Für den unermüdlich engagierten französischen Philosophen Bruno Latour wurde sein Memorandum „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“ zum Vermächtnis. Er starb 75jährig am 9. Oktober. Das Merkbuch mit 76 Punkten, das jetzt als Sonderdruck in der edition suhrkamp auf Deutsch erschienen ist, schrieb Latour zusammen mit dem 32jährigen Nikolaj Schultz von der Universität in Kopenhagen. Er mischte sich damit zu Beginn dieses Jahres in die französischen Wahlkämpfe um die Präsidentschaft und die Nationalversammlung ein, in denen Klimawandel und Klimakatastrophen, Ausstieg aus der Kohle-, Öl-und Gasproduktion, altersschwache Atomkraftwerke oder die Abkehr von der lobbystarken französischen Agrarindustrie praktisch keine Rolle spielten.
Von sehr weit rechts bis sehr weit links, von Eric Zemmour über Marine le Pen bis Jean-Luc Mélenchon, starrten die Kandidatinnen und Kandidaten auf die Umfragewerte und kaum auf politische Inhalte, dabei machtvoll unterstützt von den Medienkonzernen des Vincent Bolloré, der den Volksverhetzer Zemmour umgarnte. Wenig Ökologie auch bei den Sozialisten und den Europäischen Ökogrünen: Erbitterte, bis ins sehr Private gehende Personalquerelen sorgten für katastrophale Abstürze an den Rand der Bedeutungslosigkeit. Bis Mélenchon sie in seinem neuen Volksfront-Bündnis „Nouvelle Union Populaire Ecologique et Sociale“ (Nupes, gesprochen Nüpps) auffing.
Ein Hauch von Resignation
Latour, zutiefst beunruhigt über die große Unzufriedenheit in seinem Land, die hohe Zahl der Wahlenthaltungen und den Zerfall der traditionellen Parteien, schlug in dem Memorandum einen Ton an, den seine Landsleute eigentlich mögen und den ein Linksaußen wie der „Unbeugsame“ (La France Insoumise) Mélenchon trefflich beherrscht: Auf, auf zum neuen Klassenkampf, dem ökologischen. Doch Latour nannte niemanden beim Namen, der die Französinnen und Franzosen des Jahres 2022 in diesen Kampf führen soll. Die politischen Verhältnisse zu Beginn dieses Jahres blieben bei diesem sonst so scharfen analytischen und meinungsstarken Kopf nebelhaft. Auch das angefügte Nachwort, bei dem leider ein Datum fehlt, durchzieht ein Hauch von Resignation.
Wo aber ist Latours revolutionäres Subjekt im 21. Jahrhundert zu finden? Welche Klasse schwebt ihm vor, wenn es klare Zugehörigkeiten wie den Dritten Stand in der französischen Revolution, das Proletariat des 19. und 20. Jahrhunderts oder das liberale Bürgertum als festgefügte Klassen nicht mehr gibt? „Darüber, woraus die Klasse besteht, deren Teil man ist, herrscht generell Uneinigkeit“, heißt es im Merkpunkt 7. „Leute, die (in sozialer oder klassisch kultureller Hinsicht) derselben Klasse angehören, fühlen sich unter ihresgleichen als völlig Fremde, sobald ökologische Konflikte auftauchen“. Um eine ökologische Klasse entstehen zu lassen, „müssen Unterscheidungskriterien gefunden werden, die manchmal quer durch die traditionellen Klassenkonflikte verlaufen, und manchmal im Gegenteil sich sogar mit diesen überschneiden.“
Warum aber läuteten „Alarmglocken schon seit vierzig Jahren; seit zwanzig Jahren schrillen sie in den Ohren aller“ und doch hinke das Bewusstsein der Massen den ökologischen Bedrohungen hinterher? Sich für die Bewohnbarkeit der Erde einzusetzen, sage nichts zu den Bedingungen und gebe keine Antwort auf die Fragen zu Freiheit, Emanzipation, Sicherheit und Wohlstand. Von einer „strafenden Ökologie“ halten Latour & Schultz wenig. Ihre Leitidee für das neue Klassenbewusstsein ist:
„Die Welt, in der man lebt, von der abzutrennen, von der man lebt“.
