Nuklearindustrie: Geht nicht, gibt’s nicht

Über den Atomenergie-Experten Friedrich Merz, nebenberuflich CDU-Vorsitzender, schreibt Spiegel-Online: „Merz berichtete, man sei ‚im Kern des Reaktors gewesen‘ und habe sich die Technik angeschaut. Er sei für sich und die Bundestagsfraktion zum Ergebnis gekommen, dass der Weiterbetrieb eines solchen Kernkraftwerkes technisch, personell und rechtlich möglich sei.“ Die Rede ist vom Atomkraftwerk Isar 2, das Merz zusammen mit Markus Söder gerade besucht hat. Die Chefs der Unionsparteien werben seit Wochen für eine Laufzeitverlängerung der verbliebenen Atommeiler. 

Es ist eine der absurden Debatten, wie sie hierzulande gern und leidenschaftlich geführt werden: mitten in einer Hitzewelle überbieten sich Politiker mit dramatischen Warnungen vor einem kalten Winter. Wenn Russland zu wenig oder gar kein Gas mehr liefere, werde es mit der Energieversorgung kritisch werden. Angesichts der von der Opposition und von interessierten Medien kräftig geschürten Unsicherheit hat der Bundeskanzler in einer Ansprache an das Volk in die Sprachschatzkammer gegriffen: „You’ll never walk alone“, ihr werdet nicht alleine frieren.

Die Bürger sind zu Einsparungen aufgefordert, aber der Staat will ihnen helfen, die teuren Nebenkostenrechnungen zu begleichen. Heftig geführte Kontroversen drehen sich freilich nicht um den Öl-, Gas- oder Kohleverbrauch, sondern um die letzten drei Atomkraftwerke in Niedersachsen (AKW Emsland), Baden-Württemberg (AKW Neckarwestheim-2) und Bayern (AKW Isar-2). Sie liefern zusammen 6% der Elektrizität, d.h. sie sind mit etwa 1,5% an der Gesamtenergieversorgung beteiligt. Nach dem geltenden Atomgesetz sollen sie spätestens am 31.12.2022 vom Netz gehen.

Merz an der Spitze des pronuklearen Chors

Aber: Der Ukrainekrieg ändere eben alles, finden Politiker und Journalisten unterschiedlicher Couleur. Meist sind es die gleichen, die schon vor dem russischen Angriff für eine Laufzeitverlängerung eintraten. Sie haben ihre Meinung also gar nicht geändert, erwarten es aber ganz dringend von der Gegenseite.

An der Spitze des pronuklearen Chors stehen die Vorsitzenden der beiden Unionsparteien, Friedrich Merz (CDU) und Markus Söder (CSU). Merz setzte sich mit nationalem Pathos in Szene: „Die Dinger müssen weiter laufen“ und „Tut es für Deutschland!“ Söder präsentierte ein Schnellgutachten des TÜV Süd, wonach die Kraftwerke ohne neuen Brennstoff ein paar Monate länger betrieben werden könnten. Der TÜV Süd ist das Unternehmen, das dem brasilianischen Bergbaukonzern Vale die Unbedenklichkeit seiner Anlage in Brumadinho bescheinigt hatte, wo sich am 25. Januar 2019 eine giftige Schlammlawine Bahn brach und 270 Menschen unter sich begrub. Der Überwachungsverein muss sich vor Gericht unter anderem wegen Bestechung, fahrlässigem Herbeiführen einer Überschwemmung und fahrlässiger Tötung in Nebentäterschaft durch Unterlassen verantworten. Solange kein Urteil ergangen ist, gilt die Unschuldsvermutung. Gleichwohl spricht es für sich, dass Söder ausgerechnet diese Adresse für sein Anliegen wählte.

Bild: TÜV SÜD auf wikimedia commons

Im Regierungslager unterstützt die FDP, wenig überraschend, solche Ideen. Während sich die SPD ein bisschen bedeckt hält, blickt die Medienwelt besonders gespannt auf die Reaktionen der Grünen. Bei ihnen löste die Parteivorsitzende Ricarda Lang mit einem TV-Auftritt bei Anne Will am 17. Juli ziemliche Unruhe aus. Von der Moderatorin in die Enge gedrängt, sagte Lang, „Stand jetzt“ gebe es keinen Anlass, vom Termin für die Stilllegung abzuweichen. Sie könne also nichts ausschließen, fragte Will natürlich nach, und in der Tat: Lang konnte und wollte nicht.

