Natur und Gesellschaft, Beute des Marktes

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Oder warum Klimadesaster und Politikversagen zwei Seiten des Marktfundamentalismus sind.
Wer Jugendliche nach ihren Zukunftsvorstellungen befragt, bekommt oft beunruhigende Antworten. In einer weltweiten Studie, die Mitte 2021 durchgeführt wurden, gaben 60 Prozent der 16- bis 25-Jährigen an, »sehr« oder »extrem« über die Klimaveränderung besorgt zu sein. 83 Prozent sagten, »people have failed to care for the planet«, und 75 Prozent bezeichneten die Zukunft als angsteinflößend (»future is frightening«). 39 Prozent erklärten sich als »hesitant to have children«. In armen Ländern ist die Zustimmung zu diesen Aussagen höher als in reichen. In einer aktuellen Studie bezeichnen 55 Prozent der Jugendlichen in Österreich den »Klimawandel« als ihr größtes Problem. Und sieben von zehn sind der Meinung, dass die Wirtschaft in Österreich »so manipuliert ist, dass die Reichen und Mächtigen davon profitieren«.

Die Bestätigung zu diesem Stimmungsbild lieferte vor einigen Tagen der sogenannte Weltklimarat mit dem letzten Teil seines 6. Berichts. Der UN-Generalsekretär António Guterres nannte es ein »Dokument der Schande«: »Wir sind auf dem direkten Weg in ein Klimadesaster.« Wie erklären wir uns, dass die Medien und die Politik diese Befunde kaum kommentieren und nicht mit den Ängsten der Jugend verbinden? Aber dass die Politik auf diese Herausforderungen nicht reagiert, ist nicht neu. Denn spätestens seit den 1980er Jahren ist die Problematik der steigenden CO2-Emissionen bekannt. Seither hat es die Politik konsequent versäumt, wirkungsvoll zu handeln. Der weltweite Befund ist eindeutig: Vier Jahrzehnte wohlklingender Absichtserklärungen auf der einen und steigende CO2-Emissionen auf der anderen Seite.

Das komplexe neoliberale Bild vom Staat

Bezeichnenderweise wird über die Ursachen der »verlorenen Jahrzehnte« kaum debattiert. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Es gibt kein von der Politik und der Öffentlichkeit geteiltes Bild über den Gang der Gesellschaft und über die Änderungen in der Wirtschaft und der Politik selbst, die seit den 1980er Jahren geschehen sind. Denn Bilder dieser Art würden eine Theorie der Gesellschaft und eine Theorie der Wirtschaft voraussetzen, in denen erstens die aktive Zerstörung der Natur durch die Wirtschaft, zweitens das passive Nichtstun der Politik und drittens ihr gegenseitiger Bezug systematisch Sinn bekommt. Bruchstücke dazu haben nur Außenseiter geliefert. Dominant wurden hingegen postmoderne Ansätze, die jede große Erzählung und damit auch jene vom Gang der Gesellschaft ablehnen, oder jene der Kommunitaristen, die »Gesellschaft« prinzipiell durch »Gemeinschaft« ersetzen. Den forciertesten Angriff auf das Konzept der Gesellschaft haben die Neoliberalen geführt – populär hatte Margaret Thatcher gemeint: »Es gibt keine Gesellschaft.«

Der Verweis auf Thatcher liefert eine vorläufige Antwort. Denn im Neoliberalismus – richtig verstanden – geben die drei genannten Aspekte Sinn. Dazu darf aber der Neoliberalismus nicht als eine Theorie gedeutet werden, die den Markt aus- und den Staat abbauen will. Eine solche Beschreibung verkennt das komplexe neoliberale Bild vom Staat. Es geht nicht um die Frage »Wollt ihr mehr Markt oder wollt ihr mehr Staat?«, sondern um eine Ebene oberhalb dieser Aussage. Das heißt darum, zu erkennen, dass die duale Gegenüberstellung von Markt und Staat das eigentliche Problem darstellt. Denn sie basiert auf der Vorstellung von »dem Markt«, der als Tatsache hingestellt wird. Aber »der Markt« ist empirisch nicht spezifiziert, das kann an allen Varianten des Neoliberalismus nachgewiesen werden, die ein Konzept von »dem Markt« als einer übergeordneten Institution oder eines übergeordneten Prozesses verwenden – ich nenne das Marktfundamentalismus.

