Das Dilemma der ARD: wenn „Unfehlbarkeit“ zum Hemmschuh wird

Screenshot: ARD-Website

Nicht nur die Despoten und Autokraten in Russland, der Türkei oder Belarus verbieten oder drangsalieren in diesen Zeiten die Medien. Auch ausgewiesene Demokratien scheuen sich nicht, Druck auf Medienredaktionen auszuüben. In Frankreich hat nach der Nationalversammlung jetzt auch der Senat dem Regierungsplan zugestimmt, die Rundfunkgebühren zu streichen. Das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem, vollmundig in Sonntagsreden als Teil der DNA einer Demokratie bezeichnet, steht überall unter Legitimationsdruck, auch in Großbritannien und in Deutschland. Eines der größeren Probleme hierzulande stellt allerdings die ARD selbst dar.

Während die BBC Boris Johnson ein Dorn im Auge ist wegen der kritischen Berichterstattung über seine diversen Party-Gates während der Corona-Hochphase (seine Kulturministerin kürzt nunmehr der BBC den Etat um mehr als 300 Mio. Euro), drückt Frankreichs Staatspräsident Macron im Parlament durch, die Rundfunkgebühren abzuschaffen, um die Kaufkraft zu stärken. Leider kein Scherz eines Präsidenten, dem die Felle wegschwimmen nach der Wahlniederlage bei den Parlamentswahlen. Auch in Österreich oder der Schweiz haben die öffentlich-rechtlichen Sender einen schweren Stand.

Und das alles nicht erst seit gestern. Doch wer sorgt für Aufklärung, gesellschaftlichen Diskurs und Orientierung in Zeiten, in denen Verschwörungsgeschichten das Internet zu verstopfen scheinen, Fake News bisweilen mehr Anklang finden als komplizierte Fakten und jeder sich berufen fühlt, seine eigene Wahrheit in die Welt hinauszuposaunen – wenn nicht die öffentlich-rechtlichen Rundfunksysteme?

Sperrfeuer aus der konservativen Ecke

Und in der Bundesrepublik Deutschland? Nach 1991, dem Geburtsjahr des Rundfunkstaatsvertrages, haben die Länder es jetzt geschafft, in einem Medienänderungsstaatsvertrag ein Reformprofil zu entwerfen, das auf „Klasse statt Masse“ setzt, wie es Bayerns Medienminister Florian Herrmann ernsthaft formuliert. Im Oktober dieses Jahres soll nun der Staatsvertrag das Licht der Welt erblicken. Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang an das würdelose Tauziehen um eine mickrige Erhöhung der Rundfunkgebühren von 86 Cent, die Sachsen-Anhalt verhindern wollte. Dem schob das Bundesverfassungsgericht 2021 einen Riegel vor:

„Die Rundfunkfreiheit dient der freien, individuellen und öffentlichen Meinungsbildung. Dabei wächst die Bedeutung der dem beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk obliegenden Aufgabe, durch authentische sorgfältig recherchierte Informationen, die Fakten und Meinungen auseinanderhalten, die Wirklichkeit nicht verzerrt darzustellen und das Sensationelle nicht in den Vordergrund zu rücken, vielmehr ein vielfaltsicherndes und Orientierungshilfe bietendes Gegengewicht zu bilden.“ Dies sei gerade in Zeiten von Fake News und Filterblasen notwendig.

Die Gebührenerhöhung kam trotz des Sperrfeuers aus konservativer Ecke zustande.
Was ist nun das Besondere an der jetzigen Reform? Angeblich sollen die Aufsichtsgremien gestärkt werden, also die pluralistisch besetzten Rundfunkräte, vom Selbstverständnis her eigentlich die Anwälte und Anwältinnen der Zuschauer und Zuschauerinnen. Die Gremien sollen Richtlinien für Qualitätsstandards aufstellen, die Intendanten/Intendantinnen in Programmfragen beraten; ferner sollen sie externen Sachverstand hinzuziehen und die Öffentlichkeitsarbeit über ihre Gremientätigkeit intensivieren. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer verstieg sich sogar zu dem abwegigen Vergleich, die Rundfunkräte seien das Parlament der ARD! Hat sie es nicht eine Nummer kleiner?

Die Probleme liegen woanders

Ich arbeite seit mehr als 20 Jahren in den Gremien von ARD/rbb/arte mit, in die mich der DGB entsandt hat. Beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb), 2003 gegründet, rennen die Ministerpräsidenten mit den Vorschlägen aus dem Gesetz offene Türen ein. Denn seit Jahren entwerfen Gremien vom ARD-Programmbeirat bis zu den regionalen Rundfunkräten „Leitbilder für die ARD“, die natürlich auch journalistische Qualitätsstandards formulieren und im rbb macht der Rundfunkrat bereits Öffentlichkeitsarbeit. Im Sender gab es über die Jahre mindestens eine Klausur pro Jahr, in der ehemalige Verfassungsrichter, Medienwissenschaftler oder Spitzenjournalisten referierten und aus dem Nähkästchen plauderten und damit in Medienfragen Input lieferten, der es für die Gremien leichter machte, die ARD und ihre Strukturen zu durchblicken.

