Deutschland wird von dringlichen Themen getrieben. Die documenta hat sich in der Top-Liste erfolgreich nach vorne geschoben. Wie sie das geschafft hat, darum müssten sich Medienwissenschaftler:innen kümmern. Ich äußere provisorisch den Verdacht, dass Medieneffekte eine vehemente Rolle gespielt haben, die die Klärung von Relevanz über Medieneffekte hinaus behindert haben. Jenseits des politischen Gewichts des „Skandals“ wurde wie erwartbar in Kassel auch wieder über die „Systemrelevanz“ von Kunst & Kultur diskutiert. Reden wir nicht über die dabei unterstellte Identität von „Kunst“ und „Kultur“. Das wird gerne in einen Topf geworfen. Ich tue das hier auch, verrühre sie aber hoffentlich nicht zu einem Brei. Die bekannte Ausgangslosung der Kunst-Kultur-Relevanz-Diskussion: „Kaum jemand bestreitet wohl, dass Kultur wesentlich ist für eine vitale Demokratie und Zivilgesellschaft.“ (mittendrin-kassel.de, ganz aktuell) Genau das möchte ich hiermit bestreiten. Nicht vehement – Emotionalisierung gibt es schon genug -, eher unbefangen begründend und zu Widerspruch animierend.
Zwei Effekte der heftigen Dispute: Es gibt einen neuen in Verwaltungsfragen erfahrenen Chef, eine Art Mario Draghi des Kulturbetriebs. Immerhin. Und die kommende documenta soll vom Bund deutlicher kontrolliert werden, sonst gibt es kein Geld mehr. So Stimmen aus Berlin. Das Land Hessen ist auch nicht amused über skandalträchtige Pannen. Nur die Stadt Kassel ist trotzig und will die Kunstmesse demnächst selbst finanzieren. (Wo die Stadtsparkasse als wichtiger Sponsor mitzureden hat.) Das geht in Ordnung. Je weniger geteilt die Verantwortung, desto klarer ist diese identifizierbar und kann nicht weggemauschelt werden. Und das ganz unabhängig davon, was da von wem wie kollektiv mit welchen globalpolitischen Ambitionen arrangiert werden wird. Dadurch würde auch die Finanzierung auf realpolitischere Beine gestellt. (Was wiederum Protestpotenziale birgt. Denn wo für Kultur nicht mehr als im vorherigen Fall investiert wird, kommt hierzulande sofort das Stichwort vom „Kaputtsparen“ auf.)
„Kulturen werden auf gesellschaftlichem Weg aufrechterhalten; aber die umgekehrte Behauptung – daß Kulturen den Bestand von Gesellschaften garantieren – sollte man nicht so ohne weiteres akzeptieren.“
Gellner, Ernest: Pflug, Schwert und Buch; Grundlinien der Menschheitsgeschichte, Stuttgart 1988, S. 12
Also: Kunst soll systemrelevant sein. Das höre ich seit dem Beginn der Corona-Ära unentwegt in (fast) allen Medien. Vorher eigentlich nicht. Ich erinnere mich an die 1980er-Jahre. Da hieß es vor allem, Kunst & Kultur seien ein Wirtschaftsfaktor. Da haben manche frühmoderne Kultur-Essenzialisten geschluckt; aber die Republik wurde halt ein Stück postmoderner. So wurden sehr moderne Museen zuhauf gebaut – man sprach hernach vom „Museumsjahrzehnt“ -, dazu wurden Theater und Opernhäuser zumindest ausgebaut. Und die spätalternative Szene bekam üppig restaurierte Industriedenkmäler zugewiesen, deren Leerstand beseitigt werden sollte. Die derart geförderte Ex-Sub- und Ex-Off-Kultur hatte damit wenig Probleme. Sie lieferte sogar legitimierend das Konzept der „Umwegrentabilität“, nach der Kunst der Wirtschaft nicht direkt, aber indirekt hilft. Sie tut es; Details erspare ich mir.
