Winnetou ja oder nein – beim gegenwärtigen Postkolonialismusdiskurs können BILD-Zeitung und Didi Hallervorden locker mithalten. Wer dieses Niveau überschreiten will, dem kann mit Pikettys neuem Buch geholfen werden, handelt es doch von der Gleichheit und kreist es diesen Begriff negativ ein. Den die Gleichheit hintertreibenden Mächten spürt das Buch nach, in der Geschichte und in der Gegenwart. Wobei sein Grundtenor ein optimistischer ist. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, mit der Französischen Revolution also, ist die Tendenz, überkommene Ungleichheit aufzuheben, gesetzt.
Lesen und schreiben konnten damals kaum zehn Prozent der Weltbevölkerung; heute sind es 85 Prozent. Wer arm war, dessen Lebenserwartung lag noch unter dem weltweiten Durchschnitt von 26 Lebensjahren; ein heutiger Mensch wird dagegen statistische 72 Jahre alt. Die Bildungsausgaben der Nationen verzehnfachten sich im genannten Zeitraum. War die als Mittelstand firmierende Gesellschaftsschicht noch zum Beginn des 20. Jahrhunderts quasi inexistent, stellt sie in den Ländern des globalen Nordens gegenwärtig die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder. Man ist abhängig beschäftigt, ja, aber keineswegs arm. Ein qualifizierter Arbeiter oder Angestellter besitzt ein Vermögen (inklusive Wohneigentum) zwischen 100.000 und 400.000 Euro pro Person.
Pikettys Forschungsergebnisse sind so außerordentlich wertvoll, weil er Archivmaterial auswertet, das es erst neulich zu seiner Digitalisierung geschafft hat. Die Klassenstruktur entwickelter Industriestaaten bildet sich in dieser Empirie ab. Fallen auf die qualifizierten Arbeitskräfte 40 Prozent des gesellschaftlichen Eigentums, muss sich die ärmste Schicht mit fünf begnügen und darf sich die oberste Schicht an 55 Prozent erfreuen. Gegenüber der europäischen Schichtung fällt die US-amerikanische deutlich ab: Hier kommen die Ärmsten auf zwei, die Mittelschicht auf 26 und die Reichen und Schönen auf 72 Prozent des nationalen Eigentums.
Deutsche Wissenschaftler:innen sind nicht dabei
Piketty zitiert Studien einer internationalen Scientific Community, die in renommierten Verlagen veröffentlicht Die Cambridge University Press, die Princeton University Press, die Presses de Science Paris seien genannt. Es ist eine interdisziplinär arbeitende Gruppe von Geschichtswissenschaftlern, Ökonomen, Soziologen, Juristen, Politikwissenschaftlern und Anthropologen; ihr sieht sich Piketty zugehörig. Die Wissenschaftler kommen aus aller Herren Länder, nur deutsche sind keine dabei. Ein Zeichen von Provinzialität?
Vielleicht sind die bisherigen Forschungsergebnisse ursächlich für den vornehmen Abstand, den die deutschen Volkswirte und ihre Wirtschaftsinstitute, das Ifo, das RKI und das DIW, halten. Denn die von Piketty zitierten Untersuchungen machen auf einen unschönen Zusammenhang aufmerksam, unschön, wenn man die Welt aus der Brille eines arbeitgebernahen Institutes sieht. Es sind die Spitzensteuersätze beim Einkommen- und bei den Erbschaften gewesen, die zur Dekonzentration des Eigentums sehr beigetragen haben. Piketty kann das sehr schön an Hand von Nachlassarchiven für die Zeitreihe von 1918 bis 1980 zeigen. Ein auf Umverteilung basierender Gesellschaftsvertrag? Damit kann ein deutscher Wirtschaftsweiser seinen Auftraggebern nicht kommen.
Und es kommt für ihn noch dicker. Die Gewerkschaften, so steht es in diesem Buch, haben eine maßgebende Rolle gespielt, um die vorherrschenden Ungleichheiten abzuschaffen. Der Verfasser empfiehlt gar das deutsche Modell der industriellen Beziehungen, die paritätische Besetzung des Aufsichtsrats, um die demokratisierende Entwicklung der Vergangenheit in die Zukunft des vereinten Europas fortzuschreiben. Kann die hiesige VWL sich solche Sätze zumuten? Vermutlich wird sie das Buch gar nicht lesen (während die EZB unter Frau Lagarde den französischen Autor zum Vortrag nach Frankfurt einlud).
Thomas Piketty: Eine kurze Geschichte der Gleichheit.
Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer
C. H. Beck 2022, 264 S., mit 41 Grafiken und Tabellen, 25,00 € | 978-3-406-79098-0
Ungleiches ungleich behandeln
Nur als Steuerstaat befinden sich ein Nationalstaat auf dem Weg zu mehr Gleichheit seiner Bürger. Die gewissenhaft erhobene und überprüfte jährliche Steuerzahlung geht der Erfindung des Sozialstaates voraus. Dann muss der Steuertarif progressiv werden, damit es zu kostenloser Schulbildung und allgemeiner Krankenversicherung kommt. Gleicher Zugang zu den Grundgütern Bildung und Gesundheit korreliert also mit Spitzensteuersätzen von bis zu 50 Prozent. Ungleiches sei ungleich zu behandeln, steht schon in der Politeia von Aristoteles. Aber erst das 19. Jahrhundert hat diese Idee steuerrechtlich gewendet und die großen Einkommen stärker belastet als die kleinen.
Das Gleichheitsprinzip der Französischen Revolution brauchte den fiskalischen Unterbau. Der Anstoß, ihn zu errichten, ging nicht von den revoltierenden Bürgern, sondern von den revoltierenden Arbeitern aus. Auf die erstarkende Sozialdemokratie reagierten die Bismarcks der sich entwickelnden Industrienationen mit den staatlichen Versicherungskassen. Die dem Manchesterkapitalismus eigene Zerrüttung der Arbeitskraft drohte sonst in eine neuerliche, diesmal proletarische Revolution umzuschlagen. Im zaristischen Russland machten die Bolschewiki die Drohung schon wahr. Der erste Weltkrieg hatte die europäischen Eliten delegitimiert. Um ihrer politischen und ökonomischen Abdankung zuvorzukommen, beugten sie sich den Forderungen ihrer sozialdemokratischen Widersacher. Besser Sozialstaat als Sturm auf Paläste und Reichstag.
Der Weg zur Gleichheit, ein Kampf, der gewonnen werden kann
Die so erzählte Geschichte ist bekannt, aber Piketty fügt der Erzählung seine Schlussfolgerung hinzu. „Der Sozialstaat und die Steuerprogression sind wirkungsvolle Instrumente einer Transformation des Kapitalismus“, heißt es bei ihm. Ist das nicht eine völlige Überhöhung reformistisch-sozialdemokratischer Politik? Ja, das ist eine Überhöhung – aber nur, wenn die alte Alternative noch greifbar wäre, die unter Anleitung einer Avantgardepartei agierende revolutionäre Massenbewegung. Piketty hat eine Institutionenlehre in praktisch-politischer Absicht geschrieben. Er will die bestehenden Institutionen, Rechtsinstitute, Steuerregeln, Wahlsysteme und Bildungseinrichtungen genutzt und verbessert sehen, um Diskriminierung abzuschaffen. Daher kommt der zupackende Duktus seiner Sätze: „Der Weg zur Gleichheit ist ein Kampf, der gewonnen werden kann.“
Es ist kein traditioneller Wirtschaftshistoriker oder Nationalökonom, der sich äußert, sondern ein politischer, der Geschichte in actu verpflichteter Kopf. Solche Intellektuelle gibt also noch in Frankreich. Sie fühlen sich „mitverantwortlich für unsere Zeit und ihre Parteiungen“. Merleau-Ponty könnte Piketty das Stichwort gegeben haben, datiert doch von ihm die Skepsis der französischen Linken gegenüber den Kommissaren der bolschewistischen Revolution. Piketty traut sich ins Getümmel, während die hiesige akademische Marxologie die Analyse der Wertform zum hundertsten Mal analysiert. Kein Glasperlenspiel also, sondern beispielsweise die Forderung nach Regeln für eine gerechte Parteien- und Wahlkampffinanzierung. Solche Regeln würden den Großspendern das die Öffentlichkeit in Beschlag nehmende Geschäft verunmöglichen und ihren Think Tanks das Niederwalzen störender Aufklärung.
Ein französischer Pragmatismus kontrastiert der rechtsrheinischen Bräsigkeit, die ihren Point d’Honneur gerade darin sieht, mit keinen reformistischen Vorschlägen aufzuwarten. Die Linkspartei sollte das Buch schleunigst in ihr Schulungsprogramm für angehende Abgeordnete aufnehmen. Pikettys Programm lautet, neue demokratische Räume zu öffnen. Klingt nach rhetorischer Floskel, aber das trifft bei ihm nicht zu. Hier heißt öffnen auch schließen: der Schlupflöcher für die Steuerhinterziehung zum Beispiel. Die von den G 20-Staaten beschlossene Mindestbesteuerung der Unternehmen mit 15 Prozent ist ein erster, bescheidener Schritt. Ein öffentliches Finanzkataster, auf nationaler wie auf internationaler Ebene, wäre ein weiterer. Die Nationalstaaten haben die Registrierung großer Eigentumstitel privaten, wenig transparenten Instituten übertragen. Pikettys Vorschlag: Wer seine Bilanz verschleiert und die geforderte Information nicht liefert, wird mit dem höchsten Steuersatz belegt. Der linke Flügel der US-Demokraten erhebt diese Forderung.
