Balance von Freizeit und Arbeit, der perfekte, ausgeglichene und „achtsame“ Geist – Berge von Ratgeberliteratur, ganze Industrien von Fitnessstudios, Wellnessfarmen, Yoga-Schulen und Lebensberatern beuten diese Manie der Selbstperfektionierung aus, die enorme Energien bindet und den Einzelnen in ein endloses Rennen um Vollkommenheit schickt. Die digitalen „sozialen“ Medien befeuern diesen Trend durch visuelle Dauerpräsenz, die Auflösung der Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem und einem kontinuierlichen Strom von Kommunikation, dem sich kaum einer entziehen kann.
Der Journalist und Autor Will Storr versucht in seinem unterhaltsamen, aber auch durchaus informativen Buch „Selfie. How the West became self-obsessed“ dieser Kultur der Selbstbezogenheit auf den Grund zu gehen. Das Thema hat ja schon ganze Kohorten von Sozialpsychologen, Soziologen und Historikern beschäftigt, man denke etwa an Max Webers berühmte Arbeit über die „Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ oder die Studien von Michel Foucault zur „Sorge um das Selbst“.
In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts haben die Thesen des Soziologen Ulrich Beck zur „Individualisierung“ der Lebensführung großes Aufsehen erregt. Zuletzt hat Andreas Reckwitz mit seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ große mediale Resonanz ausgelöst. Auch Spitzenpolitiker wie Olaf Scholz haben sich das als Urlaubslektüre eingepackt.
Will Storr lokalisiert die Kultur der Selbstbezogenheit und das perfektible Selbst mit all seinen Erscheinungsformen und Konsequenzen vor allem in der westlichen Kultur. Die Anfänge der gegenwärtigen Selbst-Besessenheit sieht er im antiken Griechenland. Dort ist die Idee des Strebens nach Vollkommenheit an Körper, Geist und Tugend zur zentralen Norm geworden. Der antike Sport, die Tugendlehre, auch das Verständnis der Politik als eine Sphäre jenseits des Privaten sind Ausdruck dieser Haltung. Dass all dies nur für die wenigen Freien, nicht für die unteren Stände und die Sklaven galt, tat der Strahlkraft dieser Idee bis heute keinen Abbruch. Folgt man Storr, waren viele Kernelemente der modernen kapitalistischen Kultur mit allem, was sie im Guten wie im Schlechten auszeichnet dort im Keim schon vorgebildet, eine These, die in etwas anderer Form ja auch ein zentrales Motiv der „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer ist. Interessant ist der Hinweis, dass sich diese so folgenreiche Ausrichtung der griechischen Kultur auch der Geographie und Topographie Griechenlands verdankt. Storr zitiert hier Arbeiten des Historikers Richard Nisbett, der die zentrale Bedeutung von Personalität im griechischen Denken auch in der dezentralen Struktur der griechischen Gesellschaft mit ihren selbstständigen und miteinander rivalisierenden Stadtstaaten begründet sieht. Anders als etwa China, wo eine relativ homogene, leicht zu durchquerende Landmasse zentralistische Herrschaftsformen mit einer Kultur der Konformität begünstigte, hatte Griechenland mit seinen Inseln, zerklüfteten Bergzügen und schwierigen Verkehrsverhältnissen eine sehr komplexe Geographie. Dadurch entstanden vielfältige Lokalidentitäten, der Fernhandel, die nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell prägende Seefahrt und das hohe Prestige wagemutiger, unternehmerischer oder kriegerischer Einzelner (oft beides gleichzeitig).