Der erste hiesige mediale „Systemrelevanz“-Tsunami hatte nichts mit Kunst & Kultur zu tun; er hob 2007 im Zuge der Finanzkrise an. Banken sollten „to big to fail“ sein und mussten um jeden Preis gerettet werden. Darüber wurde hinreichend gestritten; ich erinnere an den begriffsgeschichtlichen Ursprung nur beiläufig. Die nächste Welle der systemischen Relevanzbehauptung kam mit Corona auf. Da waren – neben den überarbeiteten Mitarbeitern des Gesundheitssystems – vor allem während der Lockdowns sehr betroffene, mal leidende, mal empörte „Kulturschaffende“ zu sehen, hören oder lesen, die sich bitterlich beklagten, dass die Politik sie als Marginalien der Gesellschaft behandelt. Die Marginalisierung sollte aus folgender Mixtur bestehen: a) zu wenig finanzieller Unterstützung, b) zu langsam eintrudelnder Unterstützung, c) unangemessener Benachteiligung von zuschauerabhängigen Betrieben, die im Lockdown schließen mussten, und d) – schwerer zu fassen – einer „Haltung“ der Politik, die sich des Wertes von Kunst und Kultur offensichtlich nicht bewusst sei.
Die Punkte A bis C sind sachlich diskutierbar: Zu wenig ist zu wenig, wenn es das Überleben nicht garantiert. Und das schien oftmals der Fall gewesen zu sein. Zu langsam? Das ist meist immer richtig, weil Bürokratie in derart komplexen Gesellschaften wie der unseren aus Organisationsschwäche oft unterhalb ihres Potenzials agiert. Da leidet die Kultur wie viele andere staatsfinanzierte Subsysteme der Gesellschaft. Punkt C der Kritik ist ebenfalls eher zuzustimmen. Es gab etliche logische Inkonsistenzen bei Öffnungsbewilligungen und Schließungsbeschlüssen. Das Problem ist dem Bürokratieproblem verwandt und kann als allgemeines Steuerungsproblem gesehen werden: Regierungen und ihre Verwaltungen sind oftmals systemisch zu blöde, um ihren Aktivitäten Konsistenz zu verleihen, die dann als zumindest gerecht verteilte Ungerechtigkeiten interpretiert werden können. Aber systemische Blödheit jenseits aller Parteiverwickeltheit ist schon sehr lange das Problem komplexer Gesellschaften. In Corona-Zeiten wurde es nur sehr auffällig.
Schwieriger wird es bei Punkt D. Man könnte die Sache abtun und sagen: Die Politik hat manchmal Wichtigeres zu tun, als den Kulturbetrieb finanziell zu beatmen. Es gibt in diesen Tagen Prioritäten, die mit Tod und Leben zu tun haben und weniger mit Sein oder Nichtsein bei Shakespeare. Das reichte aber nur vordergründig. Denn dahinter lauert der Verdacht, dass die Politik Kultur grundsätzlich nicht so ernst nimmt, wie es die Kultur gerne hätte. Trotz aller pathetischer Ausweichrederei der Politik bei gewissen kulturträchtigen Events: Dem Verdacht muss zugestimmt werden.
„Wie die Tonkunst zunimmt, wird der Ekel an ewig wiederkommenden Wollauten und der Überdruß an gewöhnlichen Auflösungen so reich gedeihen, daß man am Ende zu Misstönen greifen wird.“
Jean Paul, Ideen-Gewimmel. Frankfurt am Main 1996, S. 70
Aber ginge es anders? Die Politik ist die Politik. Die Kultur die Kultur. Die Wirtschaft die Wirtschaft. Die Systemtheorie der Gesellschaft spricht da von Subsystemen. Das System der Kultur hat sich seit gut 120 Jahren als autonomes System entwickelt. Sie ist nicht mehr von der Gnade reicher Bistümer oder repräsentationswütiger Fürsten mit ihren Hoftheatern und Hofmalern abhängig. Sondern von einer riskanten Mixtur aus bürgerlich-kapitalistischem Markt und später einsetzender Subventionspolitik. Ein paar Jahrhunderte, etwa von 1500 bis 1900, belieferte der Kulturbetrieb auch diesen – vor allem bürgerlichen – Markt. Und dann lief der Laden so gut, dass die Produktion von Neuem, von Abweichung, Kritik, Protest als evolutionäre Leitlinie ausgerufen werden konnte. (Die Analyse der Gründe füllt Bibliotheken; Jean Paul – s.o. – lag aber wohl nicht falsch.) So wollten es die Kulturschaffenden, die als „Sezessionisten“ die Rolle des Künstlers neu definierten, um 1900. Lieber hungern, als bestochen werden, hieß eine der Losungen.
