Butter by Lindner (zwei)  

FDP 2012, Guido Westerwelle, Christian Lindner, Daniel Bahr (Foto: Raimond Spekking auf wikimedia commons)

»If you are in a deep hole, stop diggingHör auf zu graben, wenn du in einem tiefen Loch bist. (unbekannt)
Nicht nur die FDP im Besonderen, Zivilisationen neigen allgemein dazu, auf große Krisen mit der Verstärkung jener Strategien und Praktiken zu reagieren, die Teil des Problems sind und im schlimmsten Fall die Krisen erst hervorgerufen haben. Zwar hat uns Friedrich Hölderlin ins Buch geschrieben, wo Gefahr sei, wachse das Rettende auch, aber es bedarf einer großen Kraftanstrengung, dies in der Gegenwart für wahr zu nehmen. Christian Lindner ist insofern ein Gefangener seiner eigenen Beschwörungsformeln.

Vor knapp einem Jahr – die Wahl war noch nicht gelaufen – erklärte der Man in einem Gespräch mit der Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele, er sehe überhaupt keinen Bedarf für eine gerechtere Verteilung des Reichtums in Deutschland. »Deutschland hat bereits Umverteilung ‚at its best‘«. Man könne aus Defiziten und Krisen nur durch eine starke Wirtschaft HERAUSWACHSEN, was Steuererhöhungen auf jeden Fall ausschließe und zugleich erfordere, auf die Einhaltung der Schuldenbremse zu achten. »Wir wollen nicht belasten, sondern wir wollen dafür sorgen, dass es in Deutschland zu einer größeren Dynamik kommt.« Mit dem zweiten Teil des letzten Satzes hat er auf jeden Fall Recht behalten. Die Dynamik ist größer geworden. In die schlimme Richtung, aber exponentiell.

Der Deal – Behelfsbrücke für Unüberbrückbares

Jetzt von Christian Lindner in seiner Eigenschaft als Finanzminister zu erwarten, er entwickle ein anderes Besteck dafür, diese Entwicklung umzukehren oder zumindest abzufedern, entbehrt wirklich jeder Grundlage. Deshalb sollten Appelle an ihn möglichst unterlassen werden. Sie sind für beide Seiten, die Fordernden und den Aufgeforderten frustrierend und führen zu nichts. Es könnte sogar kontraproduktiv sein, den Mann auf die Idee zu bringen, dass die Umverteilung doch nicht »at its best« ist und dazu führen, dass es noch mehr Menschen ohne Rücklagen, Eigentum und Vermögen, noch schlechter geht. Also besser nicht dran rühren. Die ganze Hoffnung, dass der Finanzminister und seine Partei etwas gegen ihren erklärten Willen (Steuersenkungspartei zu sein oder zumindest niemals nie Steuern zu erhöhen) tun, lastet auf den Schultern ihrer Koalitionspartner, und die werden sicher auch das Eine und Andere im Gegenzug zum Anderen und Einen dealen können. Das ist der letztliche Sinn von Koalitionen, die gezwungen sind, ständig Behelfsbrücken für vielleicht Unüberbrückbares zu bauen: der Deal.

Die Sache mit den Steuern ist für Christian Lindner trotzdem ein ziemliches Ärgernis. Er ist klug genug zu wissen, dass er irgendetwas anbieten muss, in dem das Wort Steuern enthalten ist. Also ist er auf die Idee mit der kalten Progression gekommen. Was einen wie ihn auszeichnet ist, dass er diesen Vorschlag auf eine Art und Weise kommuniziert, als sei dies eine geradezu großartige Entlastungsmaßnahme. Viel besser als 9-Euro-Tickets, Bürgergeld, Anhebung der Regelsätze, Kindergrundsicherung, Gaspreisdeckel oder gar so etwas Grässliches wie Übergewinnsteuer oder einmalige Gewinnabgabe.

