Eine Vielzahl von Ankündigungen und Deutungen besagt: Im Winter zieht eine schwere Rezession herauf: Stagnierendes beziehungsweise rückläufiges Wachstum während wenigstens zweier Quartale im Vergleich zu vorausgegangenen Zeitabschnitten; also dünner werdende Orderbücher, schrumpfende Aufträge, schrumpfende Produktionen, fallende Auslastung, ungenutzte Arbeitskraft, fallende Beitragszahlungen und Steuern. All das käme zu explodierenden Energiekosten, hoher Inflation, steigenden Zinsen und Kriegsangst hinzu. Fallen Land und Leute in die Vergangenheit zurück? Einige Hinweise auf Fortschritte.
Vor 45 Jahren hat die damalige Wochenzeitung Vorwärts ein Büchlein auf dem Markt gebracht, das den Titel hat: „Arbeitslosigkeit ist kein Schicksal“. In diesem Büchlein wurde eine Sammlung kritischer Beiträge zur Arbeitsmarktpolitik der siebziger Jahre publiziert. Das Buch war eine – wenngleich nicht besonders laut gespielte – Ouvertüre zu einer Epoche der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland. Damals lag die jahresdurchschnittliche Zahl der Arbeitslosen um 1 Million Menschen.
In den Konjunkturzyklen bis Mitte der siebziger Jahre sank die Arbeitslosigkeit im Aufschwung nach der Rezession in Richtung Vollbeschäftigung (Arbeitslosenquote um 1 Prozent). Diese Mechanik funktionierte ab 1975 einfach nicht mehr. Auch während wirtschaftlicher Aufschwünge nahm die Arbeitslosigkeit nicht oder in zu geringem Umfang zu. Ein Charakteristikum war, dass die steigenden Zahlen der Arbeitsuchenden den Investitionsziffern, den Produktionszahlen und Absatzstatistiken stets vorausliefen. Arbeitslosigkeit wurde „Frühindikator“.
Massenarbeitslosigkeit, die Geißel schlechthin
Zwischen 1977 und 2005 hat sich die Zahl der arbeitslosen Menschen verfünffacht: in weniger als dreißig Jahren, also binnen einer knappen Erwerbs- Generation. Die Massenarbeitslosigkeit war in Deutschland die Geißel schlechthin damals. Parteitage, Gewerkschaftstage, Kirchentage – sie alle beschäftigten sich mit der Massenarbeitslosigkeit. Auch mit Untertönen der Verzweiflung.
In den siebziger Jahren und später wurden Schulzeiten verlängert, staatliche Nachfrageprogramme aufgelegt, kollektive Ausbildungsmöglichkeiten ausgeweitet, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes von 12 auf 36 Monate verlängert, die wöchentliche Arbeitszeit verkürzt, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Hunderttausende angelegt: Brücken in erneute Arbeitslosigkeit. Die Geringbeschäftigung stieg bereits in den später neunziger Jahren auf fast sechs Millionen Menschen an. Dennoch stieg die Massenarbeitslosigkeit immer weiter.
Verzweiflung und Grauen vor der Zukunft hockten in Millionen Familien. Die Fachleute waren ratlos. Der Sozialstaat „bettelte“ noch Anfang der Nuller-Jahre Unternehmen an, doch endlich Geld anzunehmen (Lohnsubventionen), um die Beschäftigung zu erhöhen. Vergeblich.
Das Wort Massenarbeitslosigkeit ist nahezu aus der Diskussion verschwunden. Arbeitslosigkeit ist kein Frühindikator mehr. Diese Tage hat die neue Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles erklärt, trotz vieler schlechter Nachrichten sähen die Arbeitsmarktzahlen gut aus. Die FAZ wunderte sich am 31. August: „Der Krieg in der Ukraine, die gestiegenen Energiepreise, die Sorge vor einem Gasmangel: Am Arbeitsmarkt schlägt sich all dies bislang kaum nieder.“
Was ist da geschehen?
Es ist offenkundig, dass der radikale Umbau der damaligen Bundesanstalt für Arbeit in viele lokale Arbeitsagenturen Erfolge erzielt hat. Das hat gedauert, aber am Ende ist der Erfolg nicht zu übersehen.
Es war ferner richtig, die Arbeitsförderung und die berufliche Weiterbildung wieder und wieder an neue Lagen anzupassen.
Unternehmen, Betriebsräte und Staat haben vor allem gelernt, dass die Kurzarbeit durchfinanzieren weitaus besser ist – auch um ökonomische Ziele zu erreichen, als in der Krise Beschäftigte zu feuern und später wieder anzuheuern. Das ist ein enormer praktischer und auch gesellschaftlicher Fortschritt. Hemmende und lähmende Angst wegen der beruflichen Zukunft ist nicht verschwunden, sie ist aber wesentlich geringer geworden.
Hierher gehört auch das „neue Netz“ der Mindestentgelte von 12 Euro. Die Bereitschaft von Millionen Beschäftigten, sich für zukünftige Aufgaben zu qualifizieren ist hoch geblieben.
Sodann spielt eine wesentliche Rolle, dass Arbeitskräfte knapp geworden sind.
Sozialpolitisch hat sich insgesamt vieles zum Besseren verändert. Die Produktivitätsbasis in Deutschland ist nicht erodiert. Sie ist auch während der Pandemiejahre intakt geblieben. All das gibt Hoffnung, dass eine im Winter anstehende Rezession sozial besser bewältigt wird als frühere gravierende Einbrüche der Wirtschaft.
Der Sozialstaat hat wesentliche Aufgaben sehr ordentlich gelöst. Jetzt kommt es auf die andere Seite an: Eine Transformation in Richtung Verzicht auf Fossiles voranbringen; neue Formen der Rohstoffsicherung finden; der Inflation wieder Herr werden. Und vieles andere mehr.