Nach dem 2. Weltkrieg, Wirtschaftswachstum plus (illusionärer) Demokratie-Euphorie, nahm sich dann doch der Staat deutlicher zumindest der offiziös bürgerlichen Szenen an. Das Projekt ist nicht leicht zu handhaben. Nur Minderheiten der künstlerisch selbstständig Agierenden leben vom Markt – wie (Pi mal Daumen) fünf Prozent der Autoren, fünf Prozent der Künstler, fünf Prozent der Galerien. (Die restlichen 95 Prozent leben von Haupt- und Nebenjobs oder haben reich geerbt.) Die bekommen in der Regel, bis auf Preisgelder und Stadtschreiberhonoraren, kein Geld. Theater, Oper, Museen – all das, kann nur überleben, weil der Staat als Finanzier die Rolle der Fürsten eingenommen hat. Denn von Besuchern und deren Zahlungen allein ließe sich Kultur selbst in prosperierenden westlichen Gesellschaften nicht auf dem Niveau bespielen, an das wir uns etwa seit den 1980er-Jahren gewöhnen durften. „Wir“, das sind nebenbei nicht die Amerikaner, die rigoroser mit den Kontoständen der Kulturinteressierten umgehen, dafür aber reiche Mäzene zum Unterhalt teurer Institutionen animieren konnten. Aber „wir“ sind auch nicht östlich gelegene EU-Mitgliedsstaaten mit eklatant schlechteren Wirtschaftsdaten und dazu passend geringerem Subventionsspielraum.
Allein die Nutzungsstatistik von Museen, Theatern, Opernhäusern zeigt: Wir reden bei den hiesigen klassisch Kulturinteressierten von Minderheiten der Bevölkerung. Jedenfalls wenn es um die alte Hochkultur geht. Die existiert natürlich schon lange nicht mehr in Reinkultur, weil sich seit den 1980er-Jahren die alternative Kulturszene in den Betrieb eingemischt hat. Die Lager sind in der Tat gegeneinander durchlässiger, das Publikum ist jünger geworden. Am gesamtrepublikanischen Minderheitenstatus des seriösen Kulturgängers hat sich aber nichts geändert. Natürlich, also: kultürlich lasse ich hier Mainstream-Kino, Musical, Pop- und verwandte Musik oder die Direktübertragung von Fußball-Weltmeisterschaften in 4K-Auflösung heraus. Diese Sparten beliefern Mehrheiten und stellen sich (meist) dem Marktprinzip: Wer was erleben will, muss das zahlen, was die Wirtschaftlichkeit des Angebots sichert. Frauenfußballerinnen bekommen dann weniger Geld als Männer, weil bei diesen höhere Werbeeinnahmen herauskommen. (Was Olaf Scholz – wie? – ändern will.)
Dummerweise werden alle letztgenannten Sparten meist auch dem Kulturbetrieb zugerechnet. Was durchaus Sinn macht, denn Musical und Fußball gehören zum Kulturprofil der Nation. Kühl statistisch betrachtet deutlicher als Ballett und Oper – Wagner aus anderen Gründen ausgenommen. Was aber das Reden über Kultur so schwierig macht, denn wer Kultur fordernd in den Mund nimmt, wählt genau das aus dem Gemischtwarenladen aus, was ihm gerade passt, erklärt es aber nicht genau und fördert so genau die Missverständnisse, deren Folgen sich der schwammige Wortbenutzer entzieht, indem er Kritiker seiner Forderungen pauschal als Kulturbanausen diskreditiert.
