Tarifautonomie: Jenseits von Staatsallmacht und Unternehmerherrschaft

Foto: Frank Vincentz auf wikimedia commons

Die aktuelle politische Debatte dreht sich um den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die Möglichkeiten wirksamer Gegenwehr. Sie wird auch bestimmt vom fortschreitenden Klimawandel und dem Ringen um die Wege, eine globale Klimakatastrophe zu verhindern. Die Coronapandemie, die noch fortwirkt, hat dagegen ihren Schrecken schon verloren. Dadurch gerät fast aus dem Blick, dass Deutschland trotz Lockdowns und Produktionsausfällen, trotz rasant gestiegener Energiekosten und unterbrochener Lieferketten, alles in allem gut da steht. Es hat viele Einbrüche gegeben im Einzelhandel, in der Gastronomie, im Kulturbereich usw. Aber für den überwiegenden Teil der Wirtschaft gilt: Die Gewinne steigen, der Arbeitsmarkt ist robust und stabil, die Arbeitslosigkeit gering, der Mangel an Arbeitskräften groß. Lohn- und Gehaltsforderungen, die auf den ersten Blick sehr hoch schienen, z.B. in der chemischen Industrie und in der Metall- und Elektroindustrie, haben nach harten, z.T. von Warnstreiks begleiteten Verhandlungen, zu akzeptablen Kompromissen geführt. Viele Faktoren werden für diese Entwicklung benannt, ein entscheidender Faktor aber oft übersehen: Die Tarifautonomie und das Tarifvertragssystem in Deutschland.

Der Tarifvertrag hat eine lange Geschichte: Vor 150 Jahren, im Mai 1873, wurde der erste, damals „reichsweite Tarifvertrag“ der Buchdrucker mit den Verlegern abgeschlossen. Er hatte zum Ziel, Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen zu fixieren, aber auch von Königsberg bis Aachen, von Husum bis München, den Wettbewerb um Arbeitskräfte und Aufträge zu Lasten der Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen zu unterbinden. Damals noch ohne rechtlichen Rahmen und gesetzliche Verbindlichkeit. Dieser Tarifvertrag hatte viele Jahre Bestand, dank der Vertragstreue und der Disziplin der vertragschließenden Parteien.

Lohntarifvertrag Bahn 1923, Foto: Cherubino auf wikimedia commons

Erst Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die damals innovative Idee des kollektiven Arbeitsvertrages entwickelt und ausformuliert, dessen Normen „unmittelbar und zwingend“, also Gesetzen vergleichbar, gelten. Damit war der Grund gelegt für die „Tarifvertragsordnung“ vom Dezember 1918, lange vor der Verabschiedung der Weimarer Verfassung, die dann Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie verankerte. Entfalten konnte sich die Tarifautonomie in der Weimarer Republik nur begrenzt. Denn zum einen kehrten große Teil des Arbeitgeberlagers, insbesondere die Eisen- und Stahlindustrie sowie die Metall- und Elektroindustrie, ungebrochen zu ihrer tarifvertrags- und gewerkschaftsfeindlichen Vorkriegshaltung zurück. Und zum anderen machte das Drängen der Arbeitgeber auf Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen die staatliche Zwangsschlichtung zu Gunsten von Mindestbedingungen immer häufiger nötig, so dass am Ende von Weimar von Tarifautonomie kaum mehr die Rede sein konnte. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurde die Tarifautonomie umgehend beseitigt. Das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ von 1933 setzt Tarifordnungen und Betriebsordnungen, von den Treuhändern der Arbeit erlassen, an Stelle der Tarifverträge.

Gewerkschaften, eine wirtschafts- und gesellschaftspolitisch relevante Kraft

Nach 1945 gehört in der späteren Bundesrepublik Deutschland das Tarifvertragsgesetz, das weitgehend dem von 1918 entsprach, zu den ersten Gesetzen der Nachkriegsära. Es wurde im April 1949 verabschiedet, wiederum vor der politischen Verfassung, dem Grundgesetz vom Mai 1949. In der späteren DDR entwickelte sich zunächst ein System von Tarifautonomie, das an die Weimarer Republik anknüpfen wollte. Unter dem Einfluss der sowjetischen Militäradministration und dem sowjetischen Modell der Wirtschaftslenkung wurden Tarifverträge oder Kollektivverträge schließlich zu Ausführungsbestimmungen der staatlichen Planungsbürokratie. An dem Streikrecht hielt der FDGB formal fest, es wird aber nur „im Kampf gegen das kapitalistische Unternehmertum und die Begleiterscheinung der kapitalistischen Verhältnisse angewandt“ (Streikordnung von 1946).

