Gescheitertes Denken kommt oft vor

Gefangenendilemma (Bild: Giulia Forsythe auf wikimedia commons)

Wieder ist ein „offener Brief“ publiziert worden, der für eine Beendigung des Krieges in der Ukraine und für Verhandlungen statt Waffenlieferungen plädiert. Niemand bei Trost ist dagegen, dass dieser schreckliche Krieg so schnell wie möglich endet, und wahrscheinlich wären den meisten Beobachtern Verhandlungen lieber als Kampfhandlungen. Den Autorinnen und Autoren müsste also eine große Zustimmung entgegenschallen – aber das ist nicht der Fall. Genau besehen ist dieser [am 29. Juni 2022] auf ZEIT-online publizierte Aufruf eher ein Bewerbungsschreiben für Radiointerviews und Talkshoweinladungen (und das nicht ohne Erfolg), aber von der Sache her ist dieses Dokument ein wahrer Offenbarungseid, ein Dokument gescheiterten Denkens.

Gescheitertes Denken kommt oft vor – aber die Selbstanzeige der Autorinnen und Autoren ist implizit, dass hier Denker am Werk seien, und einer der Autoren (ein Politikwissenschaftler einer Sachsen-Anhaltinischen Universität) hat den Text auf Twitter mit der Bemerkung verbreitet, da hätten „kluge Persönlichkeiten“ etwas verfasst. Man darf diese Selbstanzeige also beim Wort nehmen.

Nun kann man mit guten Gründen gegen Waffenlieferungen sein, man kann die Strategie der Ukraine kritisieren, man kann, nein: man sollte sich Sorgen über die Persistenz dieses schrecklichen Krieges machen, und man wünscht sich kaum etwas mehr, als dass die Kämpfe enden. Aber ein solcher Appell muss sich schon daran messen lassen, wie er argumentiert. In der öffentlichen Debatte ist es leider bei vielen Themen oft so, dass man nur schaut, was am Ende rauskommen kann: Frieden statt Krieg – ja natürlich; Verhandlungen statt Schüsse – was denn sonst? Aber wie man eigentlich solche Sätze in einer Welt situiert, die schon da ist – daran scheitern diese (übrigens üblichen verdächtigen) Philosophen, Schriftsteller, Journalisten und Schauspieler kläglich. Nur deshalb lohnt es sich, dieses Pamphlet überhaupt zur Kenntnis zu nehmen – als Lernanlass gewissermaßen. Dabei hat selbst dieser Text einige Stellen, die des Nachdenkens wert sind – etwa die Frage, was denn das Ziel der Unterstützung der Ukraine ist und wie man sich einen Zustand nach dem Krieg vorstellen kann, kommt tatsächlich in vielen Debatten zu kurz. Auch der Hinweis darauf, dass dieser Krieg globale Auswirkungen hat – auf die Nahrungsmittelversorgung zum Beispiel – ist völlig richtig. Aber das macht bessere Argumente um so dringlicher.

Was hier zu kritisieren ist, ist nicht die „Meinung“ dieser Leute. Meinungen gibt’s an jeder Ecke für ein paar Cent, und Meinungen sind nur so gut wie ihre Begründungen bzw. die Denkungsart dahinter. Und die hat es in sich – sie ist durch und durch autoritär und empirisch uninformiert.

Wer soll was wie ins Werk setzen?

Die beiden zentralen Sätze lauten: „Einen Diktatfrieden Putins darf es nicht geben. Verhandlungen bedeuten auch nicht, etwas über den Kopf der Beteiligten hinweg zu entscheiden.“ Das hört sich gut an, und es hört sich wie die Lösung an, aber in diesen beiden kleinen Sätzen ist die ganze Misere aufbewahrt. Denn in ihnen wird eine Wirklichkeit entworfen, die die Autorinnen und Autoren zu auktorialen Erzählern eines Geschehens macht – sie gehen schlicht davon aus, dass man eine Gemengelage herstellen kann, in der man gewissermaßen auktorial (derselbe Wortstamm wie autoritär!) arrangieren kann, wie sich unterschiedliche Partner mit offenkundig unterschiedlichen Perspektiven und Interessen, unterschiedlichen Ressourcen und unterschiedlichen Machtpotentialen wie in einem Stuhlkreis  so arrangieren, dass es für alle passt. Der Aggressor soll nicht mehr so aggressiv sein, dann kann auch der Angegriffene mit der Verteidigung aufhören, der alarmierte westliche Nachbar soll sich zurücknehmen, damit die beiden einen Ausgleich hinkriegen und wenn nur nicht geschossen wird, ist alles gut. Nur: Wer soll das wie ins Werk setzen?

