInnen-Szene herangezogen. Diese Kritik übersteigt das Maß herkömmlicher Rationalität, nur um Aufmerksamkeit zu erregen. Dabei wird dann aber zu den Kernauseinandersetzungen innerhalb der Linken überhaupt keine Stellung bezogen, sei es das Verhältnis von gruppenbezogener Emanzipation und Demokratie oder die Frage nach dem Verhältnis von geografischen Grenzen und Demokratie.

Die NDS sehen sich als alternatives Medium, sie werden auch von Dritten so bezeichnet. Ist das in Anbetracht Ihrer Befunde nicht eine zu positive Charakterisierung?

Markus Linden: Es war ein geschickter Schachzug der AfD und der Alternativmedien sich diese Bezeichnung zu geben. Denn in der Tat führten Anfang der 2000er Jahre Schröders Kommissionitis und die sich anschließenden Großen Koalitionen zu einer mangelnden Alternativen-Setzung im politischen System. Eine Alternative offeriert die Szene aber nicht, da keine positiven Gegenmodelle geschaffen werden. Hier denke ich nicht einmal an eine Utopie, der ich als Vertreter einer demokratietheoretischen Pluralismustheorie im Anschluss an Ernst Fraenkel eher skeptisch gegenüberstehe, sondern ich denke nur an eine bloße Reformperspektive. Eine solche könnte aber das Grundnarrativ von der ewig betrügenden und zudem fremdgesteuerten Elite untergraben. Die alternativlose Hoffnungslosigkeit ist quasi ein Programmpunkt der selbsternannten Alternativmedien, was als Phänomen faszinierend ist. Die rechte Seite dieses Spektrums hat jedoch ein Programm — und sie obsiegt bisweilen bei Wahlen, etwa in den USA, Polen und Ungarn. Es ist ein großes Problem, dass die selbsternannten Alternativmedien in ihrem Hass auf den us-amerikanischen Neoliberalismus derartige Politiken zumindest indirekt unterstützen.

Wie müssten die NDS noch argumentieren oder was müssten sie noch tun, damit Sie sagen: damit haben sie ihren links-emanzipativen Anspruch komplett eingebüßt?

Markus Linden: Dazu müssten sie noch den Schritt zur Fremdenfeindlichkeit gehen.

Was muss sich bei den NDS noch ändern, damit Sie sagen: Jetzt sind sie gegenüber der hiesigen parlamentarisch-pluralistischen Demokratie nicht mehr nur kritisch, sondern ihr feindlich gesonnen?

Markus Linden: Die prinzipielle Systemfeindlichkeit spiegelt sich bereits in manchen Artikeln und in den undifferenziert aufgelisteten Empfehlungen. Aber schlimmer geht bekanntlich immer. Es ist auffallend, dass die Nachdenkseiten das offensive Widerstandsparadigma rechter Alternativmedien nicht so dezidiert artikulieren. Insofern verbleibt man in der Rolle klassischer Ideologiekritik. Die Widerstandsrhetorik wird eher en passant mitgenommen, etwa in Interviews oder durch Verlinkungen. In dieser Hinsicht ist man beispielsweise noch weit von der Agitation des rechtsextremen Compact-Magazins entfernt. Auch die Bereiche „Esoterik“ und „quasi-religiöse Apokalyptik“ werden von den Nachdenkseiten gemieden. Hier erfolgt auch die Scheidelinie zwischen ihrem Medienpartner „Westend-Verlag“ und den absurden Publikationen des „Kopp-Verlags“.

Ein Videoangebot der Nachdenkseiten: Albrecht Müller und Wolfgang Kubicki als Erfolgsautoren des Westend-Verlages (Screenshot: Youtube)

Mit seriösen aufklärerischen Analysen, Interviews und Leitartikeln sind in dieser Internetwelt kaum größere Reichweiten zu erzielen. Kann das auch ein Motiv der Macher sein: Sie wollen einfach mehr Reichweite und deshalb auch die Milieus der Querdenker und Verschwörungsanhänger erreichen?