Die Tarifautonomie mit Streikrecht ist der Grundpfeiler einer sozialen Wirtschaftsverfassung im regulierten Kapitalismus. Allein auf Grundlage der Tarifautonomie schaffen Gewerkschaften durch Tarifverträge Einkommen und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten zu fixieren und regelmäßig zu verbessern. Damit wird sozialer Ausgleich mit wirtschaftlichem Erfolg verbunden, jenseits von Unternehmerwillkür und Staatsallmacht. Im Kaiserreich dominierte weitgehend Unternehmerwillkür, in der Nazizeit die Staatsallmacht.

In der Bundesrepublik Deutschland waren die Tarifautonomie und Streikrecht von Anfang gegeben. Aber es bedurfte erst des Scheiterns der von den Gewerkschafen gewollten „Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft“, wie sie im überwältigenden Sieg von Adenauer in der Bundestagswahl 1953 zum Ausdruck kam, damit sich Gewerkschaften auf Tarifpolitik und die tariflich zu regulierenden Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen als ihr Kerngeschäft fokussierten. Das war unter anderem der große Verdienst des IG Metallvorsitzenden Otto Brenner, die IG Metall und mit ihr den ganzen DGB aus einer nach dem Scheitern der Neuordnung drohenden Agonie zu einer wirtschafts- und gesellschaftspolitisch relevanten Kraft zu machen, gestützt auf Mitgliederstärke und Tarifautonomie.

Hohe Flexibilität

Bis auf die wenigen gesetzlich fixierte Mindeststandards z.B. bei Arbeitszeit und Urlaub, bei Jugend- und Arbeitsschutz sind es Tarifverträge, die ein Mindestanspruch an Entgelt (Lohn und Gehalt) und Arbeitsbedingungen und ihre ständige Verbesserung gewährleisten. Und das über Jahrzehnte hinweg äußerst flexibel, effektiv, transparent und für die Allgemeinheit sehr kostengünstig. Denn die Tarifvertragsparteien zahlen den Aufwand für dieses System selbst.

Die Flexibilität des Systems ist hoch. Nach Branchen und Regionen differenziert werden die Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen geregelt. In beiderseitigem Interesse der Tarifparteien hat sich der branchenspezifische Flächentarifvertrag als Regel durchgesetzt. So kann den unterschiedlichen wirtschaftliche Bedingungen einer Branche Rechnung getragen werden. Eine innere Flexibilität („Pforzheimer Abkommen“) ermöglicht auch Betriebs- oder Branchen- Krisen zu bewältigen und Unternehmensstandorte sowie Arbeitsplätze zu sichern. Nicht nur in den großen Industriebranchen sowie in den öffentlichen und privaten Dienstleistungsbereichen gibt es Flächentarifverträge, sondern auch in den zahlreichen, sehr kleinteiligen Handwerksbranchen werden auf die jeweilige Situation und Region angepasste Tarifverträge abgeschlossen. Das ist für die Mitgliedschaft der Gewerkschaften oft mit großem Kraftaufwand verbunden und wäre in keinem Fall ohne Streikrecht denkbar.

Ebenso wichtig ist die Transparenz: Jeder Schritt einer Tarifverhandlung von der Aufstellung der Forderung bis zum Abschluss des Tarifvertrags ist transparent und beteiligungsorientiert. In Betrieben und Verwaltungen werden Tarifforderungen diskutiert, in Tarifkommissionen gebündelt und schließlich von den Vorständen der Gewerkschaften beschlossen. Die Forderungsdiskussionen sind ebenso wie die Sitzungen der Tarifkommission nicht unmittelbar medienöffentlich, aber kaum etwas aus diesen Beratungen bleibt der Öffentlichkeit wirklich verschlossen. Auch die Diskussionsstände und Zwischenergebnisse der Verhandlungen müssen von den Tarifkommissionen diskutiert werden und gelangen damit letztlich auch an das Licht der Öffentlichkeit. Die Vorbereitungen befristeter und auch unbefristeter Streiks laufen beteiligungsorientiert ab und finden unter den kritischen Augen der Öffentlichkeit statt. Die Regularien, um zu einem unbefristeten Erzwingungsstreik zu kommen, sind in den Satzungen der einzelnen Gewerkschaften für jeden nachlesbar.