Wird deutlich von welcher Position aus hier gesprochen wird? Es ist mehr als die des Feldherrnhügels, denn der Feldherr kann nur die eigenen Truppen nach freiem Gusto verschieben. Hier sprechen Leute, die alle Truppen und Stakeholder nach Belieben verschieben, bis es passt. Es ist also weniger der Feldherrnhügel, auf dem diese Leute stehen, es ist ein topografisches Modell, ein Sandkasten, auf dem alte Generäle Zinnsoldaten verschieben und sich an jeder neuen schönen Konstellation erfreuen. Vor allem an einer solchen, die im Konfliktfall dazu führt, dass alle Beteiligten die Schnittstellen zu den anderen so handhaben, dass das Spiel aufgeht.

Fifth World Congress of the Game Theory Society 2016 (Foto: Leon Petrosyan auf wikimedia commons)

Einer der Autoren ist ein Philosoph, dessen Ethik eher pragmatische, praktische Lösungen verspricht. Er kapriziert sich nicht auf Letztbegründungen, sondern auf vernünftige kooperative Spielzüge, wie wir sie aus dem Gefangenendilemma kennen – das hätte eigentlich ein guter Ansatzpunkt sein können. Die beteiligten Akteure können dann einschätzen, wie sie sich optimal verhalten und miteinander kooperieren können – man hätte daraus mindestens lernen können, dass jeder Akteur zunächst auf eigene Rechnung handelt. Aber nicht lernen kann man an einem solchen Modell, dass spieltheoretische Modelle wie das Gefangenendilemma meistens nur deshalb so hübsch didaktisch funktionieren, weil sich die Regeln des Spiels während des Spiels nicht verändern und ein sanktionierender Dritter die Sache stabil hält. So simpel ist es in der Empirie aber meistens nicht.

Um für komplexe Situationen angemessen zu denken, braucht man nur eine kleine Vorannahme oder Grundeinsicht, die bei der Rekonstruktion schwieriger Situationen fast alles ändert: jeder Akteur kann nur in einer konkreten Gegenwart handeln, er kann nur sehen, was er sehen kann, und er hat nur die Ressourcen, die ihm jetzt gerade zur Verfügung stehen.

Überträgt man das auf die verfahrene Kriegssituation, legt das nahe, von Akteuren auszugehen, die das Geschehen eben nicht wie alte Generäle vor einem Sandkasten mit Zinnsoldaten wahrnehmen, sondern als beteiligte Akteure. Welches Interesse sollte Russland an der Einstellung der Kampfhandlungen haben, wenn damit doch allzu sichtbar würde, wie sinnlos der Verlust vor allem eigener Ressourcen, Menschenleben, Reputation und Geschäftsfähigkeit gewesen ist? Und welches Interesse kann die Ukraine haben, wenn sie sich an die Kontinuität gebrochener Vereinbarungen und den Dezisionismus der russischen Aggressionsbereitschaft erinnert? All das lässt sich nicht einfach abstreifen.

Ein Ende der Kampfhandlungen in der jetzigen Situation, die keinen Diktatfrieden für die Ukraine bedeuten sollte, ist für einen Verhandler Russland gar nicht attraktiv. Was diese „Intellektuellen“ völlig verkennen, das ist die echtzeitliche Eigendynamik der Kampf- und Verhandlungshandlungen. Jeder Spielzug ändert (anders als im Gefangenendilemma) die Regeln. Wenn diese Appellanten also an die Einsichtsfähigkeit der beteiligten Akteure appellieren, müssen sie schlicht scheitern, weil die beteiligten Seiten nicht auf ein gemeinsames Interesse verpflichtet werden können. (Das ist übrigens das Grundproblem der Textsorte „Appell“, die man ja nur im Konfliktfall verwendet, aber daran appelliert, die Beteiligten sollten dasselbe wollen. Nur wollten sie dasselbe, gäbe es den Konflikt nicht. Eine paradoxe Form.)