„Es genügt für Kultur, es absichtlich zu tun.“
Luhmann, Niklas: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 200
Ist Kultur nun systemrelevant? Allein, dass diese Frage so oft rhetorisch gestellt und schon durch das Aussprechen beantwortet scheint, sollte den Verdacht aufkommen lassen, dass hier mit einer Hohlformel hantiert wird. Trauen wir uns eine Füllung des Hohlraums zu: Systemrelevant ist, was das System einer modernen Industriegesellschaft am Laufen hält. Dazu gehört die Produktion von überlebensnotwendigen Konsumgütern, die medizinische Versorgung, das Sozialversicherungssystem, das Finanzsystem, die Verwaltung, (Grundversorgungs-)Medien und allerlei verbindende Netzwerke (Schienen, Straßen, Strom, Wasser, Gas, Information, Kommunikation). Das wäre es dann auch schon. Alles andere muss nicht sein, kann aber sein. Also auch die bewusst & systematisch produzierte Kultur mit all ihren mehr oder minder anspruchsvollen, niveauarmen, kommerziellen, konventionellen, avantgardistischen, konservativen, innovativen, förderungsabhängigen Verästelungen. Sie ist wünschenswert aus bekannten Gründen, die ich hier nicht aufzählen muss; ihre Verteidiger tun es hinreichend, und ihnen ist (meist) zuzustimmen. Eben bis auf die behauptete Systemrelevanz.
Dennoch behaupten Kulturverteidiger, dass kulturelle Produktion überhaupt lebensnotwendig sei, wenn diese Gesellschaft nicht in kulturlose Barbarei versinken will. Daher wird sie um fast jeden Preis als erhaltens- und fördernswert dargestellt. Noch Ende 2019 – knapp vor Corona – bezeichneten Kultuspolitiker und ihre journalistischen Verteidiger den Bau eines „Museums des 20. Jahrhunderts“ als nationale Pflicht, wiewohl die Kosten – seit langem absehbar – von 200 auf 450 Millionen Euro geklettert waren. Ein Nicht-Bau wurde gar als ein „Scheitern der Kulturnation“ deklariert, wiewohl in einem gut funktionierenden Unternehmen bei derartigen Kostensteigerungen zunächst jede Menge verantwortlicher Köpfe gerollt wären. Diese systemische Suggestion von staatserhaltender und demokratiesichernder Notwendigkeit funktioniert erstaunlich gut. Die planungstechnisch gesehen verschwendeten Millionen gelten als pure Notwendigkeit, sozusagen das Überlebenselixier unserer Kultur.
„Wir schwimmen in Kultur, wir ertrinken in ihr. Was soll also das Gejammer über Not, Niedergang, Zusammenbruch, Zwielicht und Tod?“
Pinker, Steven: Das unbeschriebene Blatt. Die moderne Leugnung der menschlichen Natur. Frankfurt am Main 2017, S. 574
Aber brauchen Menschen Kultur? Und wie viel? Haben sie nicht automatisch Kultur, weil sie einer Kultur angehören, die wegen zunehmend gemischter Einflüsse schon lange keine Nationalkultur genannt werden kann? Menschen sind zwar soziale und kulturproduzierende Wesen. Sie sind aber auch sehr anpassungsfähig, überleben als Kleingruppe auf einsamen Inseln und genießen manchmal sogar das Eremitendasein. Sie kritzeln am Lagerfeuer mit einem Stock in den Boden und machen etwas, das Archäologen viel später als frühe Kunst entdecken. Aber wenn der Hunger plagt, jagen sie auch tagelang ganz kulturfern über Tundren und Steppen. Unsere gegenwärtige westliche Kulturdichte (bei Locations) und Kulturfrequenz (bei Events) ist – so ist ganz distanziert zu sagen – ein hoch unwahrscheinliches Kulturprodukt. Ihr zufälliger Jetztzustand basiert auf keinerlei kulturevolutionärer Notwendigkeit, also keinem „Kulturgesetz“ (ein Widerspruch in sich). Wir machen nicht nur Kultur, wir haben Kultur zum Kulturprojekt erhoben. Entsprechend produzieren wir sie nicht nur, wir machen sie auch zu einem gewaltigen Thema, von dem Medien, Kulturakteure und Wissenschaftler aller Couleurs leben. Bis zur Debatte über die Systemrelevanz, die nur möglich ist in Gesellschaften, die sich solchen Luxus leisten können.