Die Handhabung des Tarifsystems in Deutschland war und ist so, dass wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und soziale Erfolge verknüpft werden. Preis- und Produktivitätsentwicklung stellen in Regel den Rahmen für höhere Entgelte, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen dar.

Ein möglicher Wettbewerbsvorteil

Das ist auch Ansatzpunkt für manche Kritik an der Außen- und Binnenwirkung dieser Tarifpolitik. Die Kritik an der Außenwirkung stellt darauf ab, dass mit diesem seit 1945 praktizierten „Bündnis für Arbeit“ überhaupt erst das „Wirtschafts- und Exportmodell Deutschland“ ermöglicht wurde. In der Tat stellt dies in einem vereinten Europa der offenen Grenzen und der gemeinsamen Währung einen möglichen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen europäischen Ländern dar. Dies muss von den Gewerkschaften artikuliert und diskutiert werden, aller Grund dem viel verbreiteten Gejammere über Deutschland als dem Zahlmeister Europas entgegenzutreten. Deutschland ist auch mit der größte Profiteur der europäischen Einigung.

Bezogen auf die Binnenwirkung wird die fehlende Umverteilung zu Gunsten der Lohneinkommen durch Tarifpolitik kritisiert. Die Tarifpolitik muss ihren Beitrag zur gerechten Verteilung und zum sozialen Ausgleich leisten. Außerdem wird durch zu geringe Entgelterhöhungen die Binnennachfrage geschwächt und die Exportorientierung gestärkt. Der Anspruch muss sein, dass ein Tarifentgelt für Vollzeitarbeit einen angemessenen Lebensunterhalt und – auf die Dauer des Arbeitslebens – einen ebensolchen Rentenanspruch sichert. Das sollte auch den Arbeitgebern und ihren Verbänden klar sein: Je stärker die durch Tarifvertrag geregelten Entgelte ausfransen und Lücken aufweisen, desto größer wir in der sozialstaatlichen Verfassung des Grundgesetzes der Druck auf staatliche Regelungen, wie beim Mindestlohn oder den Mindestausbildungsvergütungen.

Bund Verlag, 2022, 610 Seiten

Aber trotz aller Kritik hat dieses System zuallererst dazu beigetragen, dass Deutschland ein hohes Niveau an sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat, in Krisenzeiten flexibel reagieren konnte und sich nach Krisenzeiten Wirtschaft und Arbeitsmarkt schnell wieder schnell erholt haben. Das ist Ergebnis des Zusammenwirkens krisenbezogener Tarifregelungen mit der auf die Krise bezogenen Arbeitsmarktpolitik. So konnten auch in den tiefgreifenden Krise möglichst viele Arbeitsverhältnisse fortgeführt werden, um damit nach einer Krise mit qualifizierten Arbeitskräften den Aufschwung zu starten: Das Fehlen zuvor entlassener Arbeitskräfte führt nicht selbst zur Krisenverlängerung. So wurde das 2000/2001, 2008/2009 und zuletzt während der Coronapandemie erfolgreich praktiziert.

Mindestbedingung, nicht Höchstgrenze

150 Jahre nach seinem Start mit dem ersten reichsweiten Flächentarifvertrag wird das Tarifsystem aber durch verschiedene Faktoren bedroht. Da ist zum einen das Bestreben eines Teils der Arbeitgeber, aus Tarifnormen – statt Mindestbedingungen – Orientierungsmarken oder gar Höchstgrenzen zu machen. Damit wäre die normative und gesetzesähnliche Kraft der Tarifverträge verloren, sie wären ihres Sinnes entleert. Ein weitere Gefahr droht, wenn Tarifverträge dauerhaft nicht mehr zu einer sozial gerechteren Einkommensverteilung führen, sich die Verteilungsrelationen zu Lasten von Arbeitnehmereinkommen verfestigten. Dies können nur die Gewerkschaften selbst durch entsprechend vorbereitete und offensiv durchgeführte Tarifbewegungen abwehren. Die größere Bedrohung rührt allerdings aus der zum Teil dramatisch zurückgehenden Tarifbindung

  • wegen stagnierender oder sogar sinkender Mitgliederzahlen in den Betrieben auf Seiten der Gewerkschaften,
  • aber vor allem auf Seiten der Arbeitgeberverbände wegen der immer größeren Zahl von Unternehmen ohne Tarifbindung.