Viele Beispiele finden sich in den Lehrbüchern der Mikroökonomie, die fast alle eine Theorie »des Marktes« und seiner »Gesetze« vermitteln. Der Ausdruck »Markt« steht hier für konkrete Märkte, für Teile der Wirtschaft, für die ganze Wirtschaft, für einzelne Länder (populär als »emerging markets«) oder für eine globale Realität (wie »der globale Markt«) – sowie für eine Norm (z. B. um die parlamentarische Mitbestimmung »marktkonform« zu gestalten, was Angela Merkel wollte) oder sogar für eine Utopie, die »die Zivilisation« (so wurde das vor einem Jahrhundert formuliert) bewahren solle. »Der Markt« mit seinen vielen widersprüchlichen Aspekten ist empirisch oder institutionell nicht operationalisierbar. Wir wissen nicht, was »der Markt« besagen soll und wie wir ihn in der Realität nachweisen können. Er ist ein reiner Mythos, der aber – wenn an ihn geglaubt wird – gesellschaftlich wirksam ist.

Der Markt ist grenzenlos definiert

Der zentrale Trick in seiner Anwendung – und das berührt das Herzstück des Problems – ist der Begriff der »Ordnung«, der im Neoliberalismus stillschweigend in den Diskurs eingebracht worden ist. »Die Ordnung des Marktes« steht für ein Amalgam, in dem Gesellschaft und Wirtschaft (in der früheren Bedeutung) zu einem untrennbaren Ganzen verschmolzen sind. Dieses Begriffsgemisch wurde bislang kaum kommentiert, auch das Konzept einer Ordnung wird selten kritisch angesprochen. Aber das führt direkt zum Kern des Klimaproblems. »Der Markt« und seine Ordnung bezeichnet nämlich ein Konzept, das sich selbst keinerlei Grenzen auferlegen kann. »Der Markt« ist grenzenlos definiert. Er kann – wenn er handlungswirksam wird – in seiner Anwendung nicht beschränkt werden, das kann nur von einer gestaltenden Politik und von achtsam agierenden Menschen geliefert werden, die ihm bewusst nicht folgen.

Die Grenzenlosigkeit »des Marktes« betrifft zwei große Bereiche. Erstens die Natur: »Der Markt« kann keine ökologischen Grenzen anerkennen. Und zweites hat er das, was früher die Gesellschaft ausgemacht hat, in sich aufgesogen.

Ronald Reagan und Margaret Thatcher am 22. 12. 1984 in Camp David (Foto: White House Photographic Office auf wikimedia commons)

Spätestens in den 1980er Jahren hat sich die Politik in den USA und in Großbritannien dem Konzept »des Marktes« unterworfen (Stichworte: Thatcher und Reagan). Andere Länder sind dem gefolgt, viele von ihnen unter Zwang, z. B. durch die Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (dem sogenannten Washington-Konsens folgend). In den 1990er Jahren hat die Sozialdemokratie (Stichworte: Blair, Clinton und Schröder) ihre Politik teilweise auf die Bedürfnisse »des Marktes« ausgerichtet. Damit waren die drei großen Richtungen in der Politik (der Konservatismus, der Liberalismus und die Sozialdemokratie) auf unterschiedliche Weise in das Denksystem »des Marktes« integriert. Egal, wer von ihnen an der Macht war – zwei große Trends wurden geduldet oder aktiv betrieben: Dass zum einen die Natur immer mehr geschädigt und zum anderen die Gesellschaft immer mehr den Regeln »des Marktes« (d. h. betriebswirtschaftlichen Vorgaben und Kennziffern) unterworfen wurde. Heute leben wir in einer ökonomisierten Gesellschaft, die nach dem Bild »des Marktes« umgestaltet ist.

Warum liefert die Politik so wenig positive Zukunftsbilder?

Die Eroberung der Natur und die Eroberung der Gesellschaft durch »den Markt« bilden die Kehrseite desselben Vorgangs. In diesem Prozess hat die Politik in hohem Maße die Fähigkeit verloren, einen Außenstandpunkt einzunehmen. Das bedeutet, dass sie nicht über die ökonomisierte Gesellschaft nachdenken und die strukturellen Mängel des Wirtschaftssystems erkennen kann, z. B. den wachsenden Arbeitsdruck oder die zunehmende Ungleichheit in den Vermögen. Für diese Themen gibt es keinen wirkungsvollen politischen Plan. Vor allem aber kann sie keine positiven Zukunftsbilder einer gestaltenden Politik vorlegen und dafür werben.