Ich will die Förderungswürdigkeit von Kultur unter wirtschaftlich entspannten Verhältnissen nun keineswegs in Frage stellen. Der hier schreibt, hatte Jahrzehnte lang vielleicht sogar zu viele Ausstellungen besucht, so dass er sich im Lockdown daran erfreuen konnte, endlich mal wieder in Ruhe in den Kunstbänden seiner üppigen Buchbestände zu stöbern. Ich liebe das Theater, glaube aber nicht dem Mythos der Unmittelbarkeit, den Theaterverteidiger so gerne anführen. Er ist so herbeigeredet, wie die Aura des originalen Kunstwerks bei Walter Benjamin. Daher genieße ich auf einem 4K-Fernseher samt Surround-Anlage Stücke aus den Mediatheken der kulturbekümmernden Sender, wie letzter Tage noch Dantons Tod in einer Inszenierung des Münchner Residenztheaters. Nahaufnahmen der Akteure sind dann auch besser zu genießen als auf einem mittelteuren Real-Life-Theatersessel. Und ich freue mich, wenn ich eine neue Flasche Wein öffnen will (persönlich hoch relevante Kultur), dass ich nur auf eine Pausentaste drücken muss, um mich an meiner Rolle als allmächtiger Genussgestalter zu erfreuen. (Über unkomplizierte Pinkelpausen will ich nicht auch noch schwadronieren.) Das zu den Ambivalenzen eines Kulturkonsumenten, der sich seit Jahrzehnten darin erschöpft, öffentliche Kürangebote als persönliche Pflichtveranstaltungen zu verbuchen, damit manchmal peinliche Teilnehmerzahlgrenzen beim kulturellen Minderheiten-Event überschritten werden.
Zurück zur Politik der Kulturförderung: Die Aufgabe ist in vielen politischen Pflichtenheften verankert. Nur nicht im deutschen Grundgesetz. Dort sichert zwar Artikel 5 der Kunst, der Wissenschaft und der Forschung Freiheit im Rahmen der Verfassungstreue zu. Das zielt aber auf die Selbstverpflichtung der Akteure, nicht auf eine staatliche Versorgungsgarantie des Betriebs und seiner Mitglieder. Da demokratische Staaten aber zunehmend auf Leistungsgarantien für ihre servicegewohnten Mitglieder verpflichtet werden, wundert es nicht, wenn 2007 von der Kultur-Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages die Forderung aufgestellt wurde, Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern, worüber die gegenwärtige Regierung auch wieder sinniert. Kultur wäre damit weder das, was Kulturforscher empirisch beobachten können, noch das, was in einem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage auf Märkten ausgehandelt wird, sondern eine Staatsaufgabe wie die Installierung von Sozialversicherungen oder die Organisation eines Bildungssystems. Im modernen Forderungs-Dialekt wird das werte-geladen als „Recht auf kulturelle Teilhabe“ bezeichnet. Ähnlich steht es auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, nach der wir soziale, kulturelle Wesen seien, die ein Recht auf Teilhabe besitzen an dem, was die Kultur einer Gesellschaft bietet. Was die Gesellschaft aber bieten soll, ist dort nicht aufgeführt. Da gibt es keine Theaterquote auf 100.000 Einwohner oder eine verpflichtende Ausstellungsfrequenz von Großmuseen pro 1 Million Einwohner. Und noch unschärfer wird es, wenn Filmen mehr oder weniger kulturelles Potenzial zugewiesen werden soll, was über Fördergelder entscheidet.
Was muss der Staat an Kultur fördern? Was er kann. Und was er – öffentlich legitimiert – will. Er kann, wenn er Geld übrighat oder sich was pumpt. Er will, wenn er sich Ziele setzt. Ziele aber gibt es zuhauf. Sie überschreiten in modernen Sozialstaatsgesellschaften immer die Geldmittel. Auf der staatlichen Abarbeitungsliste stehen gerade: Kriegseindämmung, Inflationsmanagement, Energieversorgung plus Energiewende, 50.000 Obdachlose, 700.000 Wohnungslose, Hartz IV, Mindestlohnerhöhung, Corona-Management, Corona-Schulden, Wirtschaftsschwäche, Infrastruktur-Investitions-Stau, Wohnungsraum-Misere, Klimakatastrophen-Schäden bei Landwirtschaft und Waldbestand. (Bitte vervollständigen; ich habe sicher etwas übersehen.) Und dennoch gibt es Kultur. Wir gönnen sie uns, auch jenseits des Finanzbedarfs in anderen Bereichen. Und wir gönnen sie uns, weil sie nutzloser Luxus ist. Machen wir also einen radikalen Schnitt bei all den Rechtfertigungsversuchen und sagen:
Alle Kultur ist Luxus.
