In Frankreich herrscht bis Anfang September Ferienzeit: Seit Generationen fahren die einen mit ihren Familien im Juli, die anderen im August ans Meer, in die Berge oder einfach ins Ferienhaus in der „campagne“, das oft noch in dem Dorf steht, aus dem die Großeltern oder noch entferntere Verwandte einst in die Städte oder Industriegebiete ausgewandert sind. Die sommerlichen Gewohnheiten prägen nach wie vor diese Gesellschaft und ihr privates Alltagsleben. An ihnen wird nicht gerüttelt, auch wenn sich in den letzten Monaten die Republik des Hexagone radikal verändert hat: Das demokratische Fundament durchziehen tiefe Risse, bröckelt da und dort. Und es entsteht ein neues Machtzentrum.
Einen Tag nach der zweiten Runde der Parlamentswahlen (am 19. Juni), in der der kurz zuvor wiedergewählte Präsident Emmanuel Macron mit seinem Bündnis „Ensemble!“ die absolute Mehrheit verlor und erstmals in der französischen V. Republik die Rechtsextremen unter Marine le Pen die stärkste Oppositionsfraktion bilden, kommentierte der Politologe Pascal Perrineau im Sender „arte“ das Ergebnis mit einem schlichten Satz: „Macron wird Parlamentarismus lernen müssen“. Wenige Wochen später gilt der Satz nicht nur in aller Schärfe für den Präsidenten selbst und sein Kabinett der Minderheit, sondern für alle neu gewählten 577 Abgeordneten in der Nationalversammlung im Palais Bourbon mit den roten Samtsesseln und dem üppigem Dekor ringsum. Die gewählten Französinnen und Franzosen von sehr weit rechts bis sehr weit links üben demokratischen Parlamentarismus: Sie machen es sich gegenseitig nicht leicht. Der Ton ist rüde, das Benehmen teilweise ungehobelt, das Misstrauen ist nicht nur gegenüber der Regierung der Premierministerin Elisabeth Borne, sondern auch untereinander groß.
Harte irdische Landung für den „Göttlichen“
Zu ungewohnt ist es im Pariser politischen Getriebe, dass das Parlament eine nennenswerte Rolle spielt: Die Bedeutungslosigkeit galt zwanzig Jahre lang, seit die Parlamentswahlen an die Präsidentschaftswahlen angekoppelt wurden mit der Erwartung, dass die Franzosen dem gerade Gewählten oder Bestätigten im Elysee Palast sechs Wochen später mit einer absoluten Mehrheit freie Hand zum Regieren gewähren würden. Das System funktionierte nicht nur im Sinne der Präsidenten, sondern sorgte im Zusammenspiel mit dem komplizierten Wahlsystem in zwei Runden dafür, dass politisch extreme Parteien nebst ihren Kandidatinnen und Kandidaten abgeblockt, damit außerparlamentarisch oder völlig einflusslos blieben, wie die sieben Abgeordneten der Le Pen-Partei in der letzten Legislaturperiode. Das etablierte politische Lager von den Konservativen bis zu den Sozialisten teilte sich die lukrativen Posten und die nicht unerheblichen Pfründe.
Das ist vorbei. Die Politik der Blockade in den Wahlkreisen, vor allem gegenüber den Rechtsextremen, greift nicht mehr. Macron, den die Medien gern mit dem römischen Gott Jupiter verglichen, ist herabgefallen auf eine ziemlich harte Erde. Und mit ihm zahlreiche, für den Präsidenten machtpolitisch wichtige Weggefährten (und Strippenzieher) der „Republique en marche“, die jetzt Renaissance! heißt. Im Parlament hat Macron keinen Zuchtmeister und Bündnisschmieder mehr wie den bisherigen Parlamentspräsidenten Richard Ferrand, der seinen Wahlkreis in der Bretagne an eine weitgehend unbekannte „Unbeugsame“ verlor. Zur neuen Präsidentin des Parlaments wurde erstmals in der Geschichte eine Frau gewählt: die 51-jährige Yael Braun-Pivet, die keine Vertraute Macrons ist. Wie die Renaissance, die Wiedergeburt der en marche-Bewegung, aussehen wird und welche Rolle der Präsident dabei überhaupt noch spielt, ist derzeit unklar. Alle aktuellen Gesetze sind inzwischen auch durch den Senat, immer mit rechter Mehrheit. Gewagt sei daher ein Rückblick auf die letzten Monate und eine Antwort auf die Frage, warum das bisherige System zusammengebrochen ist.