Screenshot: rbb-Website

Die Probleme liegen woanders: Viele Gremienvertreter und Vertreterinnen machen schlichtweg Lobbyarbeit für ihre Organisation und scheren sich nicht um ihre eigentliche Funktion als Anwälte der Zuschauer; ihnen fehlt bisweilen die Professionalität, um ihre Aufgaben wahrzunehmen (Weiterbildung an erster Stelle). Nach vier Jahren Amtszeit im Rundfunkrat verlassen sie das Gremium, um für ihre Nachfolger Platz zu machen, die mit ähnlichem Halbwissen ausgerüstet sind. Aber ein Gremium braucht Kontinuität und Fachkompetenz. Die Organisationen und Verbände sollten also VertreterInnen in die Gremien entsenden, die am Thema Medien Interesse haben und nicht nur Honoratioren schicken, die Mandate sammeln.

Das weitaus größere Problem stellt allerdings die ARD selbst dar. Die ARD, und damit meine ich Chefredakteure, Programmdirektoren o.ä, die ich in all den Jahren erlebte, pflegen ihr Unfehlbarkeitsdogma in Programmfragen und wedeln die Meinungen der Gremien als lästige Einmischung weg. Gremien darf es geben, sie sollten aber ihre Kritik für sich behalten. Die ARD-Oberen sind in vielen Bereichen kritik- und beratungsresistent, ihnen fehlt schlichtweg eine Fehlerkultur. Von der mangelnden Transparenz in Finanzfragen will ich erst gar nicht schreiben.

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt

Zur Erhellung ein paar Beispiele. Auf arte lief 2018, federführend vom rbb betreut, eine großangelegte 24-stündige Reportage über die „Jugend Europas“. Wie tickt die Jugend? Wie sehen ihre Träume aus? Wohin steuern sie politisch? Ein sozialer und politischer Bilderbogen von Portraits und Reportagen, der neugierig machte auf andere Lebensläufe und Lebensentwürfe. In der neunköpfigen ARD fanden sich lediglich der SWR, der rbb und der Bayrische Rundfunk, die das Programm zusammen mit arte ausstrahlen wollten. Der WDR, größter Sender Europas, der sich gerne in der Rolle der besseren ARD sieht, glänzte durch Abwesenheit. Ich warb in der ARD für eine gemeinsame Übertragung der Reportagen und forschte in den WDR-Gremien nach: Man habe „von dem Projekt nichts gewusst“, wurde aus dem Management kolportiert. Manchmal sind gepflegte Eitelkeiten in der ARD wichtiger als Solidarität und Sendeauftrag.

Die Sommerinterviews in der ARD, das Schaulaufen der Politiker jedweder Couleur, erstickte über die Jahre in Belanglosigkeit. Als ich mich (in meiner Rolle als Vorsitzender des rbb-Programmausschusses) im rbb-Medienmagazin 2019 darüber mokierte und die Frage stellte, was von den Gefälligkeitsinterviews im Gedächtnis der Zuschauer haften blieb, gab es eine Einladung der sichtlich verschnupften Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios. Ich durfte dann dem Interview mit dem damaligen AfD-Chef Gauland beiwohnen. Und siehe da: Diesmal ein gelungenes Interview, denn es setzte auf investigativen, kritischen Journalismus, wie ich es von der ARD gewöhnt bin und erwarte. Die Retourkutsche kam ein paar Wochen später: Anlässlich des 70. Geburtstags des DGB sendete das Hauptstadt-Studio der ARD ein Portrait, das unter die Gürtellinie zielte. Gewerkschaften wurden als gestrig und hilflos gebrandmarkt, Interessenvertretung der Arbeitnehmer finde in vielen Bereichen kaum statt. Ein Bericht wie Agitprop, unter ARD-Niveau. Aber ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Im April 2022 dann die Frankreich-Wahl, erster Wahlgang. Ich klaubte mir am Wahlabend mühsam die Infos über arte, Phoenix, ZDF zusammen. Es gab rund um die Wahlgänge keine einzige Talkrunde zum Thema Frankreich. Immerhin hätte eine ausgewiesene Rechtsextremistin die Wahl und damit die Hoheit über den Roten Knopf der Atomstreitmacht gewinnen können. Meine Mail an den Chefredakteur Tagesthemen wurde freundlich und bestimmt abgewiegelt: Die Tagesschau/Tagesthemen machen keine Fehler, die (mageren) Berichte hätten genügt. Es gebe ja noch einen zweiten Wahlgang. Meine vulgärempirische Umfrage unter Journalisten aus dem Freundeskreis zeichnete ein anderes Bild: die Frankreichwahl wurde routiniert, aber nicht ambitioniert beobachtet. Die ARD war meines Erachtens zu kurz gesprungen als Garant von politischer Orientierung und aufklärendem Journalismus.