Zerfall der Gemeinschaftsideen
In sieben sehr locker und anekdotenreich geschriebenen Kapiteln beschreibt Storr die verschiedenen Dimensionen des modernen Selbst – das „tribale“ Selbst als Basis von Gruppenzugehörigkeit, wie es sich in Jugendgangs zeigt, das Selbst als latente Quelle des Bösen und der Sünde, wie es im christlichen Glauben zum Motiv religiöser Dauerbesinnung und Schuldverarbeitung wurde und das gute Selbst, wie es in den USA zum Ausgangspunkt von Therapiebewegungen, etwa der Gesprächstherapie von Carl Rogers wurde. Die USA waren im 20, Jahrhundert so etwas wie ein Brutkasten für immer neue Selbstkonzeptionen. Die ausführliche Diskussion dieser Entwicklung gehören zu den spannendsten Teilen des Buches von Storr. Er interpretiert das Aufkommen der Leitidee des auf sich gestellten, positiv gestimmten Selbst als Ergebnis des Zerfalls der Gemeinschaftsideen, wie sie die USA noch im New Deal der 30er Jahre und der „Großen Kontraktion“ des Fächers von Einkommensunterschieden in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg charakterisiert haben mit dem Entstehen von Massenwohlstand, Mittelschichten, in die auch Industriearbeiter aufsteigen konnten, und einer allgemeinen, auch kulturellen Nivellierungstendenz in der Gesellschaft, die man auch mit dem Begriff des „Fordismus“ bezeichnet hat.
Diesem wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus erwuchs im Neoliberalismus, wie er von August von Hayek, der von ihm mitgegründeten und nach einem Berg in der Schweiz benannten „Mont-Pélerin-Gesellschaft“ und seinen Anhängern vertreten wurde, ein machtvoller Gegner. Wohlfahrtsstaatliche Fürsorge galt hier als latente Gefahr für die Freiheit. Man kämpfte für die Restituierung von Selbstverantwortung, den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft und die freie Verfügung über das Eigentum.
Storr zeigt, dass zwischen der Offensive liberaler Ökonomen und der neuen Therapiebewegung nicht nur eine lose Wahlverwandtschaft bestand. Vielmehr gab es wohl durchaus auch personelle Verflechtungen mit einzelnen Protagonisten des Neoliberalismus.
Der Lebensstil des spätmodernen Subjekts in der neuen Mittelklasse ist vom Ideal der Selbstverwirklichung in möglichst allen seinen alltäglichen Praktiken geprägt. Dabei geht es jedoch nicht um eine Selbstverwirklichung, die sich in Opposition zur modernen Welt vollzieht; sie soll vielmehr sozial erfolgreich und anerkannt in dieser Welt stattfinden.
Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Bonn 2018: Sonderausgabe der für die Bundeszentrale für politische Bildung, S. 289
Framing für die neoliberale Revolution
Eine wichtige geistige Relaisstation der neoliberalen Wende der Kultur war Storr zufolge die russischstämmige Autorin Ayn Rand, die in ihren in Millionenauflage verkauften Büchern in den fünfziger und sechziger Jahren eine ungezügelte Verfolgung individueller Interessen als einzige ethisch gerechtfertigte Handlungsweise propagierte. Gemeinschaftsnormen und ein umverteilender Sozialstaat führen nach Rand nur in Korruption und Selbstverleugnung. Der später von Ronald Reagen als Präsident der amerikanischen Notenbank installierte Alan Greenspan war, wie man bei Storr erfährt, ein Schüler von Ayn Rand. Greenspan hat bekanntlich die Deregulierung des US-Finanzmarkts vorangetrieben, was der Finanzindustrie enorme Wachstumsschübe brachte, allerdings auch die Grundlage für spekulative Übertreibungen legte, die schließlich 2008 in die Weltfinanzkrise mündeten.
Die obsessive Beschäftigung mit dem Selbst stellt in der Darstellung von Storr so etwas wie ein „Framing“ für die neoliberale Revolution dar, die in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts in den Universitäten und Think-Tanks auf beiden Seiten des Atlantiks vorbereitet wurde, um dann im letzten Viertel des Jahrhunderts den Durchbruch zu erzielen. Es gehört zu den Paradoxien dieser neoliberalen Revolution, dass auch der Nonkonformismus der Hippies, die Hinwendung sozialer Bewegungen zu Rassen- und Genderfragen und nicht zuletzt eben auch die Psychomoden der Zeit dazu beitrugen, die Gemeinschaftsideen, die die „Große Kontraktion“ getragen haben zu unterminieren, etwa, indem sie Identitätsfragen an die Stelle von Klassenfragen rückten.
