Plädoyer für den guten Ruf des Zorns

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Der Zorn hat keinen guten Ruf. Wenn bis vor kurzem davon die Rede war, erweckte das Wort in uns allenfalls antiquierte Assoziationen wie den »Zorn Gottes« oder wir haben das Wort im Sinn von Jähzorn gebraucht, einer Unbeherrschtheit, die wir allenfalls widerspenstigen Kindern zubilligen. Zu beobachten ist: wo es zu individuellen und kollektiven Zornesausbrüchen kommt, treten häufig Begriffe wie Wut und Empörung an die Stelle des Zorns. Wut und Empörung – so etwas wie die mutlosen Schwestern des Zorns?

Der Gebrauch des Wortes Zorn bleibt häufig unscharf. Da hilft vielleicht, die Sache selbst etwas schärfer zu fassen. Zorn ist zunächst ein Stellvertreter für ein weites Feld von Emotionen. Wie kann man aber dieses Feld einteilen? Wie verhalten sich zum Beispiel Wut, Hass und Zorn zueinander? Sind es Synonyme oder bezeichnen sie klar definierbare Unterschiede im Gefühl? Stehen Ärger, Empörung, Wut und Zorn vielleicht in einem Steigerungsverhältnis zueinander? Wann aber ist der Zorn ein gerechter? Wann ist er blind und destruktiv? Wann nur Attitüde und Pose – wann Ausdruck einer Haltung?

Vom Volkszorn und seiner Zähmung

Zorn ist allgegenwärtig. Er ist ein Bestandteil unserer Existenz. Solange er individuell daherkommt, mag er für die Nächsten eine Plage sein, aber er erschöpft sich im Privaten. Anders verhält es sich mit dem kollektiven Zorn, seine Dynamik hat die Kraft der Rebellion, die nicht unbedingt auf Ausgleich und ein friedliches Ende aus ist. Jede Gesellschaft – die politische Herrschaft ohnehin – bemüht sich um die Zähmung des Volks-Zorns. Riskant wird es für die Mächtigen dort, wo das gemeinsame Erlebnis den Zorn aus dem Käfig der privaten Einsamkeit befreit, wo sich Protest und Parolen verdichten, wo Rufe lauter und Forderungen radikaler werden.

Schon das Verhältnis zwischen Empörung und Zorn ist eindeutig nicht einfach zu bestimmen. Beide Gefühle sind eng benachbart und können ineinandergreifen. Christoph Demmerling und Hilge Landweer, die sich in ihrem Buch Philosophie der Gefühle[1] mit dem Zorn und anderen Aggressionsaffekten beschäftigt haben, nennen einige hilfreiche Kriterien zur Differenzierung. »Das Gefühl des Zorns muss ein personales Objekt besitzen, es muss jemanden geben, dem gezürnt wird. Sodann sind es im Fall des Zorns häufig der Zürnende selbst oder zumindest ihm Nahestehende, die durch das Unrecht geschädigt wurden, um derentwillen Zorn empfunden wird. Beide Bedingungen gelten für Empörung nicht unbedingt.« Während also Empörung noch vage sein kann in der Zuschreibung von Verantwortung und kausaler Zuständigkeit, übertroffen nur noch von einer diffusen »Betroffenheit«, muss im Zorn – so die Autoren – der Gegner bereits identifiziert sein. Denn: »Gezürnt werden kann nur jemandem«.

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Was aber die Empörung auslöst, die Wut aufkommen lässt und den Zorn mobilisiert, das wiederum scheint auch mit unseren jeweilig gesellschaftlich grundierten Erfahrungen von Moral verbunden zu sein. Und die Moral, das wissen wir, ist eine prekäre Angelegenheit. Sicher: jeder Begriff von Norm setzt bereits eine Generalisierung voraus, aber für den Einzelnen können diese ganz unterschiedliche Autorität besitzen. Voraussetzung ist die subjektive Handlungsfreiheit, die Fähigkeit eines Menschen, zu erkennen, zu beurteilen, ob etwas seinen Moralvorstellungen zufolge richtig ist, und entsprechend zu handeln. Es ist die Fähigkeit, Nein zu sagen.

Die subjektiven Gefühle und Handlungsmaximen freilich sind kaum zu vereinheitlichen: wo der eine augenblicklich in Wut gerät, ein anderer sich öffentlich lauthals empört, konstituiert sich bei einem weiteren nichts als kühler Zorn. Wut, darauf weist auch Wolfgang Sofsky in seinem erhellenden »Buch der Laster«[3] hin, mag ungestüm, laut und maßlos sein, aber sie verpufft oder verraucht auch rasch. »Wut ist ein Ereignis, eine Eruption. Sie reißt mit großer Geste alles um, schlägt mitunter blind um sich. Wut ist wie ein heftiger innerer Überfall. Anders der Zorn. Er hat einen langen Atem.« In unserem Kulturkreis ist durchaus eine klare Zuordnung erkennbar: Hass gilt »fast immer als schlecht, Wut als unbeherrscht, Zorn dagegen kann ›gerecht‹ sein«. Im allgemeinen Werteempfinden wird dieser »gerechte Zorn« durchaus akzeptiert.