Markus Linden: In der Tat spielt die Reichweiten-Orientierung eine Rolle. Analog zur Neuen Rechten, die sich als Mosaikrechte versteht und dabei ideologische Zäune einreißt, versuchen auch die von links kommenden Nachdenkseiten Anknüpfungspunkte zu radikal widerständigen und oppositionellen Gruppen zu finden. Beim Corona-Thema fungiert man eher als „Fragensteller“, greift also auf eine klassische Verunsicherungstaktik zurück. Direkte Verschwörungstheorien werden dann in den verlinkten Artikeln präsentiert. Dabei scheinen die Macher der Illusion anzuhängen, dass Protestbewegungen eigentlich genuin links seien, zu dieser Erkenntnis aber der Aufklärung bedürften. Also vermischen sie das Corona-Thema immer wieder mit den angestammten Feldern der Nachdenkseiten: Globalisierungs- und US-Kritik, Medienkritik, Manipulationsdiagnose und Elitenbashing.

Was vermuten Sie ist heute das Ziel der Macher der NDS? Aufklärung, höhere Reichweiten, ein wirtschaftliches Auskommen via Spenden — geht es eher um wirtschaftliche oder politische Ziele oder um eine Mischung?

Markus Linden: Ich habe die wirtschaftlichen Verflechtungen nicht untersucht, gehe aber in Anbetracht der geschlossen dargebotenen Ideologie von einer stark richtungsgebenden Programmatik aus. Hier hat sich die Linie quasi verlängert: ausgehend von der Medien- und Politikkritik rund um die Agenda 2010 zu einer umfassenderen und generelleren Medien- und Politikkritik. Da man für die eigenen Positionen kaum noch Ansprechpartner in der angestammten Öffentlichkeit findet, schafft man sich seine eigene Blase und schaukelt sich hoch. Die Nachdenkseiten machen mit ihrer Abschottung, bei der sie sich selbst — im Gegensatz zu allen anderen, frei nach dem Scherz: was heißt hier ein Geisterfahrer, nein hunderte! — wahrscheinlich als kontinuierlich wahrnehmen, einen Dialog unmöglich. Auch medial ist die Strategie langfristig nicht integrativ. Als Sarah Wagenknecht-Fan-Medium können letztlich nur Nischen bedient werden. Diese werden dann zwar stetig bedient, aber in die praktische Politik werden diese Ansichten kaum einfließen. Der Weg aus der Selbstreferenz würde möglicherweise im Falle einer großen Wirtschaftskrise geöffnet. Außerdem macht man sich zum indirekten Steigbügelhalter rechter Ideologien, da ein mediales Sturmreifschießen des „Systems“ auf der Agenda der Nachdenkseiten steht. Schnellroda postuliert Ähnliches, hat aber ein identifizierbares Langfristziel und mit der AfD einen regional starken parteipolitischen Partner, den ich bei den Nachdenkseiten nicht sehe. „Aufstehen“, der dieser Partner hätte sein können, blieb ein Versuch.

Screenshot: Website aufstehen

Die populistische Protest- und Widerstandskultur hat ja auch in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren zugenommen, zuletzt befeuert von Ereignissen wie der Flüchtlingsbewegung, der Corona-Epidemie und von dem seit vielen Jahren andauernden Streit um die Russland-Politik des Westens. Passen sich die Nachdenkseiten dieser populistischen Protest- und Widerstandskultur an oder gehören sie zu deren Protagonisten? Sind sie Getriebene oder Antreiber?

Markus Linden: Die Nachdenkseiten sind das Paradebeispiel für eine populistische Protest- und Widerstandskultur, wie sie Pierre Rosanvallon mit dem Begriff der „Gegen-Demokratie“ und Nadia Urbinati mit ihrer Diagnose von der „Revolte gegen die vermittelnden Institutionen“ beschreiben. Das „Dagegen“ ist das Grundmotiv dieser Bewegungen, die einer identitär-monistischen und stets simplifizierenden Politikauffassung anhängen. Als Getriebene sehe ich die Nachdenkseiten dabei nicht. Sie sind vielmehr Agenda-Setzer. Wer sich mit Akteuren wie dem Portal KenFM gemein macht, der weiß, was er tut. Es geht um die Schaffung einer eigenen Öffentlichkeit, deren mediale Rundumversorgung und Ideologisierung hergestellt werden soll. Albrecht Müller oder Jens Berger sind keine Amateure, die passiv einem Trend folgen. In der Politikwissenschaft sprechen wir (Winfried Thaa und ich) von der konfigurierenden Funktion politischer Repräsentation. Die erfüllt Bob Geldof, wenn er ein Hilfskonzert veranstaltet und Öffentlichkeit schafft, die erfüllen aber auch die Nachdenkseiten, wenn sie im deutschsprachigen Raum eine Gruppenidentität nach dem Vorbild von beispielsweise der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich schaffen wollen.

