9 Euro Ticket – ein Desaster mit Ansage  

Motiviert das 9-Euro-Ticket viele Menschen zu Ausflügen, die sie bisher gar nicht vor hatten, und drängt bisherige Bahnkunden zur Flucht ins eigene Auto? Vor kurzem bin ich von Konstanz am Bodensee nach Halle an der Saale (650 km) mit vier Regionalzügen zum sehr günstigen Preis von 18 Euro gefahren – dafür zwei Stunden länger als mit dem teureren ICE. Ab heute, 1. Juni, könnte ich diese Fahrt mit dem 9 Euro Ticket zum Preis von rechnerisch 30 Cent machen ( 9 Euro durch 30 Tage). Quasi Nulltarif. Deutschlandweit. Eine Superidee für alle, die den Regionalverkehr NICHT kennen, nicht regelmäßig benutzen, die noch nie drei Stunden in einem vollen Zug mit einem einzigen betriebsfähigen Klo gefahren sind. [Redaktioneller Hinweis: Es handelt sich um die aktualisierte Version des Beitrages, der am 9. Mai 2022 auf bruchstuecke erschienen ist.]

Schön wär’s schon (Foto: Didgeman auf Pixabay)

Nächtlicher Koalitions-Kurzschluss

Wieder mal setzte sich die FDP durch. Sie verhinderte, was in der aktuellen Energie- und Klimakrisen-Situation das einfachste ist: Ein Tempolimit, das sofort ohne relevante Einbußen an Lebensqualität zehn Prozent des Kraftstoffverbrauchs im Straßenverkehr – und damit auch entsprechende CO2-Emissionen hätte mindern können; bei wahrscheinlich erheblichem Kolateral-Nutzen wie Verkehrsberuhigung und weniger Verkehrsopfer. Aber das hätte den Koalitionsbruch bedeutet. Statt Tempolimit, das durch weniger Kraftstoff-Nachfrage die Benzinpreise zumindestens etwas gesenkt hätte, ein Spritpreis-Zuschlag von 30%. Für jede und jeden, Pendlerin wie Spaßraser, Kleinwagen wie SUV.

Das hat die FDP durchgesetzt. Da musste es zumindest für die Grünen Verhandlerinnen einen Ausgleich geben. Was fiel ihnen da mal so ein? Ein 9 Euro Ticket pro Sommermonat für den deutschland-weiten Nahverkehr. Die Grünen Koalionärinnen brauchten ein mediales Auch- Erfolgssignal für den nächsten Tag. Es war aber Nacht. Leute, die was von Schienennahverkehr verstehen, konnten nicht angerufen werden. Also gab es das Grüne Feigenblatt-Ticket.

Die Idee dahinter

Viel Lob gab es auch aus dem linken Spektrum. Nulltarif im ÖPNV – das ist eine alte Forderung. Hier scheinen sich zwei Ziele zu vereinigen: Einmal das soziale Motiv, das sicherlich erreicht wird. ÖPNV kann quasi kostenlos benutzt werden. Menschen/Familien mit wenig verfügbarem Einkommen oder auch Gruppen von Jugendlichen, die bisher noch für ein Tages-Länderticket zwischen 25 bis 40 Euro aufbringen müssen, können dann BUNDESWEIT quasi gratis einen ganzen Monat unterwegs sein.

Den Grünen geht es aber auch um das ökologische Ziel des Umstiegs. Das Quasi-Gratis-Angebot soll AutofahrerInnen davon überzeugen, auf den ÖPNV umzusteigen. Sozusagen ein Schnupper-Geschenk. Zentrale Grundannahme: Es sei der hohe Preis, der die meisten Menschen daran hindert, auf den öffentlichen Verkehr umzusteigen.

An der ÖPNV-Realität vorbei

Wer selbst den öffentlichen Verkehr kennt, weil er ihn häufig nutzt, ist längst zu einem anderen Ergebnis gekommen, zu einem Befund, den auch alle Untersuchungen bestätigen. Der Preis ist nicht ganz unwichtig, aber drittrangig. Zuallererst kommt die Zuverlässigkeit. Dann die Qualität. Zum einen was die Häufigkeit der Verbindungen angeht, zum anderen insbesondere die Aufenthaltsqualität in den Zügen.

Germanistisches Institut der Martin-Luther-Universität im Paulusviertel von Halle (Foto: IWHR auf wikimedia commons)

Beispiel Zuverlässigkeit: Es gibt in Halle eine S-Bahnlinie (nach Halle Trotha), die Zehntausenden Einwohnern THEORETISCH eine superschnelle Anbindung an den Hauptbahnhof und damit ins nahe Leipzig bietet – innerhalb von 45 Minuten -, was auf der Straße nicht machbar ist. Aber diese S-Bahn fällt so oft und plötzlich aus, dass es höchst riskant ist, sich auf sie zu verlassen. Also müssen langsame andere Verkehrsmittel benutzt werden bzw. gleich das eigene Auto!

Beispiel Qualität: In das besonders urbane (und typische Grün-Wähler) Paulus-Viertel in Halle verkehrt die direkte Straßenbahnlinie vom Bahnhof nach 20 Uhr nicht mehr, sondern nur noch selten eine sehr langsame Großumweg-Verbindung. Wer innerhalb Halles abends nicht bis zu 40 Minuten unterwegs sein will, muss ein Taxi nehmen. Der ICE nach Berlin (200 km) braucht eine Stunde und ist für günstige 14 Euro zu haben. Aber durchs Taxi verdoppelt sich der Preis! Ein Anreiz zum Autofahren!