Oft ungeduldig und herablassend
Die scheinbare Überflüssigkeit einer parlamentarischen Demokratie hat sich in den Köpfen der französischen Wählerschaft eingenistet. Politische Debatten oder das Aushandeln von Kompromissen gehörten bisher nicht zur Präsidentendemokratie, in der im Konfliktfall an einer Parlamentsmehrheit vorbei regiert werden kann (Artikel 49.3 der Verfassung), ein Instrument, das Macron vor allem in den pandemischen Zeiten über Gebühr genutzt hat. Er regierte in der Nationalversammlung von oben durch und nahm, oft ungeduldig und herablassend, kaum Rücksicht auf parlamentarische Gepflogenheiten, geschweige denn auf Anstöße oder Änderungsanträge der Opposition. Ein Desinteresse, das in der Gesellschaft bisher auf wenig Widerspruch gestoßen ist.
Und die Mehrheit der Franzosen richtete sich offenbar auf ein Weiter-so ein, trotz der bis zum offenen Hass gesteigerten Unbeliebtheit und nicht sehr überzeugenden Wiederwahl des ehemaligen Investmentbankers und Wirtschaftsministers unter dem Sozialisten Francois Hollande. War die Unlust, an Wahlen teilzunehmen, schon bei der Stichwahl zwischen Marine le Pen und Emmanuel Macron groß, so überstieg sie bei den Parlamentswahlen die Vorstellungen der Wahlforscher, der Medien und der Wissenschaft: 53,77 Prozent der wahlberechtigten Französinnen und Franzosen beteiligten sich nicht. Weitere 1,9 Millionen steckten einen weißen Zettel in die Wahlurnen und 480 000 einen ungültigen.
Die in den 577 Wahlbezirken schließlich gewählten Männer und Frauen vertreten keineswegs auch nur annähernd „das Volk“, wie das von links bis rechts vollmundig behauptet wird. Marine le Pens Rassemblement National ist von 7,39 Prozent der Wahlberechtigten gewählt worden, die „Neue Volksunion“, die Jean-Luc Mélenchon mit den Sozialisten, Ökologen, Kommunisten und seinen Unbeugsamen schmiedete (Nupes), kam auf 13,94 Prozent und schließlich das Viererbündnis der Macronisten auf 16,49 Prozent. Der mehrfach wegen Rassismus und Volksverhetzung verurteilte Rechtsaußen Eric Zemmour, der als Kandidat um die Präsidentschaft monatelang die Themen setzte und in den privaten wie öffentlichen Medien hofiert wurde, fiel in seinem Wahlbezirk durch. Aber er profitiert dennoch weiter kräftig, nicht nur dank öffentlicher Aufmerksamkeit.
Am 22. Juni veröffentlichte die Tageszeitung le monde eine Übersicht, wie großzügig der französische Steuerzahler das parlamentarische System finanziert, auch wenn er es nicht für besonders wichtig hält. Nur für seine, letztlich erfolglose Teilnahme an den Parlamentswahlen erhält Zemmours antidemokratische Bewegung Reconquête! 1,58 Millionen Euro: pro Jahr für die gesamte Legislaturperiode, obwohl im Augenblick nicht klar ist, ob der rechtsradikale Polemiker und einstige Kolumnist des „Figaro“ überhaupt weiter in der Politik und im „kulturellen Kampf“ mitmischt.
Mit den Wahlkampfgeldern der Reconquête! liebäugeln allerdings auch andere, zum Beispiel die Aktivistin und der Aktivist der Gelbwesten-Bewegung (gilets jaunes) Jacline Mouraud und Benjamin Cauchys, die bei den nächsten Bürgermeisterwahlen in vier Jahren antreten wollen. In der Generation Z(emmour) aus der identitären studentischen Szene, die le monde auf rund 20 000 schätzt, sind erste Absatzbewegungen erkennbar. 300 Zler sollen ihre Bewerbungen als Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen beim Rassemblement National abgegeben haben, schreibt die Zeitung (am 17./18.Juli). Nicht aus Sympathie für Marine Le Pen, sondern um die rechten patriotischen Ideen weiter zu befördern, wie einer von ihnen zugibt.
