Beschäftigen wir uns heute mit einem gesellschaftlichen Dauerthema – mit einem Minderheiten-Thema. Die Minderheit, die ich meine, wurde mit ihren Rechten in Gesetzen verankert. Ihr gehören einige Hunderttausend an, meist Männer, leider zu wenige Frauen. Wie viele dieser Minderheit tatsächlich angehören, weiß keiner. Man schätzt, wie erwähnt, einige Hunderttausend. Sozial- und wirtschaftspolitisch gesehen, gehört diese Minderheit seit über 100 Jahren zum „Bestand“, sie ist sozusagen Teil der DNA unserer Republik. Keine Ahnung, über wen und was ich schreibe?
Gut. Dann erweitere ich unser BINGO- Spielchen. Diese Minderheit wird demokratisch gewählt. 2022 fanden die Wahlen vom 1. März bis zum 31. Mai statt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund schätzt, dass diese Minderheit in zehntausenden Betrieben gewählt wird. Sie hat es am 4. März in die Tagesschau geschafft, aber schaut man sich die Topthemen der ARD-Nachrichten an, finden sich Biden und Belarus, Börse und Taliban, aber diese Minderheit nicht.
Sie haben Recht. Es geht um die Betriebsräte. Obgleich sie Jahr für Jahr schier unendlich viele Konflikte in Betrieben lösen und daher zu unserer Alltagskultur zählen, erfährt Mensch wenig über sie. Sie besprechen unter sich und mit der Betriebsleitung fortwährend all das, was Beschäftigte betrifft. Sie sind keine Bittsteller, sondern wie gesagt per Gesetz fest in Betrieben installiert. Dem Anspruch von Beschäftigten, einen Betriebsrat gründen zu wollen, muss stattgegeben werden, wenn der Betrieb mehr als fünf Beschäftigte aufweist. (Im öffentlichen Dienst werden Personalräte gewählt.) Die Räte sind über personalaffine Entscheidungen zu informieren. Sonst gelten entsprechende Entscheidungen nicht. Sie haben Einspruchs- und Widerspruchs- und Mitentscheidungsrechte. Versetzen, umsetzen, eingruppieren, fortbilden, Gesundheitsschutz und anderes mehr – all das darf nicht am Betriebsrat vorbei laufen.
1920 wurde der Gedanke der Informationspflicht gegenüber den Beschäftigten, der Gedanke der Konsultation und des Widerspruchs gegen Entscheidungen des Betriebsinhabers und Eigentümers Gesetz. 1952, also vor 70 Jahren trat ein neues, erweitertes Betriebsverfassungsgesetz in Kraft (zusammen mit einem Gesetz über die erweiterte Mitbestimmung auf Unternehmensebene – im sogenannten Montanbereich, also Kohle und Stahl. Vor 50 Jahren – 1972 – wurde das 52er Gesetz erneut überarbeitet und an neue Entwicklungen angepasst. Ein Ende der immer wiederkehrenden Verbesserungen ist nicht abzusehen. 1972 war übrigens ein merkwürdiges Jahr: Mehr Rechte für die Vertretungen der Beschäftigten in den Betrieben, weniger Rechte für Beschäftigte, die auf ihrem Weg etwas schärfer links abbiegen wollten (Radikalenerlass). Jedenfalls ein Schlüsseljahr zum Verständnis des „Zeitalters der Extreme“ (Eric Hobsbawm).
Formen von Mitbestimmung gibt es in fast allen Ländern Europas: reine Beschäftigten-Vertretungen wie in Deutschland, gemischte Vertretungen mit Beschäftigten und dem Arbeitgeber wie in Frankreich oder Vertretungen allein durch Gewerkschaften wie in Italien. In keinem Land sind die Mitwirkungs- und Initiativ- und Mitbestimmungsrechte so ausdifferenziert wie in Deutschland.