Hinter dieser Idee ließen sich Alt und Jung, Wissenschaftlerinnen und Ingenieure, Bäuerinnen, Gärtner, Industrielle und auch jene versammeln, „die mit eigenen Augen zuschauen mussten, wie ihr Territorium verschwand.“ Sie alle könnten spüren, Teil dieser neuen Klasse zu sein, „auch wenn es ihnen vorerst schwerfällt, darin ihre Ideale zu erkennen. Wenn sie sich als Teil ein und derselben zivilisatorischen Bewegung fühlten, dann wäre schon viel gewonnen!“ So lautet der Schlusssatz im Punkt 45.
Aktivistische, Aufmerksamkeit suchende Protestformen
Wenn sie doch fühlten… Bruno Latour, der große intellektuelle Einmischer in Frankreich, verhehlte in seinem Memorandum nicht seine tiefe Skepsis: Das politische Leben habe einen Tiefpunkt erreicht, im öffentlichen Raum herrsche „grauenvolle Leere“: „Stumme sprechen zu Tauben“. In der französischen Klassengesellschaft „werden die Stummen immer wütender darüber, dass man sie nicht hört, die Tauben, dass man ihre Lösungen nicht in angemessener Weise aufnimmt.“ (Merkpunkt 68) Wie hellsichtig hat Latour die Beziehungen zwischen Emmanuel Macron, dem zwar wiedergewählten, durch die verlorene Mehrheit im Parlament aber geschwächten Präsidenten, und viel zu vielen in seinem Volk beschrieben. Die Stummen gehen gegen die Inflation, für ihre Kaufkraft und Löhne auf die Straße, nicht etwa für einen ökologischen Systemwechsel. Die Tauben testen im öffentlichen Raum Gedankenspiele wie die vorzeitige Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen. „Nie schien die Idee einer stolzen, sich ihrer selbst bewussten ökologischen Klasse so fern,“ schreiben Latour & Schultz in ihrem Nachwort.
Erstaunlich ist, dass die Autoren bei ihrer Suche nach der ökologischen Klasse und ihrem Bewusstsein internationale Bewegungen ausblenden. Und Ansätze in Frankreich selbst übersehen. Warum beleuchten sie eine nach eigenem Selbstbild „globale Graswurzel-Klimabewegung“ wie 350.org nicht (die Zahl ist eine Anspielung auf das „sichere“ Kohlendioxid in der Erdatmosphäre)? Weil ihre Protestformen nicht auf eine revolutionäre Bewusstseinsveränderung der Massen, sondern aktivistisch auf größtmögliche öffentliche Aufmerksamkeit gerichtet sind? Eine solche eingeschränkte Sichtweise passt eigentlich nicht zu einem Bruno Latour. Ob er spürte, keine Zeit (mehr) zum Surfen zu haben?
Was aber verbirgt sich hinter 350.org, einer 2008 von dem US-Amerikaner Bill McKibben (The End of Nature) in Kalifornien gegründeten gemeinnützigen Bewegung? Sie steht hinter den neuen Protestformen in Museen und Straßenkreuzungen, hinter den Aktivistinnen, die sich in London mit dem T-Shirt „Just stop Oil“ an den Bilderrahmen eines Van Gogh klebten, oder den Aktivistinnen (es sind überwiegend junge Frauen), die sich Letzte Generation, Ultima Generazione, Dernière Rénovation oder Extinction Rebellion nennen und von Melbourne bis Potsdam, von Florenz bis Paris Klebstoff, Kartoffelbrei oder Tomatensuppe als Agitationsmaterial benutzen und die selbst gedrehten Videos ihre Aktionen live ins weltweite Netz stellen.