Die Chancen für diese Generation Z stehen nicht schlecht: Denn die eigentlichen Profiteure der Staatsfinanzierung sind die beiden Parteien und Bewegungen, die das bisherige republikanisch-demokratische System der V. Republik nebst den europäischen und internationalen Bündnissen offen in Frage stellen und durch populistische Referenden oder patriotische Kampagnen ersetzen wollen: Die hochverschuldete Partei der Marine le Pen erhält für ihre 89 Abgeordneten und einen Senator 10,33 Millionen Euro im Jahr. Damit könnte le Pen nicht nur ihre Mitarbeiterschar in der Parteizentrale wieder bezahlen oder im Parlament jungen Rechtsradikalen der Generation Z Jobs und politische Sprungbretter anbieten. Sie könnte auch ihre Schulden begleichen, die nach Berechnungen von le monde bei 23,72 Millionen Euro liegen. Nicht eingerechnet ist dabei der Kredit einer ungarisch-russischen Bank von noch acht Millionen Euro, der bis 2028 zurückzuzahlen wäre.
Die „Unbeugsamen“ von Jean-Luc Mélenchon, der selbst seinen Wahlbezirk in Marseille seinem politischen Ziehsohn Manuel Bompard überließ (gewonnen mit 73,92 Prozent), erhalten für ihren Wahlerfolg und ihre 75 Abgeordneten jährlich 8,38 Millionen Euro. Nach den Dokumenten, die der Nationalen Kommission für die Abrechnung der Wahlkosten vorliegen, ist das ein Geldsegen für eine Bewegung, die bisher mit vielen Freiwilligen ohne einen großen Apparat von hauptamtlichen Funktionären auskommt und die in dem Zusammenschluss mit den Sozialisten, Kommunisten und Ökologen zur „Neuen Volksunion“ schriftlich dokumentiert hat, aus der Nationalversammlung ein Parlament der Kampagne machen und die V. Republik überwinden zu wollen.
Von der „Volksunion“, die nach den Parlamentsregeln nicht als eine einzige Partei, sondern als ein Bündnis von unabhängigen Parteien gerechnet wird (sehr zum Ärger von Mélenchon), profitieren auch die Ökologen und die Sozialisten, die im Präsidentenwahlkampf mit Anne Hidalgo und Yannick Jadot politisch und finanziell dramatisch eingebrochen waren. Mit fünf Millionen ist die PS mit ihren 32 Abgeordneten und 63 Senatoren dabei, die Europäischen Ökologen-die Grünen erhalten für 16 Abgeordnete und 12 Senatoren jährlich 2,81 Millionen. Beide Gruppierungen innerhalb der Volksunion haben Fraktionsstatus (mindestens 15 Gewählte) und somit Anspruch auf Posten im Parlament und den acht Kommissionen. Gegen die innerparteilichen „Elefanten“ (Hollande zum Beispiel), die das Zusammengehen der PS mit den Unbeugsamen mit allen Mitteln verhindern wollten, kann dies der umstrittene Generalsekretär der PS, Olivier Faure, als Erfolg verbuchen. Ob die Sozialisten eine Zukunft haben, ist dennoch offen.
Wie sortiert sich das Machtgefüge?
Auf der extremen Rechten und der Linken ballen sich nun in der Nationalversammlung Geld und politische Macht. Zwischen diesen beiden Blöcken sitzen die Bündnispartner der Macronisten, die ihre absolute Mehrheit verloren haben und sich um die Unterstützung aus der Opposition wie den rund sechzig Republikanern bemühen müssen. Wird bei dieser Konstellation der französische Parlamentarismus zu einer neuen Kraft? Sortiert sich das Machtgefüge zwischen Präsident, Regierung, Nationalversammlung und Senat neu? Die ersten Sitzungswochen geben Einblicke in eine Institution, in der Unsicherheit und gegenseitiges Belauern herrscht, aber auch eine neue Öffentlichkeit: Die Medien schauen genauer hin, was im Palais Bourbon passiert, wer mit wem um die zahlreichen Posten kungelt und zu welchem Preis.