Die verschwörungsideologischen Inhalte und die empört-aggressiven Formen der politischen Kommunikation der Nachdenkseiten werden ja — gesamtgesellschaftlich gesehen — nicht weniger, sondern weiten sich überall aus. Wie erklären Sie sich das?

Markus Linden: Die Masterfrage. Natürlich haben digitale Medien eine Eigendynamik, die mit den Begriffen „Echokammern“ und „Filterblasen“ treffend beschrieben wird. Das Vermittelnde in der Demokratie, und dazu gehören auch die hergebrachten Medien ebenso wie Parteien und Parlamente, gerät dadurch unter Druck. Darüber hinaus sind es aber auch eigenständige politische Prozesse, die hier am Werk sind. Als Politikwissenschaftler habe ich die prozedurale Ebene von Politik im Blick und beobachte, dass der klassische Konflikt zwischen Regierung und Opposition in vielen politischen Systemen ebenso unter Druck geraten ist wie die Rolle der Parlamente, deren Eigenwert oft hinter kommunikativen Geschlossenheitserwartungen zurückstand beziehungsweise zurücksteht. Große Koalitionen in Österreich und Deutschland, eine neoliberale und offensiv kriegerische Wendung der englischen Sozialdemokratie unter Blair, die Abwendung der us-amerikanischen Demokraten von ihrer klassischen UnterstützerInnenschaft in Form von IndustriearbeiterInnen — all diese eigentlich unterschiedlichen Phänomene zeugen von einem Wandel der westlichen Demokratie, bei dem Individualisierungs- und Entpolitisierungsprozesse zusammenwirkten. Die Hinwendung zu Verschwörungstheorien hat insofern auch etwas mit Repolitisierung zu tun, mit der Suche nach Orientierung. Sie ist gewissermaßen die Kehrseite eines wiederentdeckten politischen Interesses, das mangels politischer Grundbildung unvermittelt auf wüste AgitatorInnen in Alternativmedien trifft. Wenn erst in der 8. oder 9. Klasse mit dem Sozialkundeunterricht begonnen wird, darf man sich nicht wundern.

Was machen die NDS: Journalismus oder Propaganda mit journalistischem Handwerkszeug?

Markus Linden: Gut formuliert – ich wähle Alternative zwei.

Haben Sie von den NDS bereits eine Reaktion erhalten?

Markus Linden: Nein. Ich bin etwas überrascht darüber, dass man bislang noch keine Kampagne gegen die Studie gestartet hat. Vielleicht tut man sich auch mit der Einordnung und meiner Herangehensweise schwer.

Wären Sie zu einer öffentlichen Diskussion mit den Machern der NDS bereit?

Markus Linden: Nein. Das wertet ein solches Medium nur auf. Man wird auf ein Podium gesetzt und zwei Parteien stehen sich gegenüber, als ob es um einen herkömmlichen politischen oder inhaltlichen Streit ginge. Der Zug ist abgefahren. Die Nachdenkseiten haben sich mit ihren Methoden längst aus dem legitimen Diskursfeld manövriert. Wer den angekündigten Völkermord eines russischen Diktators mit seiner Arbeit ganz bewusst relativiert und damit zumindest indirekt legitimiert, hat eine Grenze überschritten. Jede und jeder kann meine Ergebnisse und die Belege nachlesen.

Link zur Studie von Markus Linden über die Nachdenkseiten „Vom Aufklärungs- zum Querfront-Medium

Die Nachdenkseiten wurden von Albrecht Müller und Wolfgang Lieb Ende 2003 gegründet, beide fungierten gleichberechtigt als Herausgeber. Wolfgang Lieb hat Ende 2015 seine Mitarbeit bei den NDS aufgekündigt. Er begründete seine Entscheidung ausführlich; seine Stellungnahme wurde damals auf den NDS publiziert. Sie kann hier nachgelesen werden.
Weitere Informationen über die Arbeitsweise der NDS und eine juristische Auseinandersetzung, welche die Otto Brenner Stiftung und Wolfgang Storz erfolgreich gegen die NDS führten, gibt es hier.

