Geburtsjahr 1993ff: Status ungeklärt

Käthe Kollwitz, Plakat für die Sozialistische Arbeiterjugend Leipzig, 1924 (wikimedia commons)

“Zahl der Kriegsdienstverweigerer verfünffacht” lauteten kurz nach dem Jahreswechsel 2022/23 Schlagzeilen deutscher Nachrichtenportale. Dem “Vaterland” als Soldat zu dienen, empfinden die meisten jungen Männer nicht als Ehre. Sie betrachten militärische Zwangsdienste eher als Last. Zudem gab es aus historischer Sicht in der militärischen Praxis stets klassenspezifische Unterschiede. Generäle und andere Angehörige der Oberschicht standen selten in den Schützengräben an vorderster Front. In Vietnam kämpften vorrangig schwarze US-Amerikaner und weiße Arbeiter für die “Freiheit des Westens”. Nicht viel anders läuft es heute in der Ukraine: Während Ex-Botschafter Andrij Melnyk heimische Deserteure beschimpft und Männer unter 60 das Land nicht verlassen dürfen, studiert sein Sohn in Berlin. “Zurzeit sind Studenten in der Ukraine ausgenommen von der Mobilmachung“, erklärte dazu Switlana Melnyk im Oktober 2022.

Hinten der reißerischen Überschrift “Zahl der Kriegsdienstverweigerer verfünffacht” verbirgt sich ein Anstieg auf niedrigstem Niveau. Nur 201 Männer haben hierzulande in 2021 verweigert; im vergangenen Jahr waren es vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges 951. Das klingt lächerlich wenig, es liegt an der Berechnungsmethode. Denn die amtliche Statistik berücksichtigt nur noch Angehörige der Bundeswehr sowie Reservisten, sie zählt ausschließlich verweigernde Berufssoldaten. Millionen andere junge Männer, die seit 2011 keine “Musterung” mehr absolvieren müssen, werden gar nicht erst erfasst.

Für fast zwei Generationen – die zwischen Ende der 1930er bis Anfang der 1990er Jahre geborenen männlichen Jugendlichen – war es ein fester Bestandteil ihrer Biografie: Kurz vor dem 18. Geburtstag meldete sich die Obrigkeit, ein behördliches Schreiben flatterte ins Elternhaus. “Sie haben sich zur Tauglichkeitsprüfung im Kreiswehrersatzamt einzufinden.” Wer es nicht schaffte, mit Hilfe ärztlicher Atteste ausgemustert zu werden, stand vor einer schwierigen persönlichen Entscheidung: Gehe ich zum “Bund” oder verweigere ich, mache statt dessen Zivildienst?

“Nie wieder Krieg!”

“Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden”, steht in Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes. Dessen Väter und Mütter garantierten die Möglichkeit zur Verweigerung angesichts der damals noch sehr präsenten Erfahrungen im Nationalsozialismus. Die gängige Parole “Nie wieder Krieg!” brachte die pazifistische Stimmung der Bevölkerung auf den Punkt. Nie wieder sollten junge Männer zwangsweise zum Soldatentum verpflichtet, nie wieder Deserteure als “Vaterlandsverrräter” hingerichtet werden können.

Schneller als erwartet setzte Mitte der 1950er Jahre die Remilitarisierung der Bundesrepublik (und auch der DDR) ein. Mit der Gründung der Bundeswehr war die Wehrpflicht wieder da, die Nationale Volksarmee führte sie nach dem Mauerbau ein. Erneut wurde alle jungen Männer “gemustert”, das in Westdeutschland verankerte Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aber ließ sich nicht einfach abschaffen. Um die Zahl der Abweichler niedrig zu halten, setzte man, um im Militärjargon zu bleiben, auf Abschreckung. Der “Ersatzdienst” dauerte länger als der Militärdienst, vor allem aber wurde ein Prüfungsverfahren zur Erforschung der “Gewissensgründe” eingeführt. Verunsicherte junge Männer saßen dort einschüchternden Ermittlern gegenüber. Meist wurden diese von staatlichen Behörden abgestellt, und so mancher Regierungsrat a.D. machte nicht den Eindruck, er nähme das Grundgesetz besonders ernst. “Stellen Sie sich vor, Sie laufen durch einen Park, ein Russe kommt vorbei und will Ihre Freundin vergewaltigen. Was machen Sie dann?” lautete die legendäre Fangfrage. Von der Nazizeit geprägte Amtsträger wollten angebliche Drückeberger überführen, unterstellten ihnen, ihr Gewissen nur vorzuschieben.