Fest im Griff hat Marine le Pen ihre Truppe, deren Zusammensetzung ein erhellendes Bild dieser straff geführten, national-populistischen Kaderpartei gibt: Nicht nur sind zwei Drittel der Fraktion Männer zwischen 30 und 59 Jahren, sondern knapp die Hälfte der Abgeordneten kommen aus dem gehobenen intellektuellen Milieu, sind Kader oder Funktionäre der Partei, aus der Beamtenschaft oder dem Dienstleistungssektor. Aus einer Grafik, die le monde am 23. Juni veröffentlichte, geht hervor, dass in le Pens Fraktion zwei Arbeiter, zwei Bauern, fünf Handwerker und neun Rentner sitzen. Sie alle kontrolliert die Vorsitzende der Partei und der Fraktion. Jeden Einzelnen und jede Einzelne hat sie empfangen und beglückwünscht. Keinen Schritt überlässt sie dem Zufall, verordnet Krawatten, sympathisches Verhalten und gedeckte Kostümchen, „keine Blümchenhemden“ wie die Unbeugsamen auf der Linken. Sie erzeugt Bilder der Ordnung, aber vor allem der politischen Verantwortlichkeit.
Das Parlament als Bühne und Trampolin
Marine le Pen braucht dieses Parlament als Bühne (der Verfassungsrechtler Jean-Pierre Camby benutzt das Bild des Trampolins), um dem Volk zu zeigen, wie ehrenwert und vertrauenswürdig ihr Rassemblement ist, so dass man ihr in fünf Jahren die Macht in der Republik übertragen sollte. An der Praxis der letzten Wochen lässt sich erkennen, dass diese Rechnung aufgehen könnte: Aus ihrer Fraktion wurden erstmals zwei Vizepräsidenten ins Parlamentspräsidium gewählt. Bei zahlreichen anderen Posten zeigte sich le Pen verhandlungs-und kompromissbereit, steckte zurück, wenn es ihr Anerkennung einbrachte. Bei den turbulenten Beratungen über das Gesetz zur Kaufkraft und das Gesetz zum Ergänzungshaushalt spielten die Rechtsextremen ihre Rolle als die Verantwortlichen und Konstruktiven, die nur und immer das Wohl des Volkes im Auge haben.
Auf der extremen Linken gelingt ein solches geschlossenes Bild nicht, auch wenn der Kurs der „Volksunion“(Nupes) bisher klar zu sein scheint: um jeden Preis gegen Macron und seine Regierung zu sein, das Instrument des Misstrauensvotums zu nutzen, so oft es geht. Spekuliert wird im und außerhalb des Parlaments über die Frage, ob eine Blockadepolitik den Präsidenten in einem Jahr zur Auflösung der Nationalversammlung und damit zu Neuwahlen zwingen könnte. Der Volkstribun Jean-Luc Mélenchon, der wie le Pen von einer neuen Kandidatur träumt, könnte mit einer solchen Idee spielen, aber er sitzt nicht im Parlament, sondern versucht eine Gegenmacht von außen aufzubauen. Für den September kündigte er (wie auch die Gewerkschaften) bereits eine Großdemonstration gegen die Regierung und das “teure Leben“an. In der Nationalversammlung vertritt den rigorosen Kampagnen-Parlamentarismus lautstark und ruppig bis zur persönlichen Attacke Mathilde Panot, die zur Präsidentin der Unbeugsamen-Fraktion gewählt wurde. Wie lange die Bündnispartner, vor allem die Sozialisten und die Kommunisten, diese rüde Gegnerschaft mitmachen, ist zur Zeit noch offen. Es zeigen sich erste Bruchlinien. Auch auf der extremen Linken bietet das Parlament möglichen Nachfolgern des 71-jährigen Volkstribuns neue Chancen, sich zu profilieren und öffentlich in Szene zu setzen.
So macht schon der Unbeugsame Eric Coquerel eine andere Figur. Er wurde nach heftigem Gerangel vor und hinter den Kulissen zum Vorsitzenden der wichtigen Finanzkommission gewählt, letztlich mit den Stimmen der Macronisten. Nach den Traditionen des Parlaments steht diese Kommission eigentlich der stärksten Oppositionsfraktion zu: Dies wären die Rechtsextremen. Aber die Mehrheit entschied sich nach turbulenten Sitzungen, Unterbrechungen und Telefonaten, den Rassemblement National nicht weiter aufzuwerten und ihm diesen Posten nicht zu überlassen. Doch ob Coquerel diese einflussreiche Rolle ausüben kann? In den Gängen des Palais Bourbon verbreiteten sich nach seiner überraschenden Wahl Gerüchte über Anzügliches und Übergriffiges gegenüber Frauen. Sophie Tissier, eine ehemalige Aktivistin der Unbeugsamen und der Gelbwesten, beschuldigte den robusten und gewieften Politiker, sie vor acht Jahren auf einer Sommerakademie belästigt zu haben. Nur habe ihr damals niemand geglaubt. Daran hat sich bis heute wenig geändert, Mélenchon und Panot reagierten brüsk abweisend, während Sandrine Rousseau, die streitbare Ökofeministin im Bündnis Nupes, Tissier erst einmal glaubte. Doch die Unbeugsamen versuchen, mit Fingern auf andere Fälle unter den Macronisten zu zeigen und diese eigene, unangenehme Affäre tiefer zu hängen, zumal das Interesse der Medien schnell erlahmte. Aber sie schwelt weiter.