Aus der Perspektive des Zinnsoldaten

Ich habe keine Ahnung von Sicherheitspolitik und noch weniger von Militärstrategien, deshalb maße ich mir keinen Lösungsvorschlag an. Aber wenn man ein wenig davon versteht, was denkerisch möglich ist, wenn man die zeitliche und sachliche Situiertheit allen Handelns in Rechnung stellt, wenn man also aus der Perspektive der Zinnsoldaten auf die Sache zugeht und nicht aus der Perspektive der appellierenden Generalissimi und Generalissimae, dann könnte man etwa in die Richtung denken, unter welchen echtzeitlichen Bedingungen beide Seiten ein Interesse daran haben könnten, Verhandlungen einzugehen – Verhandlungen bedeutet: Jeweils auf das Interesse der anderen Seite zuzugehen, um die Interessenlagen auf Augenhöhe zu bringen. Ich kann mir das derzeit nur unter drei Bedingungen vorstellen: Entweder die Ukraine wird so sehr zerstört, dass sie einem Diktatfrieden zustimmen muss (was einem Oxymoron gleichkommt), oder die Ukraine muss militärisch so stark erscheinen, dass die Kosten für den Verhandlungspartner Russland so hoch sind, dass das stattfinden kann, was sich die Appellanten wünschen: eine Verhandlungslösung, die kein Diktatfrieden sein soll. Eine dritte Lösung wäre, dass Dritte (die NATO, die UN) die Augenhöhe zwischen den Kombattanten herstellen, aber das ist ausgeschlossen und wäre noch gefährlicher als alles andere, was geschehen könnte.

Denkt man das zu Ende, was diese Leute zum Ziel haben, müssten sie für möglichst schnelle und symbolträchtige Waffenlieferungen sein, die nicht zum Ziel haben, Russland endgültig militärisch zu besiegen, sondern Russlands Kooperationsbereitschaft durch Erhöhung von Kosten herzustellen. Die abschreckende Wirkung von Kampfpotentialen scheint doch eine der Logiken militärischer Strategien zu sein, um Kampfhandlungen unwahrscheinlicher zu machen. Wenn man es schon spieltheoretisch machen will: Es ist derzeit der Westen, der die Bedingungen des Spiels während des Spiels verändern kann und somit die Anreize für kooperatives Verhalten innerhalb des Spiels erzeugen kann, ohne das Spiel so weiterlaufen zu lassen wie bisher. Mit schlichtem Zinnsoldatenwunschdenken „kluger Persönlichkeiten“ wird es nicht gelingen. So ist es nur eine insuffiziente Pose, eine Meinung in der gegenwärtigen Meinungskonkurrenz für oder gegen den Krieg zu sein und eine autoritäre Geste, die den Habitus von Leuten widerspiegelt, deren Alltag darin besteht, konsistente Welten philosophisch, schriftstellerisch oder journalistisch entwerfen und darüber im Radio zu reden. Das ist intellektuell zu wenig – und weniger, als möglich ist.

Es war vor allem Mitte-Links-Politik gewesen, die weiland die Sowjetunion dafür geliebt hat, dass sie den Status quo stabilisieren wollte und kein Interesse an der Veränderung von Spielregeln hatte. Schon Solidarność hat damals gestört. Ein bisschen davon liest man auch hier mit.

Der Beitrag ist zuerst (am 4. Juli) erschienen auf kursbuch.online im „Montagsblock. Die wöchentliche Kolumne mit Sibylle Anderl, Armin Nassehi und Peter Felixberger“.

Armin Nassehi
Prof. Dr. Armin Nassehi hat an der Universität München einen Lehrstuhl mit den Aufgabengebieten Kultursoziologie, Politische Soziologie, Religions-, Wissens- und Wissenschaftssoziologie. Er ist Mitherausgeber der Kulturzeitschrift "Kursbuch".