Denkmal von Bildhauer Lothar Beck: Friedensbewegung in Dresden
(Foto: Bybbisch94, Christian Gebhardt auf wikimedia commons)

Kriegsdienstverweigerer wie Olaf Scholz und Robert Habeck

Entsprechend gering war anfangs die Zahl der anerkannten Anträge. Zwei Jahrzehnte lang blieb sie stets unter 5000 pro Jahrgang. Kriegsdienstverweigerung wurde gesellschaftlich weitgehend missbilligt, galt als fragwürdige Abweichung von der Norm. Selbst während der Studentenproteste 1968 gingen nur knapp 12.000 Männer nicht zur Bundeswehr. Ab Mitte der 1970er Jahre aber schnellten die Zahlen plötzlich auf bis zu 70.000 hoch. 1983 wurde die umstrittene Gewissensprüfung abgeschafft, verweigern konnte man nun “per Postkarte” – mit dem Ergebnis, dass ganze Abiturklassen nahezu geschlossen verweigerten. 1991, im Jahr des Golfkriegs, wählten 151.212 junge Männer lieber den Zivildienst, ein Spitzenwert. Von 2002 bis zur Aussetzung der Wehrpflicht registrierten die Behörden 1.179.691 KDV-Anträge – im Durchschnitt also rund 120.000 Verweigerer pro Jahr, bei schon erheblich kleineren Alterskohorten. Kriegsdienst und der inzwischen öffentlich längst positiv bewertete Zivildienst hielten sich nahezu die Waage. Der Anteil der Verweigerer wuchs mit leichten Schwankungen weiter; 2001 entschieden sich 49 Prozent der tauglich “Gemusterten” gegen das Militär.

Zusammengerechnet leben in Deutschland mehrere Millionen anerkannte Kriegsdienstverweigerer. Zu ihnen gehören auch führende Politiker wie Bundeskanzler Olaf Scholz oder Wirtschaftsminister Robert Habeck. Die junge Generation aber befindet sich in einem Schwebezustand, für sie fehlt jede Statistik. Formal hat sie gar nicht die Option zu verweigern, weil sie nicht mehr gemustert wird. Das könnte sich aber schnell wieder ändern. Denn die Wehrpflicht wurde nur ausgesetzt, sie steht weiterhin im Grundgesetz – und ist zur Zeit durchaus wieder ein Thema der öffentlichen Debatte: “Wie sinnvoll wäre die Wiedereinführung der Wehrpflicht?” Der Bundestag hat die Möglichkeit, den Zwangsdienst mit Zweidrittelmehrheit jederzeit wieder einzuführen.

In der jungen Generation dominieren Ahnungs- und Sorglosigkeit

Nur wenigen jungen Männern dürfte bislang bewusst sein, welches Risiko das für sie bedeutet. Denn der Krieg in der Ukraine eskaliert, und er droht sich in die Länge zu ziehen, von Diplomatie auf beiden Seiten keine Spur. Im Ernstfall – “worst case” wäre ein Einmarsch von NATO-Streitkräften – könnte sich rächen, dass Jugendliche mit Erreichen der Volljährigkeit keine Haltung zum Dienst an der Waffe mehr entwickeln müssen. Der Status aller deutschen Männer, die 1993 oder später geboren wurden, ist völlig ungeklärt. Doch in dieser Generation dominiert Ahnungs- und Sorglosigkeit. Selbst wenn gar nicht so wenige im Grundsatz pazifistisch orientiert sein sollten – offiziell anerkannt als Kriegsdienstverweigerer sind sie eben nicht. Zudem ist das Recht auf KDV keineswegs in Stein gemeißelt. Ein Staat, in dem die Hälfte der jungen Männer den Militärdienst ablehnt, hat ein massives Mobilisierungsproblem.