Zwar ist die faktische Wirkung der Tarifverträge immer noch deutlich grösser als ihre zwingende rechtliche Wirkung. Tarifverträge werden rechtlich zwingend nur für Mitglieder geschlossen, werden aber – zumal in Zeiten des Fachkräftemangels – vielfach auf Seiten der Arbeitgeber und für Arbeitnehmer:innen weit darüber hinaus angewandt. Es geht für die Unternehmen darum, Arbeitskräfte zu halten oder zu gewinnen und sie zudem nicht den Gewerkschaften in die Arme zu treiben.

Der Rückgang der Tarifbindung ist vor allem ein Problem der Arbeitgeberseite. Die Arbeitgeberverbände haben den Rückgang der Tarifbindung zunächst hingenommen und später erleichtert. Anstatt Unternehmen, die keine Tarifbindung mehr wollten, auch eine arbeits- und sozialrechtliche Beratung zu verwehren, haben die Arbeitgeberverbände eine sogenannte Mitgliedschaft ohne Tarif (OT) geschaffen und damit der Erosion der Tarifbindung Tür und Tor geöffnet. Damit ist die Kernfunktion eines Arbeitgeberverbandes als Tarifträger in Frage gestellt.

Demonstration während des Warnstreiks wegen des outgesourcten Carité Facility Managements, 26.08.2020 in Berlin (Foto: Leonhard Lenz auf wikimedia commons)

Schrankenlose globale Konkurrenz

Von Seiten der politischen Akteure wird die Gefahr mangelnder oder schwindender Tarifbindung gesehen. Deswegen hat die neue Regierungskoalition in der Koalitionsvereinbarung vom Dezember 2021 die Stärkung der Tarifbindung als wichtiges Ziel formuliert. Aufgrund der politischen Gesamtlage stehen Schritte zur Umsetzung bislang noch aus.

Auch die Europäische Union hat das Problem der zurückgehenden Tarifbindung als Gefahr für ein sozialstaatliches Europa erkannt. Mit der neuen Mindestrichtlinie wird auch gefordert, dass die Mitgliedsländer die Tarifbindung auf mindestens 70% erhöhen. Maßnahmen, die dazu führen, bleiben den Mitgliedsländern selbst überlassen, aber sie sind verpflichtet, alle fünf Jahre der EU-Kommission über den Stand der Tarifbindung und – sofern sie unter den 70% liegt – über Maßnahmen zu berichten, sie zu verbessern. Die Gewerkschaften selbst überlegen natürlich auch, wie sich die Tarifautonomie wieder stärken lässt.. Die Mitgliederzahlen zu erhöhen, ist der beste Weg. Vielfältige Mitgliedergewinnungs- und Organisierungskampagnen sind im Gang, mit von Gewerkschaft zu Gewerkschaft unterschiedlichen Erfolgen. Ein anderer Weg ist, beispielhafte Konflikte mit einzelnen Unternehmen zu führen, um höhere Entgelte oder kürzere Arbeitszeiten durchzusetzen; sie können mittelbar auch zum Beitritt eines Unternehmens in den Arbeitgeberverband führen. Schließlich werden Mitgliedervorteils- und Bonusregelungen in Tarifforderungen diskutiert. Sie sind rechtlich möglich, wenn auch in engen Grenzen; sie zu fordern, bedarf aber einer sehr genauen Abwägung in jedem einzelnem Fall.

Die Hauptaufgabe zur Stärkung der Tarifbindung liegt auf Seiten der Arbeitgeber und der Arbeitgeberverbände. Es ist auch eine Entscheidung über die Zukunft der digitalisierten Arbeitswelt. Der regulierte Kapitalismus lebt davon, dass Entgelte und wesentliche Arbeitsbedingungen der zwischenbetrieblichen Konkurrenz entzogen sind und von allen Betrieben und Verwaltungen gleichermaßen als Untergrenzen einzuhalten sind. Auch, festgelegt gesetzliche Auflagen für den Umweltschutz, den Arbeitsschutz, den Mutterschutz oder den Jugendschutz legen solche Untergrenzen fest und tragen zu gleichen Konkurrenzbedingungen bei. Für immer mehr Unternehmen und auch Wirtschaftsverbände scheinen die Vorteile dieses Systems außer Blick zu geraten. Mit der digitalen Modernisierung der Produktion und Arbeitsorganisation geht der Wunsch nach Restauration längst überwunden geglaubter Arbeitsverhältnisse und Bezahlungssysteme einher bis hin zum digitalen Tagelöhner und Arbeitskraft-Unternehmer in total abhängiger „Selbständigkeit“.