Rumeiern steht für strategische Not
Das Buch ist als Verweis auf den Zusammenhang zwischen fehlenden öffentlichen Geldern und fehlender politischer Gleichheit zu lesen. Die kostenlose Schulbildung, was ist sie noch wert, wenn die Schulen marode und die Lehrerschaft demotiviert sind? Die bessere Ausbildung kostet richtig Geld, das die Unterschicht nicht aufbringen kann, also schaffen es ihre Kinder nicht, das angestammte Milieu zu verlassen. Kann man sich mit dem durchscheinenden französischen Hintergrund, dem Problem in den Banlieues, beruhigen? Wohl kaum.
Auf welche gesellschaftliche Kraft setzt Piketty seine Hoffnung? Die fortschreitende Reform des Sozialstaats soll ja zu nicht weniger führen als zu einem demokratischen Sozialismus. Man muss sich vergegenwärtigen: Die Unterschicht ist klein und ökonomisch beinahe bedeutungslos. Die Oberschicht hat kein Interesse, den Status quo zu verändern, es sei denn, es springt ein neoliberaler Status quo ante für sie dabei heraus. Bleiben noch die beim Autor als Mittelschicht bezeichneten Angestellten. Wieviel Interesse haben diese in kommoder Abhängigkeit Beschäftigten an einer grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse? Die Idee blamiert sich, wenn sie mit dem Interesse nicht identisch ist, heißt es bei Marx. Einmal glaubte man, das verfolgte Eigeninteresse sei Wasser auf die emanzipatorischen Mühlen, und so war das ja gemeint. Längst hat der Satz aber seinen antinomischen Sinn enthüllt. Es bräuchte eine an der Idee der Gerechtigkeit orientierte Moral, damit die in Nord und Süd gespaltene Welt einen wirklichen Fortschritt verzeichnen könnte.
Der Mehrheitsgesellschaft der Industriestaaten hätte diese Moral nötig. Aber hätte, könnte, bräuchte – das Rumeiern steht für die strategische Not. Piketty flüchtet sich in Krisenmythologie. Die ökologische Krise ließe gar keinen anderen Ausweg zu, als ein die Kapitallogik einhegendes Handeln auf den Plan zu rufen. Das klingt wie die Kladderadatsch-Theorie der alten Arbeiterbewegung. Natürlich ist auch bei Piketty kein Stein der Weisen zu finden. Ihm dafür einen Vorwurf machen, fällt dem Rezensenten nicht ein. Zu stark sind die Vorzüge dieses Buchs, vor allem sein Charakter als Manifest eines das böse S-Wort nicht scheuenden Reformismus.
Unter dem Titel „Ein reformistisches Manifest“ erschien der Beitrag zuerst auf Glanz&Elend
Die Frage nach der Wertform ist keine marxologische Marotte. Ist verstanden worden, dass der Wert einer Ware im Austauschprozess erst als gesellschaftliche Arbeit anerkannt wird, weil die Ware nachgefragt und gekauft wird, so ist klar, dass dieser Warenwert die Geldform annehmen muss. Damit zeigt sich die Marxsche Werttheorie offen für das Fiat-Geld von J.M. Keynes und damit für die Möglichkeiten der Geldschöpfung aus dem Nichts.- Damit ist die Brücke geschlagen von der Werttheorie zur Keynesschen Geldtheorie – einem makroökonomisch begründeten Reformismus steht das Marxsche Wertgesetz nicht mehr im Weg. Marx Fixierung auf das Gold als metallische Grundlage des Geldes hatte den Reformismus noch blockiert. Die Wertformanalyse ist daher durchaus nützlich, auch wenn sie dem Reformisten als akademische Verschrobenheit vorkommt.
Nicht die Wertformanalyse hat der Autor parodiert (er findet sie unverzichtbar), sondern den Akademismus ihrer Wiederkäuer, die gerne das Wort Reformismus als Schimpfwort benutzen, um ihre politische Indolenz als Radikalität zu verkaufen.