Man könnte das Ganze als große Verschwörung des Neoliberalismus sehen. An manchen Stellen hat man den Eindruck, dass Storr einem solchem Gedanken nicht ganz fernsteht. Gerade in Deutschland wäre das Publikum sicher dankbar, einen weiteren Beleg für die Schurkereien des Neoliberalismus zu bekommen. Der Sache würde man aber so sicher nicht gerecht. Die von Storr beschriebenen Entwicklungen waren ja immer auch Reaktionen auf Defizite des „fordistischen“ Gesellschaftsmodells – von der Ressourcenverschwendung und Umweltzerstörung über die enorme Staatsverschuldung bis hin zu den massiven Benachteiligungen, denen all jene ausgesetzt waren, die nicht im Wohlfahrtssystem integriert waren. Das Modell der „Großen Kontraktion“ ging auch an den eigenen Widersprüchen zugrunde.
Pathologisches Potential
Folgt man Storr, ist die neoliberale Revolution noch keineswegs beendet. Sie spitzt sich im Zeitalter der Digitalisierung vielmehr weiter zu. Private Daten- und Technologiekonzerne, überwiegend im kalifornischen Silicon Valley beheimatet, haben inzwischen mehr Macht als viele Staaten. In den digitalen Milieus bilden ultralibertäre Positionen in der Tradition von Ayn Rand, wie sie etwa von den Paypal-Gründern Peter Thiel und Elon Musk vertreten werden, Symbiosen mit einer grenzenlosen Technologiegläubigkeit, einer radikalisierten Diversitäts- und Identitätspolitik und einem durch die „sozialen Medien“ reproduzierten und verstärkten selbstbezogenen Habitus. Storr zeigt, dass diese auf den Blick erst einmal ganz unterschiedlichen Facetten der gegenwärtigen Kultur doch wie Puzzlestücke zusammenzupassen scheinen, Aspekte eines sozialen und kulturellen Systems, in denen die Codes der Kulturen bei aller Unterschiedlichkeit doch sehr wirksam ineinandergreifen.
93 Millionen „Selfies“ werden, berichtet Storr, pro Tag alleine mit Android-Smartphones geschossen. Facebook, Instagram und Co. verbinden zwar virtuell alle mit allen, in Wirklichkeit aber fragmentieren und zerstören sie die Öffentlichkeit. Jeder ist mit sich und seinem Echoraum alleine. Es bleibt die unendliche Arbeit am Selbst und die Suche nach der Kontrolle des eigenen Lebens.
Bei aller eindrucksvollen Dynamik birgt diese Welt doch ein hohes pathologisches Potential. Glück entsteht, wie Storr zeigt, so nicht. Gelassenheit und ein Stück Demut könnten, so meint er, ein Gegengewicht gegen die Hybris des perfekten Selbst bieten. Ob das reicht?
Storrs Buch liefert keine Theorie für die Entwicklung, die er beschreibt, auch kein Rezept, wie der Kult des Selbst überwunden werden könnte. Es sind sozialpsychologische Reportagen mit viel „Human Touch“, aber immer wieder sehr interessanten Informationen. Es liegt in der Natur des Genres, das Wirken von einzelnen Personen in den Vordergrund zu rücken und Fragen von Strukturen eher auszublenden. Hochkomplexe gesellschaftliche Entwicklungen schnurren damit schnell auf die spannenden Plots einzelner Schlüsselakteure zusammen. Das macht Texte spannend, aber auch suggestiv für Leser, die einfache Erklärungen für komplexe Zusammenhänge suchen. Der moderne Kult des Selbst als Resultat eines abgekarteten Spiels dunkler neoliberaler Mächte? Das würde dem Gegenstand wohl kaum gerecht. Hier werden Grenzen des Genres erkennbar. Aber das muss den Spaß an der Lektüre nicht schmälern.
Will Storr: Selfie. How the West became self-obsessed. London 2017 (2. Auflage 2018): Picador,
368 Seiten, 12,30 €, ISBN 978-1-4472-8366-9