3 Kommentare

  1. Es herrscht Krieg – in der Ukraine. Die Bruchstücke sollten ihm in Form überheblichen Abwatschens der anderen Meinung auf fragwürdigem Niveau keinen Raum im Ringen um konstruktive Radikalität geben.

  2. Im Übrigen, Kollege Nassehi: Wer das Denken erst gar nicht versucht, kann daran auch nicht scheitern. Damit verfehlt er aber auch die Möglichkeit des “erfolgreichen Scheiterns” (you remember?), das wir in der Politikwissenschaft als die vielleicht einzige Möglichkeit von Erkenntnis in unübersichtlichem Terrain doch eigentlich sehr schätzen.
    Mit freundlichem Gruß

  3. Es herrscht Krieg, in der Tat. Aber was bewirkt das Spiel der Offenen Briefe? Um 1900 – berüchtigt wurde Emile Zolas “J’accuse”-Brief – konnte das noch unter wirksame Gegenöffentlichkeit verbucht werden. Heute ist es ein beliebiges Spiel, mit dem Wohlmeinende den Applaus identisch Wohlmeinender erheischen.

    Was das “fragwürdige” Niveau (Ingrid Kurz-Scherf) des Nassehi-Textes sein soll, müsste präzisiert werden. Es distanziert sich sicherlich von den gefühligen Unmittelbarkeiten der professionell Betroffenen. Die offensichtliche Distanz kann – je nach Interesse – als “Überheblichkeit” klassifiziert werden. Das bedeutet noch kein wahres Urteil, aber eine deutliche Meinungsdifferenz. Distanz ist aber traditionell Zeichen für eine theoretisch-kritische Haltung. Wir haben es also bei Herrn Nassehis Text nicht mit einem weiteren Appell als Kommunikationsform zu tun, sondern mit einer Distanzierungsanregung. Nicht vom Thema (Krieg), sondern von der Kommunikationsform (Appell). Leider neigen professionell Betroffene dazu, Form und Inhalt nicht trennen zu wollen.

    Armin Nassehi ist als heiter-ironischer Systemtheoretiker bekannt, vielleicht schon berüchtigt. Auch er beliefert seinem Denkstil zugeneigte Menschen. (Alle Kommunikation hat ihren inzestuösen Anteil.) Und – sehr vorsichtig-distanziert gesagt – müsste man festellen: Eines der prägnanteren Denkmilieus im Kontext dieses Blogs hat wenig Synapsen zum Denkmilieu der erregungs- und empörungsferneren Systemtheorie. Die empfiehlt eher versachlichende Beschreibung und funktionale Analyse. Und die würde erstmal simpel sagen: Gegen den Krieg sein, ist eine wohlfeile Angelegenheit. Haltung ist per se gegenüber realer Politik eine unterkomplexe Attitüde, für die man zwar Belobigungen bekommen kann, die aber an Verhältnissen nichts ändert.

    Solches Haschen nach Belobigung von Gleichgesinnten ist nun gerade nicht (ernst zu nehmendes) Denken. Und wenn Nassehi vom “Scheitern” redet, sagt er nicht, dass man Denken nicht versuchen sollte, weil es scheitern kann (wie es ihm Ingrid Kurz-Scherf beiläufig unterstellt). Sondern er sagt: Bitte nicht in Formen (Appell) zu denken versuchen, bei denen die Form die mögliche Qualität des Gedankens notwendig marode macht. Da liegt das Scheitern eben nicht am Ende des Denkens, sondern schon im Anfang der selektierten Form (Appell, Offener Brief, gern genutzt auch die verwandte Unterschriftenliste).

    Zuletzt das Zitat eines milieu-transzendenten Fast-schon-Klassikers:
    “Ich glaube, ich habe noch nie offene Briefe unterschrieben, auch solche nicht, mit denen ich politisch sympathisiert habe, weil ich das für eine Form der Sichtbarmachung ohne politischen Effekt halte. Jedenfalls im Hinblick auf das Ziel. Das ist mir alles zu selbstbezogen. Zu eitel.”
    Herfried Münkler, Politikwissenschaftler, in einem Interview in DIE WELT, 27. Mai 2022

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