Nun soll ein weiterer Problembereich der Betriebsräte neben der Vereinfachung der Wahlverfahren angepackt werden: Verstöße gegen das Betriebsverfassungsgesetz sollen künftig, so will es der Arbeitsminister Hubertus Heil, von Polizei und Staatsanwaltschaft von Amts wegen aufgegriffen, also als „Offizialdelikt“ behandelt werden. Bisher sind das Antragsdelikte. Deren Verfolgung muss eine Anzeige durch den Betriebsrat oder die Gewerkschaft vorausgehen, die angenommen, dann an ein Schiedsverfahren weiter geleitet oder abgelehnt werden kann. Es ist ein langwieriges, sich oft über Monate erstreckende Verfahren, während dessen der Druck auf Antragsteller weiter besteht. Was heißt: Mumm muss Mensch haben, der das tut. Durchschnittsdauer arbeitsrechtlicher Verfahren: acht Monate. Durchschnitt.
‘Betriebsrats-Fresser’ in Aktion
Um deutlich zu machen, was sich da abspielt, lade ich zu einem kleinen Spaziergang durch den Bonner Stadtteil Bad Godesberg ein. Wir setzen uns vor der denkmalgeschützten Stadthalle in Bewegung, in der im Dezember vor 62 Jahren ein legendärer Parteitag stattfand. Auf diesem Parteitag legte die SPD explizit die Grundlage für einen klaren Weg hin zur Mitbestimmung in der Wirtschaft. Die Gedenktafel, die an diesen Parteitag erinnert, wurde unlängst von unbekannt gestohlen. Verbleib: unbekannt.
Wir spazieren zu einer Kreuzung, an der die Koblenzer die Theodor-Heuss-Straße quert. Rechts und links von der Kreuzung hat der Unternehmer Norman Rentrop mit Verlagen und Bibel TV und manchem anderen mehr verschiedene Niederlassungen. Die Zeit textete über ihn: „Gnadenlose Vertriebsmethoden und christliches Mäzenatentum…“ Die Website Arbeitsunrecht in Deutschland, auf einen gemeinnützigen Verein gründend, schrieb: „Seit 2007 stößt die Bonner Verlagsgruppe Norman Rentrop mit ihrem Subunternehmen BWRmedia in das Segment des Hardcore-Arbeitsunrechts vor.“ Auf „Arbeitgebertagen“ werde angekündigt: „So bekommen Sie den Betriebsrat, den Sie sich wünschen“. Der Verein bündig: „Union Busting: `Betriebsrats-Fresser` in Aktion“.
Siehe dazu auch die Studie der Otto Brenner Stiftung “Union-Busting in Deutschland. Die Bekämpfung von Betriebsräten und Gewerkschaften als professionelle Dienstleistung.”
Unsere Minderheit mit der DNA der Republik hat es also nicht leicht. Zwar hat der Gesetzgeber Wahlverfahren vereinfacht, Briefwahl möglich gemacht und digitale Info-Möglichkeiten eingeführt, aber kompliziert bleibt es immer noch für die Beschäftigten, die in der Regel keine Wahlfachleute sind. Solche Prozeduren werden in vielen Betrieben genau beobachtet. Gibt es eine Abweichung, folgt der Einspruch. Der Arbeitsrechtler Professor Wolfgang Däubler verwies jüngst in der Legal Tribune darauf, dass nach Umfragen unter hauptamtlichen Gewerkschaftern 42 Prozent der Befragten erklärt hatten, ihnen seien für ihren Zuständigkeitsbereich Versuche einer Behinderung oder Verhinderung von Betriebsratswahlen bekannt. Einer Untersuchung zufolge habe es in 15,6 Prozent der erstmaligen Betriebsratswahlen Behinderungsversuche gegeben. Häufig würden Kandidatinnen und Kandidaten für den Betriebsrat eingeschüchtert oder es werde die Bestellung des Wahlvorstands verhindert. Um Kleinigkeiten handelt es sich dabei nicht.
Also: Die Betriebsräte nicht vergessen, diese Frauen und Männer, Junge und Ältere, die wirklich Mumm haben müssen. Sie sind keine „Exoten“, sondern im Sinn Peter Burkes allerbeste Alltagskultur.