Warum liefert die Politik immer noch so wenige positive Zukunftsbilder? Das mag erstaunlich sein, wenn man bedenkt, wie zukunftsbezogen Teile der Wirtschaft sind. Börsen zum Beispiel verhandeln dauernd die Zukunft. Ein Börsenpreis ist eine Aussage über die Zukunft, gewichtet mit der Finanzkraft der Investor:innen. Steigen die Aktien einer Firma, dann glaubt die Mehrheit der Anleger und Anlegerinnen, dass die Firma eine gute Zukunft vor sich haben wird. Jede, die Geld für ein Start-up sammelt, hat die GeldgeberInnen zu überzeugen, dass ihre Business-Idee Zukunftspotenzial besitzt. Die Mehrheit aller Start-ups kann die Versprechungen nicht erfüllen, aber beim nächsten Mal könnte ja die Geschichte, die in Form von Zahlen, Bildern und Charts präsentiert wird, Wirklichkeit werden.

Bild: Nattanan auf Pixabay

Auch im Großen vertreiben Teile der Wirtschaft Bilder über die Zukunft. Aus dem Silicon Valley werden eine Auswanderung auf den Mars (Elon Musk), das Abtauchen in virtuelle Welten (Mark Zuckerberg), die totale Überwachung und Organisation der Gesellschaft auch durch eine künstliche Intelligenz (Raymond Kurzweil) propagiert. Als Visionen »des Marktes« sollen bestehende Teile der Wirtschaft zerstört werden, ohne die Bevölkerung demokratisch einzubeziehen (Peter Thiel). Die weltweite Mehrheit soll passiv eine Entwicklung über sich ergehen lassen, die ihr nicht zum Vorteil gereichen und die Ungleichheit weiter befördern wird. Auch der Vorschlag, Probleme der Umwelt durch großflächige Eingriffe in die Natur (Geo-Engineering) lösen zu wollen, liegt auf dieser Linie. Sie sind praktisch und technisch problematisch (niemand weiß um ihre Auswirkungen) und würden die Gesellschaft weiter zerstören: Die Macht über das physische Überleben der Menschen würde in der Hand globaler Konzerne liegen, deren EigentümerInnen für diese »Dienstleistung« ihren Gewinn beanspruchen werden.

Hoffen auf eine neue gesellschaftliche Bewegung

Daraus ergibt sich folgender Schluss: Glaubhafte positive Zukunftsbilder der Politik, wie sie der Weltklimarat fordert, können im Denken »des Marktes« nicht geliefert werden. Denn wer an ihn glaubt, hat ein kognitives Problem. Er ist von der Existenz einer höheren Ordnung überzeugt, die er erhalten will und nicht infrage stellen kann. In diesem weit verbreiteten Denksystem kann die Bedeutung der Umweltfragen (es geht um das Überleben der Menschheit) nicht ernsthaft erkannt werden. Denn die Natur muss immer »dem Markt« unterstellt bleiben und kann nur durch ihn »gerettet« werden – indem man ihr beispielsweise den »richtigen Preis« verleiht oder indem neue Märkte, wie jene für Verschmutzungsrechte, etabliert und mit hohem bürokratischen Aufwand betrieben werden. Diese Vorschläge sind nicht falsch, man kann sie auch unterstützen, sie werden aber die Umweltprobleme nicht wirklich und vor allem nicht rasch mildern. Wie wenig ernst der Kampf um einen hohen CO2-Preis gemeint ist, zeigt die aktuelle Subventionierung von Benzin und Diesel. Die Politik macht genau das Gegenteil von dem, was ökologisch versprochen wurde.

Alle, die ihre Hoffnung noch nicht aufgegeben haben, dass das »Klimadesaster«, das Guterres angesprochen hat, noch abgewendet werden kann, müssen auf eine neue gesellschaftliche Bewegung hoffen und sie, so gut es geht, befördern. Denn die bestehenden Strukturen von Wirtschaft und Politik haben nicht die Kraft, die drohenden Gefahren abzuwenden. Die Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Umbruch ist zum einen irrational und zum anderen wenig realistisch. Aber dazu kann es hilfreich sein, zu erkennen, was Zukunftsbilder sind.

Für eine neue imaginative Freiheit

Zukunftsbilder sind nicht dazu da, die Zukunft bannen zu wollen, das wäre sinnlose Magie. Denn die Zukunft ist prinzipiell unbekannt. Egal welche Bilder wir entwerfen, es wird anders kommen. Zukunftsbilder enthalten notwendig ein imaginatives Moment: einen Überschuss zur »Realität« in der Gegenwart. Sie entwerfen, egal ob positiv oder negativ, eine simulierte Wirklichkeit, die immer ungewiss ist und immer ungewiss bleiben wird.

Das bedeutet nicht, auf Zukunftsbilder verzichten zu wollen, das ist den Menschen nicht möglich. Menschen sind simulative Wesen. Sie müssen ihre gegenwärtigen Handlungen immer auf eine imaginierte Zukunft ausrichten. Im Gegensatz zu der neoliberalen Wahlhandlungsfreiheit (ich kann frei und unbehindert von anderen aus einer gegebenen Menge von Möglichkeiten wählen) ist eine neue imaginative Freiheit zu fordern und zu pflegen, die die Befugnisse über die Bilder der Zukunft nicht technokratischen ExpertInnen oder wirtschaftlich Mächtigen überlässt, sondern sie selbstbewusst als eigene Agenda in die Hände nimmt.