Und bekennen wir uns zu diesem Luxus. Denn alle Kultur verdankt sich der Anstrengung, dem nackten Naturzustand zu entkommen. Ob es den je als idealisch-anmutigen gegeben hat, wie es die Anhänger von Rousseau und andere naturromantisch Infizierte auch heute noch behaupten, darf abgestritten werden. Reden wir vom Menschen, reden wir immer schon von Kultur als einer besonderen Sphäre, die sich gegen Natur absetzt. Und dass seit 50, 60 Jahren Naturversöhnung auf der Tagesordnung steht, gehört ebenfalls zu Kultur, keinesfalls zur Natur.
Es geht also nicht um die Diskussion, ob das Theater für eine Kultur „lebensnotwendig“ ist. Sondern ob wir uns den Luxus gönnen, weil wir ihn uns leisten können und wollen. Damit scheinen die Sphären des Kulturellen ungeschützt den Angriffen derer ausgesetzt, die da schimpfen, dieses oder jenes sei „purer Luxus“. Solche Angriffe gehen aber ins Leere, wenn wir einen von asiatischer Kampfkunst inspirierten rhetorischen Kunstgriff anwenden, der Energie des Gegners ausweichen und sagen:
Das ganze gesellschaftliche System samt allem kulturellem Inventar ist ein einziges Luxusprojekt in dem bestimmte Milieus meist gegen Bezahlung, oft gefördert, besondere luxuriöse Genüsse abgreifen können. Weil sie „wirkliches“ Interesse haben, weil sie vielleicht auch nur einer Bildungsfiktion zur persönlichen Imageaufwertung aufgesessen sind, weil sie das Geld haben und sich beschäftigen wollen. Oder weil sie der Langeweile einer luxuriösen Multi-Optionsgesellschaft mit ihren überbordenden Angeboten durch Eintauchen in dieselben entkommen wollen.
Nicht der Vorwurf, etwas sei Luxus, darf also eine Debatte über Etatkürzungen oder gar Schließungen kultureller Einrichtungen auslösen. Aber auch nicht die Behauptung von „Systemrelevanz“. Sondern nur die ganz konkrete Erwägung, ob man sich einen gewissen Luxus leisten will oder kann. Es geht also um gute Gründe, um die sich Verteidiger wie Kritiker heute allerdings herumdrücken können. Aber nur weil etwas da ist, muss es nicht bleiben. Das wäre kein Zeichen von Kultur, sondern plumper Besitzstandswahrung (die allerdings zu Mensch und Gesellschaft auch immer dazu gehört). Und man muss zugeben: Wenn Kulturverteidiger sich gegen Etatkürzungen wehren, wird meist das Argument der Besitzstandwahrung aus dem beschränkten Argumentationsfundus hervorgezogen. Es wird nur moralisierend verkleidet, beispielsweise dass es einen „Ausverkauf der Kultur“ bedeute, wenn diese oder jene Institution nicht mehr finanzierbar wären. Das gilt auch für eine documenta. Verschwände sie klang- und klagvoll, passierte erst einmal nichts. Und dann würde das globale System von Kunstproduzenten – wenn der Bedarf dringlich ist – etwas Neues erfinden. Wohl nicht in Kassel, was aber nur die Kasseler Stadtspitze ärgern würde.
Mutiger, konsequenter und demokratietauglicher wäre das selbstbewusste Bekenntnis zum puren Luxus der eigenen Aktivitäten. Wenn die Insassen des Kultursystems sich mit dieser Perspektive anfreundeten, könnte man sich entspannter darüber verständigen, dass es auch jenseits der Systemrelevanz gute Gründe für all die überflüssige Kultur gibt.