Die Gremien sind nicht der Feind

Aber es gab auch Erfolgserlebnisse in den 23 Jahren Gremienarbeit. Die Kritik des ARD-Programmbeirates, in dem VertreterInnen aller ARD-Anstalten sitzen, an der Wirtschaftsberichterstattung in den Magazinen zur Finanzkrise 2007/2008 trug Früchte. Unisono hatte das neunköpfige Gremium gegenüber den Programmdirektoren angemahnt, es fehle bisweilen an ökonomischem Sachverstand in den Polit- und Wirtschaftsmagazinen. Immerhin gelobten die ARD-Verantwortlichen, stärker nach Journalisten mit wirtschaftlicher Kompetenz Ausschau zu halten. Generalisten ersetzen keine Experten, weder zu Klimafragen noch zu ökonomischen Herausforderungen.

Was in dem Gesetzentwurf zum Medienänderungsstaatsvertrag fehlt und damit das ganze Dilemma offenbart: Für die Zukunft und die Reformfreudigkeit der ARD muss es primär um ein neu justiertes Selbstverständnis der Programmmacher, ihre Fähigkeit zur Selbstreflektion und Selbstkritik und um das Zulassen von Fehlerdebatten gehen. Die Gremien sind nicht der Feind. Sie brauchen keine Spielwiesen qua Gesetz, sondern die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen als Experten und Anwälte des Publikums, das die Gebühren zahlt. Und damit auch die Gehälter für Chefredakteurinnen und Intendanten.

Im Zusammenhang mit der angesprochenen Kritik an der Wirtschaftsberichterstattung spielte die Studie der Otto Brenner Stiftung „Wirtschaftsjournalismus in der Krise. Zum massenmedialen Umgang mit Finanzmarktpolitik “ eine Rolle. Weitere (kostenlos zugängliche) Studien auf dem Themenfeld Gremienarbeit: „Im öffentlichen Auftrag. Selbstverständnis der Rundfunkgremien, politische Praxis und Reformvorschläge“ und „Wir sind das Publikum. Autoritätsverlust der Medien und Zwang zum Dialog„.
Siehe auch von den Neuen deutschen Medienmacher:innenWelche Gesellschaft soll das abbilden?“ anlässlich von „75 Jahre Rundfunkräte im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Dieter Pienkny
Dieter Pienkny ist Journalist, stellvertretender Vorsitzender des rbb-Rundfunkrats sowie Vorsitzender des rbb-Programmausschusses.

2 Kommentare

  1. Mein lieber Dieter, ganz herzlichen Dank für deine Analyse im Rückblick auf 23 Jahre Gremien-Erfahrung. Ich kann dir auf Grund meinen eigenen NDR – Gremien-„Karriere“ nur voll und ganz zustimmen. Ich möchte gar keine weiteren Beispiele hinzufügen, wie z.B. die unsäglichen Diskussionen um die Talkshows. Wir müssen uns aber auch an die eigene Nase fassen hinsichtlich unserer Kontrollfunktion. Es ist so, wie du schreibst, wer sich nur als Lobbyist in den Gremien versteht, hat dort nichts zu suchen. Aktuell bleibt abzuwarten, was aus den Kritikpunkten am rbb übrig bleibt. Dein Stichwort: „Unfehlbarkeit der ARD“…

  2. Vielen Dank für dieses Statement. Es bestätigt mich, in vielen Vermutungen, die sich nur als Realität herausstellen. Ich gestatte mir noch meine Meinung kund zu tun.
    Wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk zur Disposition steht, ist dies oftmals auch selbst verschuldet. Nach meinem Dafürhalten ist es unter anderem auch dringend nötig, die Ausschreibung der Sendungen transparent zu machen. Zwar schreiben die Sender, wirtschaftlich wenig interessante Positionen, wie die Gebäude-Reinigung, oder die Beschaffung von Büromaterial aus, aber zu der Frage, ob eine Talkshow, die pro-Sendung, mehrere 100 000 Euro kosten, gibt es nichts. Eine Darstellung, nach welchen Kriterien solche Sendungen vergeben werden, findet sich bei der Suche im Internet, schon gar nicht. Auch auf die Fragen, ob es einen freien Wettbewerb gibt, nach welchen Regeln dieser funktioniert, ist in den Publikationen der Sender wohl auch nicht vorgesehen. Ob europäisches Wettbewerbsrecht Berücksichtigung findet, ob die Anforderungen an öffentliche Ausschreibungen erfüllt werden, ist absolut intransparent. Hier stellen sich viele Fragen, auch zu den als selbstherrlichen beschriebenen Intendanten und ihrem Gebaren. Wie Rundfunkräte von diesen gesehen und behandelt werden, stellt dieser Beitrag wohl treffend dar. Was Rundfunkräte dabei ausrichten können, spielt wohl auch, mangels Kompetenzzuteilung an die Rundfunkräte, gar keine Rolle. Tatsächlich ist die Realität, wohl so wie in diesem Beitrag geschildert, auch wenn die Rheinland-Pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer, die Rundfunkräte vollmundig, als Parlament der Rundfunkanstalten, anpreist, haben sie nicht den Ansatz einer Chance, hier wirklich mitzubestimmen. Schade, es wäre eine Chance für einen demokratischen transparenten Rundfunk, wenn es schon Rundfunkgebühren gibt.

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