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

6 Kommentare

  1. Die Autoren/innen der Nachdenkseiten vereint, dass sie nicht verstehen, wie im Kapitalismus so etwas wie das Alltagsbewusstsein der in diesem System handelnden Personen entsteht und Bewusstseinsformen wie Freiheit, Gleichheit und Eigentum aus dem Handeln der Individuen geschaffen werden. Sie halten das für ein Produkt der Medien und vermuten eine steuernde Instanz hinter den Medien, die für die Verallgemeinerung dieser Bewusstseinsformen verantwortlich ist. Sie würden gerne ein dazu alternatives Aufklärungsprojekt durchsetzen, das aber den Nachteil hat, nicht aus den kapitalistischen Formen zu existieren, sondern eine idealistische Konstruktion zu bleiben. Die Rechten haben eine dazu parallele Sicht auf das Entstehen von Bewusstsein , nur sind ihre Ideale gleichsam nach rechts verschoben, was die Schnittmengen dieser Auffassungen begrenzt. Gemeinsam ist beiden Strömungen ihr (Selbst-)Verständnis, eine Avantgarde gegen das herrschende Bewusstsein zu bilden, ein Selbstverständnis, dass sie mit ihrer eitlen Rechthaberei immer wieder bestätigen und damit pflegen. Kritik festigt diese Rolle.

  2. Was mir zu den Nachdenkseiten einfällt und auffällt:

    1 Die globale Nachhaltigkeitskrise und die Notwendigkeit der nachhaltigen Transformation unsere Welt im Sinne der Agenda 2030 findet auf den Nachdenkseiten praktisch nicht statt. Darin unterscheiden sich die Nachdenkseiten freilich nicht grundsätzlich vom Mainstream der öffentlichen und veröffentlichten politischen Meinung.

    Wo allerdings im Nachdenken die Nachhaltigkeitskrise nicht stattfindet, findet die Analyse und das Verständnis der Gegenwart vor allem durch und im Rückspiegel statt.

    Dieses „Nachdenken“ im Rückspiegel erscheint grundsätzlich beschränkt, kommt an Grenzen und hilft nicht wirklich, wenn der Weg, auf dem man sich mit Politik und Gesellschaft bewegt, etwas kurviger oder das Gelände unwegiger wird.

    2 Die täglichen „Hinweise Tages“ finde ich hilfreich

    3 Die Verfolgung und Begleitung des Schicksals von Julian Assange halte ich für ausgesprochen verdienstvoll.

    4 Die Untugend, aus Unterstellungen Behauptungen zu machen ist kein Privileg der Nachdenkseiten.

    5 Gute Verschwörungstheorien können inspirierend sein, solange man sie nicht kleingeistig und sektiererisch mit tatsächlichen Verschwörungen verwechselt und für „wahr“ hält. Tendenzen zur Kleingeistigkeit und zum Sektierertum sind auf den Nachdenkseiten immer wieder erkennbar.

    6 Nicht zuletzt scheinen Eigensinn und Rechthaberei die Nachdenkseiten immer wieder intellektuell und politisch in die Pampa zu führen. Dort treffen sie dann auf allerlei eigenwilliges Volk und Leute. Politisch und intellektuell wird die Pampa dadurch allerdings nicht.

    7 Wie die Nachdenkseiten mit der Grundeinkommensidee umgehen und sich zu dieser Idee positionieren, offenbart eine grundlegende Schwäche politischer Kreativität und Phantasie zur Gestaltung der Zukunft.

  3. Die NDS haben sich argumentativ gegen die Ergebnisse dieser mit Geldern eines Grünen-geführten Ministeriums (BMJFS) realisierten Auftragsarbeit für das ebenfalls (durch BPA) regierungsfinanzierte und von zwei grünen Ex-Politikern geleitete „Zentrum Liberale Moderne“ gewehrt. Das kann für sich stehen.
    Lustig ist aber die Einschätzung des Politikwissenschaftlers Linden zu den Wagenknecht-Nischen aus heutiger Perspektive (hätte man übrigens schon damals absehen können, deutete sich nämlich bereits an): „Auch medial ist die Strategie langfristig nicht integrativ. Als Sarah (sic!) Wagenknecht-Fan-Medium können letztlich nur Nischen bedient werden. Diese werden dann zwar stetig bedient, aber in die praktische Politik werden diese Ansichten kaum einfließen.“

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