Gerade zu einem Zeitpunkt, an dem die schrankenlose globale Konkurrenz auch mit ihren gravierenden Nachteilen sichtbar wird und man allenthalben darauf ist , eine Neuregulierung der globalen Wirtschaftsbeziehungen in Gang zu setzen, wäre es auf nationaler oder europäischer Ebene völlig verkehrt, die Regularien für einen sozial eingebetteten Kapitalismus einzureißen, anstatt sie auszubauen. Fällt die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems aus, so bleiben, wie die Geschichte zeigt, nur folgende Wege:

Soll die Sozialstaatlichkeit in der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten erhalten bleiben, wäre mehr staatliche Intervention durch nationale Arbeitsgesetzgebung und europäische Regelwerke der eine Weg. Die Alternative wäre die Abkehr von Sozialstaatlichkeit und die Rückkehr zum Vorrang des Unternehmerwillens in der digitalen Arbeitswelt. Abseits des auf Tarifautonomie und Streikrecht gegründeten Systems kollektiver Verträge bleibt nur mehr Staatsmacht und oder mehr Unternehmerherrschaft. Jedes Erwerbs-Arbeitsverhältnis ist entweder ein Herrschaftsverhältnis oder ein Vertragsverhältnis. Wir sollten in der digitalen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft weder auf Staatsallmacht zusteuern noch unternehmerischer Herrschaft mehr Raum geben. Wir sollten alles daran setzen, dem System des kollektiven Arbeitsvertrages, gegründet auf der im Grundgesetz verankerten Tarifautonomie mit Streikrecht, auch in der digitalen Transformation Geltung und größtmögliche Reichweite zu verschaffen.

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Klaus Lang
Dr. Klaus Lang studierte Katholische Theologie, Psychologie und Politik. Er war zunächst Pressesprecher des Vorstandes der IG Metall, 1981 wurde er Leiter der Abteilung Tarifpolitik, später leitete er die Abteilung des 1. Vorsitzenden und war Geschäftsführer der Otto-Brenner-Stiftung, 2003 wurde er Arbeitsdirektor der Georgsmarienhütte Holding GmbH. Er ist Mitglied im Rat der Stiftung Menschenrechte, der Förderstiftung von Amnesty International und im Sozialethischen Arbeitskreis Kirchen und Gewerkschaften.

1 Kommentar

  1. Der Hinweis auf die Jahre 2000 und 2001 als Beleg für eine erfolgreiche Verbindung von Tarifpolitik und Arbeitsmarktpolitik irritiert. Erstens markiert dieser Zeitraum das Ende und den Beschäftigungshöhepunkt eines Konjunkturzyklus, der 1993 begonnen und 2001 geendet hatte, und zweitens stieg die Arbeitslosigkeit in Deutschland ab 2002, also nach dem Ende dieses Zyklus ausgesprochen stark. Die zurückhaltende Tarifpolitik der Jahre 2000 und 2001 im Bündnis für Arbeit führte auf dem Arbeitsmarkt gerade nicht zu Erfolgen, weil die Arbeitslosigkeit anders als 2009 nach 2001 deutlich angestiegen war. Der hohe Beschäftigungsstand 2001 war auf den Konjunkturzyklus zurückzuführen. Der deutliche Anstieg der Arbeitslosigkeit nach 2001 war dann der Anlass für die Verkündung der Agenda 2010 im Frühjahr 2003 durch den Bundeskanzler. Der Beschäftigungserfolg des Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit, dass unmittelbar vor der Verkündung der Agenda beendet wurde, ist ein Mythos, die Arbeitsmarktzahlen belegen eher das Gegenteil. Dass die Arbeitslosigkeit nach 2001 so stark stieg, war eine Folge des konjunkturpolitischen Nicht-Handelns der Regierung, der Politik der “ruhigen Hand”.

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