Thema Aufenthaltsqualität: Die allermeisten modernen Regionalzüge und Triebwagen dürften von Menschen gestaltet bzw. bestellt worden sein, die es als dreiste Zumutung ansehen würden, selbst in diesen Fahrzeugen unterwegs zu sein. Eine, höchstens zwei Toiletten für Hunderte von Passagieren, die bis zu vier Stunden unterwegs sein müssen. Lange Schläuche, die den Lärm von lauten Reisenden über Dutzende von Metern ungehindert weiterleiten. Eben keine Trennung der verschiedenen Reisendengruppen: Den Pendlern und Fernreisenden, die Ruhe brauchen und suchen – von Familien mit kleinen Kindern und großen Ausflugsgruppen, die sich erst richtig wohlfühlen, wenn sie sich akustisch sehr breit machen können. Mit greller oder trüber Beleuchtung, die jeden Restaurantwirt in den Ruin treiben würde, weil man/frau sich in dieser Atmosphäre nur genervt das Ende der Fahrt herbeisehnt. Ganz im Gegensatz zum warmen Leselicht, das in alten Abteilwagen noch zu finden ist.

Auf vielen Strecken kaum verkraftbar

Besonders abschreckend ist – schon jetzt – die Bahnfahrt bei Überlastungen. Wenn in Stuttgart ein Fußballspiel stattfindet, erscheint die Warnansage: Mitfahrt kann nicht garantiert werden. Aber auch zu den Stoßzeiten sind viele Regionalzüge voll. Und auf den Bahnlinien zwischen Hamburg und dem Meer, Berlin und der Ostsee, auf den Strecken an den Bodensee herrscht im Sommer absolute Überlastung durch Tagestouristen, obwohl diese mindesten 24- 40 Euro fürs Länder-Ticket bezahlen müssen.

Ab dem 1. Juni wird dieser Preis auf rechnerisch 30 Cent pro Tag gesenkt werden – für eine beliebig weite Fahrt durch Deutschland. Ein Angebot, das Millionen zusätzlicher Fahrgäste in den ÖPNV und vor allem auch in die Züge locken dürfte. Des niedrigen Preises wegen auch zu Ausflügen und Besuchen, die vorher kaum oder gar nicht geplant wurden. Auf vielen Strecken dürfte das verkraftbar sein, weil die Mehrzahl der Züge an Wochenenden und in der Mittagszeit wenig genutzt werden.

Aber alle Erfahrungen sprechen dafür, dass auf den Regionalverkehrsachsen zwischen Großstädten (z.B. Leipzig-Dresden, im Ruhrgebiet, zwischen Ulm und München) es zu einem Ansturm kommen wird, der selbst bei Einsatz von zusätzlichem Wagenmaterial (Reserven gibt es im Regionalverkehr kaum) nicht zu bewältigen ist. Und auf den touristisch attraktiven Strecken schon gar nicht.

Tweet des Tages von Ralf Wiegand:
Der Regionalzug nach Sylt wird heute nur deshalb überfüllt sein, weil lauter Reporter*innen drin sitzen, die schauen wollen, ob der Regionalzug nach Sylt überfüllt ist. #sylt #NeunEuroTicket

Konkret kann das bedeuten:
Ganz besonders dramatisch dürften Situationen werden, wenn die Ausflugstouristen – z.B. in Konstanz am Bodensee – abends befürchten müssen, nicht mehr nach Hause kommen zu können. Weil die Bahnsteige schon prall voll sind, bevor der Zug einläuft. Dann droht die Erstürmung der Züge, das Wegdrängen von Schwachen. Bis hin zu Situationen wie bei der Duisburger Love-Parade. Aber selbst, wenn es HOFFENTLICH NICHT zu so extremen Situationen kommen wird: Schnupperreisende, die überfüllte Züge erleben, ziehen die Konsequenz: Nie wieder Bahn!
Viele Bahnpendlerinnen dürften sogar überlegen, für die Zeit des 9-Euro-Tickets aufs Auto umzusteigen. (Ich selbst habe erlebt, wie bahnpendelnde Kolleginnen bei Dauerstörungen überlegten, schnell den Führerschein zu machen und sich “endlich” ein Auto anzuschaffen.)

Aufs dauerhafte Umsteigen kommt es an

Was wirklich nötig ist fürs große Umsteigen – vom eigenen Auto auf den öffentlichen Verkehr:

  • 1. Eine Zuverlässigkeitsoffensive!
  • 2. Wie in Basel erfolgreich praktiziert: 300 Euro Jahresgebühr nur für die Erlaubnis im öffentlichen Raum zu parken – und damit eine sichere Zusatzfinanzierung für einen besseren Öffentlichen Nahverkehr in den Ballungsräumen.
  • 3. Ein großzügiges Kombiticket im Preisbereich von 600 Euro, das den Verzicht aufs eigene Auto für die 20% umsteigebereiten PKW-Besitzer atttraktiv macht:
    Nämlich freie Benutzung des Nahverkehrs im eigenen Verbund!
    10 Tageskarten im Jahr, die an dem Tag zur freien Fahrt wie mit der Bahncard 100 aktiviert werden können.
    Für 150 Euro Taxi- oder Car-Sharing-Gutscheine.

Denn aufs dauerhafte Umsteigen kommt es an! Nicht auf Werbeaktionen, die (hoffentlich nicht) nach hinten losgehen können.

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