Genau das machen (explizit oder implizit, bewusst oder unbewusst) die Tausende Aktivist:innen, die die vielen Projekte betreiben, bei denen im Großen wie im Kleinen ein schonenderer Umgang mit der Umwelt unternommen wird. Sie haben positive Zukunftsbilder entworfen und setzen sie handlungspraktisch um. Denn Zukunftsbilder jeder Art führen zu Handlungsfolgen in der Gegenwart. Positive Zukunftsbilder können zwei positive Wirkungen ausüben: in der Gegenwart eine Orientierung geben (in diese Richtung will ich mein Leben ausrichten) und zudem uns auf diesem Weg bestärken. Vor allem, wenn sie mit anderen geteilt werden. Die Mehrheit der Menschen will kein Klimadesaster. Die Hoffnung, dass ein gesellschaftlicher Umbruch möglich ist, zu pflegen, zu teilen und zu fördern, ist die Antwort auf die Zukunftsängste der Jugendlichen. Nehmen wir sie darin ernst.

Unter dem Titel „Klima, Markt und Zukunftsbilder“ erschien der Beitrag zuerst auf OXIblog

Walter Ötsch
Walter Ötsch ist österreichischer Ökonom und Kulturwissenschaftler und seit 2015 Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte an der Cusanus-Hochschule. Mehr Infos auf seiner Website: https://walteroetsch.at/ (Foto: Bernhard Holub - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, wikimedia commons)

3 Kommentare

  1. Wie kommt es, dass in einem Beitrag der im Jahr 2022 mit „Natur und Gesellschaft, Beute des Marktes“ überschrieben ist, und in dem von Klimadesaster und Politikversagen und (fehlenden) Zukunftsbildern die Rede ist, die Agenda 2030, die SDGs und die Nachhaltigkeit keine Rolle spielen?

    Geschieht das mit Absicht? Hält der Autor die der Agenda2030 und die den SDGs zugrundliegende Nachhaltigkeitskrise für seine Ausführungen für irrelevant? Kann das sein?

    Kann es sein, dass man im Jahr 2022 irgendwie relevant über Zukunft reden will, ohne auf das politische menschheitliche Zukunftsdokument schlechthin, die VN Resolution „Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ Bezug zu nehmen?

    In der Perspektive dieser Agenda 2030 ist die vom Menschen verursachte Klimakrise eine Teilkrise der vom Menschen verursachten Nachhaltigkeitskrise des Mensch-Planeten-Systems. Und alle sinnvolle Aktion zur Bewältigung der Klimakrise muss heute zugleich die Bewältigung aller anderen der Agenda 2030 zugrunde liegenden Teilkrisen mit im Blick haben.

    Die Perspektive der Agenda 2030 entmystifiziert auch den Markt. Der Markt ist in der Agenda 2030 kein irgendwie geartetes Subjekt, das eigenen Gesetzen und Regeln folgt, das in irgendeiner Weise Zweck oder Selbstzweck ist.

    Markt ist in der Agenda 2030 allenfalls das Objekt, der Objektbereich, der so von der Politik geregelt werden muss, dass das Marktgeschehen die Wahrung der Menschenrechte (Gesellschaft) und den Erhalt der Ökosphäre (Natur) durch das Marktgeschehen befördert und nicht schädigt.

    Diese Agenda 2030 vermittelt ein klares Zukunftsbild. Allerdings ist des letztlich auch das einzige Zukunftsbild, das sich heute politisch sinnvoll denken und formulieren und malen lässt. Und freilich ist es auch ein Zukunftsbild, dessen Realisierung mit einer denkbar kurzen Frist verbunden ist.

    Es ist das Zukunftsbild einer Menschheit, in der die SDGs realisiert sind, d.h. die umfassenden Menschenrechte gelten und gewahrt werden und in der sämtliche menschlichen und zivilisatorischen Aktivitäten ohne Schadstoffeintrag in und Beschädigung der Ökosphäre geschehen.

  2. Das sind weitere Absichtserklärungen (die zu begrüßen sind) in einer Geschichte von Absichtserklärungen, die schon Jahrzehnte geht. Mein Beitrag handelt nicht von Absichtserklärungen, sondern vom einem effektiven polischem Tun, dessen Erfolg sich in globalen Kennziffern widerspiegelt. Davon sind wir weit entfernt.
    Liebe Grüße Walter Ötsch

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