Im Vordergrund stand und steht jetzt die Frage: Bekommt die Regierung der Elisabeth Borne die beiden ersten Gesetze zur Kaufkraft und zum Haushalt durch? Und wenn ja, mit welchen Zugeständnissen an welche Gruppierung? Die Verlagerung der Macht wird in diesen Tagen deutlich. „Die Macht hat den Elysee-Palast verlassen, um ins Palais Bourbon zu kommen“, kommentierte der Sozialist Boris Vallaud. An der Verschiebung ist der Präsident nicht unbeteiligt. Wenig Weitblick oder Einsicht in die politische (Nieder-)Lage zeigte er bei der Regierungsbildung; Elisabeth Borne ist für ihn dritte Wahl, Ministerinnen und Minister wurden hin-und hergeschoben oder ausgetauscht, weil sie ihren Wahlkreis nicht gewonnen hatten. Eine politische Perspektive für die nächsten fünf Jahre entfaltete die Premierministerin in ihrer Regierungserklärung im Parlament (am 6. Juli) nicht.
Auf die ungeschriebene Tradition, nach diesem Auftritt die Vertrauensfrage zu stellen, verzichtete sie. Sie hätte sie verloren und damit ihren Rücktritt erzwungen. Wie lange sie sich noch halten kann, ist unklar. Auf zwei Bündnispartner, die so genannten „Krokodile“ Eduard Philippe (Horizons) und Francois Bayrou (MoDem), kann sie sich nicht verlassen. Ebenso wenig auf die beiden starken Männer in ihrem Kabinett, Finanzminister Bruno Le Maire und Innenminister Gérald Darmanin. Sie nutzen das Parlament offen zur eigenen Profilierung, die nächsten Präsidentschaftswahlen fest im Blick: Bruno Le Maire springt behende auf dem „Trampolin“: mit Erfolg erst mit dem Gesetz zur Kaufkraft, das nach einer Nachtsitzung in den frühen Morgenstunden in erster Lesung verabschiedet wurde, dann mit dem Haushaltsergänzungsgesetz, in dem es mit über 20 Milliarden Euro um die Finanzierung all der Sozialleistungen, Steuererleichterungen, Abschaffung der Rundfunkgebühr (138 Euro pro Jahr und Haushalt) und (Tank-)Rabatte geht, mit der das teuer gewordene Alltagsleben der Franzosen und Französinnen von der Rente bis zum Spritpreis erleichtert werden soll.
Le Maire erweist sich in diesen Tagen als umgänglicher und trickreicher Mehrheitsbeschaffer. Er verhandelt mit jeder Fraktion und Gruppierung auf der Rechten, fordert in einer weiteren Nachtsitzung zum Haushalt die Linken heraus. Und setzt sich schließlich in den Abstimmungen mit Mehrheit durch, mal mit den Lepenisten, mal mit den Republikanern. Er entwickelt eine erstaunliche Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit an die neuen Machtverhältnisse. Aber es ist eine Gratwanderung mit Absturzgefahr.
Und die Französinnen und Franzosen? Beginnt sie das neue Machtzentrum zu interessieren, wenn es um ihre Kaufkraft und ihre unmittelbaren Alltagsinteressen geht? Reicht ihnen das Angebot, das die Regierung und die Parlamentsmehrheit bisher zu machen bereit sind? Reichen die Signale aus der Wirtschaft, steuerfreie „Macron-Prämien“ tatsächlich ihren Beschäftigen zu zahlen oder die Spritpreise um 20 Cents zu senken (Total)? Noch herrscht Ferienruhe. Nach der „rentrée“ im September wird sich zeigen, wo politisch die Weichen gestellt werden: im Parlament oder in Demonstrationen auf der Straße, wenn die gelben Warnwesten wieder ausgepackt sind.