Von Stammtischen und Bierdeckeln

Die kalte Progression. Am Stammtisch (weil da nur Bierdeckel liegen, auf die nicht viel draufpasst) gern mit dem Beispiel beschrieben, dass jemand eine Gehaltserhöhung von 300 Euro kriegt und am Ende fünfzig Euro weniger Netto hat. Richtig ist, genau das kann passieren. Und über den Rand des Bierdeckels hinausgeschrieben heißt es: Wenn die Einkommenssteigerung zu einer Verringerung des Realeinkommens führt, weil nach Steuerabzug diese Steigerung nicht höher ist als die Inflationsrate, werden Steuerpflichtige mit höheren Einkommen weniger belastet als jene mit niedrigen oder mittleren Einkommen. Falsch ist, dass Lindner an DER Schraube wirklich drehen will.

Foto: shouplade auf Pixabay

Im Oktober 2020 veröffentlichte die Bundesregierung den letzten Bericht über die Auswirkungen der kalten Progression. Im kommenden Herbst ist der nächste zu erwarten. Ist also nicht so, dass sich niemand mit dem Problem beschäftigt. In Bierdeckelübersetzung hieß der dazu passende Wahlkampfslogan oft »Mehr Netto vom Brutto«. Hätte man auch, wenn es weiterhin ein 9-Euro-Ticket gäbe, aber so läuft der Hase nicht. Denn ein 9-Euro-Ticket ist laut Lindner eine Steilvorlage für die um sich greifende »Gratismentalität«. Mit so einem Ticket kommt ja sogar der Plebs bis nach Sylt.

Christian Lindner will uns beibiegen, dass sein Vorschlag, im Gegensatz zu einer möglichen kreditfinanzierten Kompensation der sich aus den Krisen der Gegenwart vergrößernden Unwuchten, die viel bessere Variante ist. Grüne und SPD sind skeptisch. Denn ihr Markenkern beinhaltet zumindest noch auf dem Papier, dass es nicht gut ist, Maßnahmen zu ergreifen, die vor allem Besser- und Vielverdienende entlasten. Es bliebe ja, dass der Spitzensteuersatz von 42 Prozent, der ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 58.597 Euro greift, auch dann noch gilt, wenn das zu versteuernde Einkommen beispielsweise 300.000 Euro beträgt (wer jetzt an die einstige Intendantin des RBB denkt, findet das vielleicht doppelt und dreifach nicht schön). 14 Prozent Steuern zahlt, dessen oder deren zu versteuerndes Einkommen mehr als 10.347 Euro umfasst. Rechnet man das durch zwölf, kommt man auf ein monatliches Einkommen von 862,25 Euro. Wieso, ließe sich fragen, soll man von diesem Geld, das zu keinem Leben hierzulande reicht, noch Steuern zahlen? Lindner glaubt allen Ernstes, diese Frage wäre obsolet, setzte sich sein Vorschlag durch, den Eingangssteuersatz erst ab einem Einkommen von 10.933 Euro zu berechnen. Das kommt einer Erhöhung des ALG-II-Regelsatzes um monatlich drei Euro ziemlich nahe.

Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, kritisierte kürzlich, dass Lindners 10-Milliarden-Euro Entlastungspaket vor allem jene entlaste, die gar nicht darben. 70 Prozent dieses Geldes kämen den 30 Prozent mit den höchsten Einkommen zugute. Wieso ist Marcel Fratzscher nicht Finanzminister?

Der Sozialdemokrat Olaf Scholz bleibt erst mal dabei, seinen Nachfolger im Amt zu loben. Der mache das schon fein. So ungefähr. Womit man wieder bei der Frage landet, auf welchen Deal es am Ende zwischen den Koalitionspartner:innen hinauslaufen wird. Was schenkt Lindner, um seinen Markenkern ausreichend zu schützen und auszubauen? Es wird wahrscheinlich auf eine homöopathische Dosis hinauslaufen.

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Kathrin Gerlof
Kathrin Gerlof ist Chefredakteurin der Wirtschaftszeitung OXI, Filmemacherin, Texterin und Schriftstellerin. „Nenn mich November“ ist der Titel ihres jüngsten, im Aufbau-Verlag erschienen Romans. Als freie Journalistin schreibt sie für verschiedene Medien.

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