Bayerische Spezialitäten

Die Sprecherin der Grünen hatte die undankbare Aufgabe zu erklären, warum Robert Habeck einen erneuten „Stresstest“ angeordnet hat, um herauszufinden, wie stark die Stromversorgung schlimmstenfalls gefährdet sein könnte. Eine ähnliche Prüfung hatte das Wirtschaftsministerium gemeinsam mit dem Umweltministerium bereits im März durchgeführt. Ergebnis damals: die Atomkraftwerke sind Teil des Problems, nicht der Lösung. Warum also ein weiterer Stresstest? Aufklärung erteilte die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, eine Woche später in der gleichen Sendung. Leider gebe es ein bayrisches Sonderproblem. Das Bundesland liege sowohl beim Ausbau der Windenergie als auch bei der Bereitstellung von Überlandleitungen im Rückstand und werde deshalb möglicherweise tatsächlich Probleme im Winter bekommen. Eine Laufzeitverlängerung mit der Bestellung neuer Brennelemente schloss Göring-Eckardt aus, eine kurzfristige Verlängerung des Betriebs von Isar-2 hielt sie für möglich.

Die bayrischen Spezialitäten sind freilich alles andere als neu. Sie sind auch bei der ersten Überprüfung der Lage durch die Ministerien von Robert Habeck und Steffi Lemke mit Sicherheit nicht übersehen worden. Göring-Eckardt hat nur das allmähliche Zurückweichen vor dem Druck der Atomlobby bekanntgegeben. Nach diesem Signal wird das sogenannte Umdenken bei den Grünen Fahrt aufnehmen. Der Stresstest hilft ihnen, die Verantwortung in die Länder zu verschieben. Dabei gibt es eine dämliche Zwickmühle: Endet der Stresstest negativ – keine ernsthafte Gefährdung der Stromversorgung -, dann wird sich niemand, schon gar nicht die Industrie, bemüßigt fühlen, den Appellen zum Stromsparen zu folgen. Endet er positiv – Notfall möglich -, werden die Lieferanten aller Energieträger, Russland vorneweg, die Preise noch weiter in die Höhe treiben. So funktioniert der Markt, je dringender die Nachfrage, desto teurer das Angebot.

Auf Isar-2 kann verzichtet werden

Die technische Lösung, die nun mindestens für Isar-2 angedacht wird, nennt sich „Streckbetrieb“. Das gleicht einem Flugzeug, das sich nach einer langen Reise bereits im Landeanflug auf Frankfurt befindet, aber nach München umdirigiert werden soll, weil ein sehr wichtiger Fluggast an Bord einen sehr wichtigen Termin in der bayrischen Landeshauptstadt nicht verfehlen darf. Es ist der letzte Flug der Maschine, die anschließend altersbedingt ausrangiert werden soll und weil dem so ist, hat die Fluggesellschaft schon mal den Wartungsaufwand auf das Allernötigste reduziert. Der Pilot sagt, mit dem vorhandenen Treibstoff sei der Umweg machbar, wenn er die Erlaubnis erhält, die Gegenfahrbahn zu benutzen, weil die kürzer sei.

Weder in der Luft noch auf der Schiene oder Straße wäre ein solches Verfahren zulässig. Aber in der Nuklearindustrie, wo es sich nicht um gewöhnliche Restrisiken handelt, sondern um eine Hochrisikotechnologie, wie das Bundesverfassungsgericht vor fünf Jahren feststellte, soll das Heimwerkerprinzip „Geht nicht, gibt’s nicht“ gelten? Das spottet jeder Beschreibung. Oder man nennt es einfach TÜV Süd.

Solange sich die Gesellschaft den Spaß von Elektroscootern in ihren Städten leistet, solange sie es hinnimmt, dass Internetkonzerne in riesigen Rechenzentren, die derzeit im Eiltempo errichtet werden, noch mehr personenbezogene Daten speichern, und solange sie nichts dabei findet, wenn dort Bitcoins, die Währung der Schattenwelt, mit einem berüchtigten Energieverbrauch berechnet werden, kann von einem Strommangel keine Rede sein. Auf Isar-2 kann verzichtet werden. Auch Bayern kann das.

Unter dem Titel „Stresstest, Streckbetrieb und andere große Ideen“ erschien der Beitrag zuerst in Jungle.World. Wir haben ihn aktualisiert.

Detlef zum Winkel
Detlef zum Winkel, ursprünglich Physiker. Lebt in Frankfurt am Main und schreibt vornehmlich für die Berliner Wochenzeitung Jungle World. Betreut dort u.a. die Themen Atomenergie und Proliferation, aber leider auch Faschismus, weil es immer noch ein Thema ist.

1 Kommentar

  1. Der Beitrag triff natürlich punktgenau ins Schwarze. Ein Wermutstropfen: „dämlich“ ist das eigentlich nicht in dieser so verallgemeinerten Form. „Die“ Damen im allgemeinen sind für depperte CDU/CSU – Männer an der Spitze eher nicht verantwortlich. Zur Zeit frage ich mich, weshalb die durchaus beachtliche Zahl von AKW-Gegner*innen in der CDU/CSU so schweigsam sind und den Dilettanten an der Spitze Ihrer Partei nicht heim leuchten. Und beim TÜV SÜD – kann ich da für mein Auto auch so ein Gefälligkeits-Gutachten bekommen? Was kostet das?

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