„Ins Gefängnis zu gehen, ist Teil der Strategie“
Diese Form des Protests ist weltweit organisiert und durchgeplant, mit allen juristischen und finanziellen Folgen. „Wir haben die Kampagnen im Inneren der Museen gestartet, um ihre Beziehungen zu den umweltverschmutzenden Industrien anzuprangern“, erklärte offen einer der französischen Sprecher der Organisation, Nicolas Haeringer, laut le monde vom 27. Oktober und verwies auf das Unternehmen Total, den Mäzen des Louvre. Wer genau dieses „wir“ ist, bleibt unscharf. Die harten Bestrafungen, die in England und Frankreich rechtlich möglich sind, nimmt 350.org in Kauf. „Ins Gefängnis zu gehen, ist Teil der Strategie“, unterstrich Haeringer. Das Urteil gegen Phoebe Plummer und Anna Holland („Just stop Oil“) in London wird am 13. Dezember erwartet.
Doch es geht nicht nur um einen medienspektakulären Gang ins Gefängnis. Hohe, sechsstellige Geldstrafen, die in beiden Ländern möglich sind, könnten 350.org, aber auch Stiftungen wie die von Aileen Getty übernehmen: Sie ist die Enkelin des US-Ölmilliardärs J. Paul Getty (auch Gründer eines berühmten Museums) und hat ihre Unterstützung bereits öffentlich angekündigt. Die globale Graswurzelorganisation 350.org verfügte im Jahr 2019 nach eigenen Angaben über 14,9 Millionen US-Dollar Umsatz. Sie ist in 188 Ländern mit lokalen Gruppen vertreten. Ihre Werte und Methoden könnten Bruno Latour gefallen: „Wir sind mutig, kreativ und strategisch“. So steht es auf der deutschen Webseite. Als Methoden gibt 350.org an: Ziviler Ungehorsam, Lobbyismus, Gewaltfreie Aktion.
Ist die ökologische Klasse also im weltweiten Netz zu finden? Erreicht sie mit ihren, von Kampagnenexperten geplanten Protestformen die immer noch ziemlich geerdete, nationale Politik? Oder sind die laut und störend gewordenen „Stummen“ so weit weg von den „Tauben“ in den staatlichen Institutionen, dass sie sich gegenseitig nicht mehr hören, geschweige denn zuhören? Wenn einem französischen Innenminister wie Gérard Darmanin oder einem bayerischen Ministerpräsidenten nur noch Wörter wie „Ökoterroristen“ einfallen, dann ist eine Verständigung fern.
Wut und Ökoangst
Doch auch unter den „Stummen“ ist radikale Ungeduld spürbar, sind die Methoden von 350.org umstritten und werden die Begriffe von zivilem Ungehorsam und Gewaltfreiheit gedehnt. Bei den jüngsten, offiziell nicht erlaubten Demonstrationen in Sainte-Soline gegen riesige Wasserreservoirs für die französische Agrarindustrie mischten „schwarze Blocks“ gewaltig mit, buhten den Grünen-Politiker und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Yannick Jadot aggressiv aus, so dass die Ökofeministin und Parlamentsabgeordnete der Nupes, Sandrine Rousseau, resigniert kommentierte: Die Grünen hätten die junge Generation in Wut und Ökoangst verloren (le monde vom 19. November).
Radikalisiert sich also die ökologische Bewegung, bevor sie sich als Klasse im Sinne Bruno Latours erkennt? Versteht sich ein „schwarzer Block“, ein vermummter Trupp im Hambacher Forst oder am Grubenrand als revolutionäre Avantgarde? Einen offenen Einblick in die Szene gewährt „Glitzer im Kohlestaub. Vom Kampf um Klimagerechtigkeit und Autonomie“. Die Herausgeber dieses 400seitigen Buches nennen sich „Zucker im Tank“, sie alle bleiben in der Anonymität. Auch wenn Rezensionen über Autorinnen und Autoren, die sich nicht zu erkennen geben, grenzwertig sind, so lohnt in diesem Fall aufmerksames Lesen. Es äußern sich Frauen und Männer, die gegen die Startbahn in Frankfurt kämpften, die in den Hambacher Forst umzogen, Baumhäuser bauten und mit „Ende Gelände“ Gruben stürmten und Bagger besetzten. Hier schreibt über sich eine Generation vor der „letzten“.
