„Während sich die Sommerpause im Krisenmodus hinzieht, steht eine Regierungspartei so schlecht da wie schon lange nicht mehr: die FDP“, schreibt Die Zeit nach Christian Lindners Auftritt im ZDF-Sommerinterview. Es ist erst das zweite Mal, dass mit Lindner ein Mann der FDP »Bundesminister der Finanzen der Bundesrepublik Deutschland« wurde. Und Heinz Starke, der am 14. November 1961 sein Amt antrat, gab es bereits am 19. November 1962 wieder ab, wechselte später sogar die Partei, indem er Mitglied der CSU wurde. Er war über die sogenannte Spiegel-Affäre ins Trudeln geraten und musste, zusammen mit anderen Ministern, seinen Hut nehmen. An Christian Lindner, dessen unmittelbarer Vorgesetzter sein Vorgänger im Amt gewesen ist, lässt sich nun viel entlangreden und studieren. Denn die Konstellation, in der er sich nun einen noch größeren Namen machen will, macht neugierig.
Erwähnt werden könnte auch, dass seit 1880 und mit der Inbetriebnahme reichsdeutscher, später deutscher Finanzminister niemals eine Frau dieses Amt innehatte. Obwohl das Land bisher insgesamt 50 Minister kommen und 49 gehen sah. Zählte man die acht der DDR noch hinzu, wäre allerdings eine Frau zu nennen. Uta Nickel leitete nach dem Fall der Mauer das Ministerium immerhin fünf Monate lang. Das muss ein Versehen gewesen sein. Finanzen gehören in Männerhände. Hat wahrscheinlich schon Bismarck gedacht und gesagt und so ist es geblieben.
Das ist die Konstellation, die neugierig macht: Ein waschechter Neoliberaler mit ordentlich Charisma und seine Koalitionspartnerinnen in grün und sozialdemokratisch, von denen die einen in vielen Teilen auch waschecht neoliberal sind und die anderen in ebenso vielen Teilen völlig vergessen haben, wo einst die Wurzeln der Sozialdemokratie lagen. Aber es gibt bei beiden Koalitionspartnerinnen noch Reste von einst (in der FDP nicht mehr, legt man die Freiburger Thesen aus dem Jahr 1971 zugrunde, die bereits sechs Jahre später Geschichte waren). Wie ein Echo der Erinnerung, das manchmal auch ein wenig Ärger macht, weil es wie ein kleiner Störfaktor des Dreiklangs Rotgrüngelb wirkt.
Das Ziel ist ein wenig explodiert
Christian Wolfgang Lindner, Jahrgang 79, Politikwissenschaftler, vor allem aber Berufspolitiker, Major der Reserve, Inhaber einer Rennlizenz, eines Sportbootführer- und eines Fischereischeins, geprüfter Jäger, einstiger Unternehmensberater und Unternehmer, dessen Firma insolvent ging, früher Bundestagsabgeordneter mit hohen Nebeneinkünften, seit 2013 vierzehnter Bundesvorsitzender der FDP, seit Dezember 2021 Bundesfinanzminister, ist möglicherweise am Ziel seiner Wünsche.
Aber, das muss auch gesagt werden, das Ziel ist aus pandemischen und kriegerischen Gründen ein wenig explodiert, noch bevor der Weg gegangen werden konnte. Bislang kann Lindner nicht tun, was er wahrscheinlich tun möchte. Er muss stattdessen reagieren, reparieren und schauen, wie mit der Krisenbewältigung seine Vorstellungen als Minister einer Partei der Wohlverdienenden und Vielhabenden trotzdem umsetzen kann. Deshalb ist es interessant, ihn in den Blick einer Langzeitbeobachtung zu rücken. Schafft er eine »Verlindnerung« der Koalition oder scheitert er an den aktuellen Gegebenheiten und ärgert sich grün und rot? Keine Steuererhöhungen, unbedingte Einhaltung der Schuldenbremse, Entfesselung durch Bildung, Digitalisierung und Entbürokratisierung, bloß keine Sozialromantik (welch ein schönes Wort im Munde eines Mannes, der es nicht gut mit ihm meint) – im Wahlkampf hat Lindner viele Key-Worte so oft benutzt, dass sie ihm unbedingt abzukaufen sind, um sich von den stetigen Wiederholungen ein wenig erholen zu können.
Mit 160 km entkommt man einer atomaren Katastrophe schneller
Die Autorin Nora Bossong widmete Lindner in ihrem Buch »Die Geschmeidigen« einigen Raum und da sagt er so Sätze wie: »Die Art, wie wir leben, ist so nicht fortsetzbar. Aber wir geben uns derzeit noch der Illusion hin, dass es ginge.« Das klingt klug. Aus dem richtigen Munde gesprochen, sogar sehr vorausschauend. Aber Lindner adressiert mit solchen Sätzen auf keinen Fall jene, die in seinen Augen die Leistungsträger:innen der Gesellschaft sind oder mit ihrem unternehmerischen Handeln den Shareholder-Kapitalismus am Laufen halten. Stattdessen möglicherweise die Kassiererin und die Pflegerin und den Sozialhilfeempfänger.
Bereits vor fünf Jahren schrieb Wolfgang Michel in »Blätter« über ihn, er sei ein Mann, der »die Wahlkampfbühne in einen Laufsteg verwandelt« habe. Das stimmt. Christian Lindner führt einen Politikstil vor, der fast fehlerfrei wirkt. Das ist angesichts der Inhalte und der Ausrichtung seiner Politik ziemlich verheerend. Er kann reden, tritt professionell auf, verliert nie die Contenance, wirkt kühl, aber nicht kalt, beherrscht die sanfte Form der Demagogie und stellt viele seiner Vorgänger mit einer überlegten und recht überlegenen Zurückhaltung in den Schatten. Es gab so viele Rüpel und Clowns und gierige Strippenzieher in seiner Partei, die Funktionen innehatten, dass es einer Wohltat gleichkommt, diesem Mann bei der Arbeit zuzuschauen. Er hat, strahlt diese freundliche Professionalität aus, an der man abgleiten kann, wie an einem Neoprenanzug.
Als im Oktober 2021 das Sondierungspapier der neuen und bislang in dieser Kombination auf Bundesebene einmaligen Koalition vorgestellt wurde, hatte Lindner bereits das Tempolimit 130 auf deutschen Autobahnen vom Tisch und unter den Teppich gekriegt. Und selbst jetzt, da eine Energiekrise in aller Munde ist, scheint der Deal zu halten. Mit 160 entkommt man einer atomaren Katastrophe auch wirklich schneller.
Lindner träumt, wie er in einem Interview gesagt hat, von einem Staat, »der uns im Alltag in Ruhe lässt, aber wenn wir ihn brauchen, nicht im Stich«. Und nun ist er in eine Situation geraten, unter Beweis stellen zu müssen, das mit dem »nicht-im-Stich-lassen« ernst zu meinen. Das ist schlecht für ihn, aber er macht bislang was draus. Zwar sozial unausgewogen, wie ihm selbst Koalitionär:innen vorwerfen, aber mit guter Figur.
Schauen wir mal, wie es weitergeht.