Wut ist ein Ereignis, eine Eruption. Sie reißt mit großer Geste alles um, schlägt mitunter blind um sich. Wut ist wie ein heftiger innerer Überfall. Anders der Zorn. Er hat einen langen Atem.

Klima-Katastrophe, Kriege, Flucht, Hunger – an Zorn-Anlässen besteht kein Mangel. Es findet sich eine neue Art von Volkszorn, die von den politischen und wirtschaftlichen Eliten gerne als zerstörerische Energien junger Menschen missverstanden – oder denunziert? – wird. Wer den Protest-Bewegungen wie Friday for future das Politische und das Soziale abspricht, der ignoriert die produktive Potenz des Zorns – individuell und gesellschaftlich. Gilt das auch für die Randale militanter Polit-Hooligans, die unter wechselnden Namen und Parolen als neuer Prototyp des Zornigen die politische Arena betreten? Capitol-Erstürmung, Pegida-Pöbler oder Corona-Leugner: die »Protest-Legitimation« des wütenden Wutbürgers speist sich aus seiner Wirklichkeitsverleugnung und aus den kollektiven Echo-Räumen, in denen er sich mit Gleichgesinnten dauererregt austauscht und seinen Wut-Akku auflädt.

Zwischen Panik und Paranoia

Wir erinnern uns: Als letzte nationale Hoheitszeichen schwenkten in deutschen Städten rechtslastige Pegida-Wutbürger Montag für Montag schwarz-rot-goldene Fahnen und brüllten nationale und faschistoide Parolen: »Deutschland gehört uns!« und »Ausländer raus!«. Ein Protest-Event zwischen Panik und Paranoia. Ging es hier um die in der eigenen Heimat empfundene Heimatlosigkeit, um Globalisierungsfurcht? Kurz, um Verlust- und Verliererängste. Der britisch-indische Autor Pankaj Mishra versucht in seinem Buch Das Zeitalter des Zorns[2] eine Erklärung dafür, wie diejenigen, die im Prozess der Globalisierung nicht zu den Gewinnern gehören, anfällig für Demagogen sind. Alle, die zurückgelassen werden und sich ausgegrenzt fühlen, reagierten immer auf die gleiche Weise: mit Hass auf erfundene Feinde, dem Heraufbeschwören von Untergangs-Szenarien und der Selbstermächtigung durch Gewalt. Das Fremde wird als Bedrohung erlebt. Daraus resultiert Angst, Wut und Protest.

Halten wir fest: Der Zorn kommt in vielfältiger Gestalt daher und ist beileibe nicht immer produktiv und zukunftsorientiert. Er kann Ausdruck sowohl einer kritisch-produktiven Geistes- und Emotionshaltung sein, die sich mit der Welt und ihren Zumutungen so nicht abfinden und befrieden will, aber auch Ausdruck einer Haltung, die oft den Nebenschauplatz, etwa einer verlorenen geglaubten Kultur, zum Hauptkampfplatz macht. Wut und Hass haben keine gesellschaftliche Verortung, sie sind politisch heimatlos. Aber sie sind beinahe immer fanatisch, egomanisch und destruktiv.

Es geht also darum, die produktiven Seiten des Zorns sichtbar zu machen und den Zorn vom Makel des Destruktiven zu befreien. Kurzum, es ist höchste Zeit, den guten Ruf des Zorns wieder herzustellen und zu verteidigen. Zorniger Geist verachtet Dummheit, Gewalt und Terror. Er setzt nicht auf blinde Gewalt, sondern andauernden Disput, auf konstante Auseinandersetzung. Zorn, heißt es bei de Tocqueville, »kann man nicht einsperren, teilen oder exportieren«. Zorn sucht den konstruktiven, oft auch zähen Diskurs. Deshalb ist er für unsere Demokratie so unerlässlich.

Quellen:

[1] Demmerling, Christoph / Landweer, Hilge, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007
[2] Mishra, Pankaj, Das Zeitalter des Zorns – Eine Geschichte der Gegenwart, Frankfurt 2017
[3] Sofsky, Wolfgang, Das Buch der Laster, München 2009

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Helmut Ortner
Helmut Ortner hat bislang mehr als zwanzig Bücher, überwiegend politische Sachbücher und Biografien veröffentlicht, Zuletzt erschienen: Widerstreit: Über Macht, Wahn und Widerstand und Volk im Wahn - Hitlers Deutsche oder Die Gegenwart der Vergangenheit (April 2022). Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt.

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