Ihre Gespräche, Aufzeichnungen, Protokolle oder Reflexionen sind nicht nur nachdenkliche Rückblicke auf eigenes Handeln und gesellschaftliche Reaktionen. Sie decken Rassismus in ihren Reihen auf und überlegen, warum an ihren Aktionen, Gruppen und Bewegungen nur „weiße Aktivisten“ teilnahmen (S. 311). Sie geben Auskunft über interne Strukturen, Reibereien mit verbündeten Nichtregierungsorganisationen, die um ihre Gemeinnützigkeit bangten, wenn gewalttätig Grenzen überschritten wurden. Wie weit kann ziviler Ungehorsam und gewaltfreier Protest gehen?
Diese Frage versuchen die Gerichte in Deutschland zu beantworten: Seit dem Kampf gegen das Atomkraftwerk in Brokdorf, seit den Sitzblockaden vor den Toren der US-Streitkräfte in Mutlangen (zur Erinnerung: mit Heinrich Böll und Oskar Lafontaine). Das ist vierzig Jahre her, doch die Frage stellt sich immer wieder neu: Bei den Juristen wie den Aktivisten. In „Zucker im Tank“ beschäftigt sich damit vor allem die Gruppe, die als eine linksradikale unter verfassungschützlicher Beobachtung steht: „Ende Gelände“. Einheitlich ist sie keineswegs: Da sind (meist) junge Männer unterwegs, die Räuber&Gendarm spielen, die einen Wochenendausflug in die Anarchie machen oder auf Zeit ausbrechen aus bürgerlichen Häusern oder ordentlichem Studium. Mit Bruno Latour fühlen sie sich „fremd in ihrer Klasse“. Auf Zeit.
Bruno Latours Seufzer
Aber es gibt auch klar systemsprengende Aktivisten, die mit heftiger Kapitalismuskritik auf eine Revolution hoffen. Und doch in dem Beitrag „Anarchistische Perspektiven auf Fridays for Future“ nicht auf Revolution, sondern auf Politik setzen. Beim Klimaschutz müsse schnell gehandelt werden, meint ein R., der sich als ein linksradikaler und autonomer Aktivist bei FFF einstuft (S. 300). „Beim Chaos einer Revolution kann es passieren, dass es schiefgeht und dass es erst einmal lange braucht, um eine neue Ordnung zu finden. Und wie eine friedliche Revolution aussehen könnte, weiß ich leider nicht. Dafür müsste ein Großteil der Menschen das System stürzen wollen und das sehe ich gerade leider noch nicht.“ (S.303)
Bruno Latour hätte ihm vermutlich zugestimmt. Aber sicherlich auch die Kampagnenmanager bei 350.org, die längst über neue Protestformen grübeln, die hochwirksam Schlagzeilen machen und Klebstoff wie Kartoffelbrei ersetzen. Ein Blick in eine kurze Geschichte des Aktivismus könnte ihnen dabei helfen. Der Journalist Knut Cordsen hat sie in „Die Weltverbesserer“ zusammengestellt. Wer Zitate für oder gegen den Aktivismus von links bis sehr weit rechts, von Prominenten wie Carl von Ossietzky, Ernst Bloch oder Theodor W. Adorno sucht, wird auf knapp 150 Seiten reichlich belohnt. Mit seinen ironisch verbrämten, gehässigen Bemerkungen zu Greta Thunberg und anderen jungen Aktivistinnen entwertet sich der Autor allerdings selbst. Und gesellt sich zu den „Tauben“.
Bruno Latours Seufzer, dass eine stolze und selbstbewusste ökologische Klasse so fern sei, bleibt im Augenblick noch ohne Widerhall. In einer seiner letzten Episoden für arte.tv/de wird Latour gefragt, was er denn seinem einjährigen Enkel Lilo für die nächsten zwanzig Jahre wünsche. „Wir müssen unsere Kinder therapeutisch ausstatten, damit sie nicht in Verzweiflung stürzen“, sagte er mit einem freundlichen Großvaterlächeln. „Und die Ökoangst aushalten“. Welch ein Auftrag an die Gesellschaften.
Unter dem Titel „Auf der Suche nach der ökologischen Klasse“
erschien der Beitrag zuerst auf Faustkultur.