Damit dies stärker sichtbar wird, bedarf es einer politischen Kampagne. Auch die Gewerkschaften, in der Vergangenheit ein wichtiger Faktor der deutschen Friedensbewegung, könnten einen Aufruf an alle unter 30-Jährigen unterstützen: Verweigert vorsorglich den Kriegsdienst! Macht gemeinsam deutlich, wie stark die antimilitaristische Grundstimmung in Deutschland nach wie vor ist.

Unter dem Titel “Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung: Eine Generation im Schwebezustand” erschien der Beitrag zuerst im Debattenmagazin Gegenblende des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

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Thomas Gesterkamp
Dr. Thomas Gesterkamp ist Politikwissenschaftler, Journalist und Buchautor. Einen Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die Geschlechter- und Männerpolitik, zudem berichtet er über wirtschafts-, sozial-, bildungs- und kulturpolitische Themen. Er schrieb fünf Sachbücher und veröffentlichte rund 4000 Beiträge im Hörfunk, in Tages- und Wochenzeitungen sowie in Sammelbänden und Fachzeitschriften. Website: https://thomasgesterkamp.com/

4 Kommentare

  1. Das individuelle (nicht kollektive) Recht auf Kriegsdienstverweigerung, das Ewigkeitsrang hat und nicht aus dem GG gestrichen werden kann, resultiert aus den entsetzlichen Erfahrungen des von Nazi-Deutschland entfesselten Angriffskriegs gegen die freie Welt. Heute steht Europa wieder einem völkermodernden Aggressor gegenüber: Putin-Russland, dazu weiteren aggressiven Mächten wie China und dem islamistischen Mullah-Regime im Iran. Unsere Freiheit, unsere Sicherheit und unsere Werte gilt es zu verteidigen, leider auch mit militärischen Mitteln. Hätten im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Briten, US-Amerikaner, Franzosen und Angehöriger weiterer alliierter Nation massenhaft den Kriegsdienst gegen Nazi-Deutschland verweigert, würden wir heute nicht in (noch) Frieden und Freiheit leben.

    Ich bin selbst anerkannter Kriegsverweigerer. 1974 musste ich die beschriebene Gewissensprüfung ablegen und habe danach Zivildienst geleistet. Dazu stehe ich. Denn wir waren damals im Kalten Krieg. Heute würde ich nicht verweigern, aus den genannten Gründen. Wie gesagt: Es steht jedem und jeder frei, den Kriegsdienst zu verweigern, falls die Wehrpflicht wieder in Kraft gesetzt würde, was allerdings höchst unwahrscheinlich ist, weil moderne Armee gut ausgebildete Profis brauchen. Und weil es dafür keine politische Mehrheit gibt.

    Dass Berufssoldaten sich auf das Grundrecht berufen, halte ich jedoch für fragwürdig. Jede und jeder, die/der sich entscheidet, freiwillig in der Bundeswehr zu dienen, musste und muss wissen, auf was er/sie sich eintlässt.

  2. Auf den Regierungsrat a.D. mit der Frage, was würden Sie tun, wenn……, passt, was der fama nach ein britischer Pazifist auf die Frage gesagt hat: Was würden Sie tun, wenn russische Soldaten im Park auf ihre Großmutter treffen würden und…… Antwort: Ich würde 4 zu 1 auf Großmutter setzen.

  3. Seit langer Zeit habe ich bei Thomas Gesterkamp den ersten Hinweis auf eine praktische Möglichkeit, sich der Kriegsbegeisterung zu widersetzen, gefunden. Wie ist eigentlich der Stand der “Gleichberechtigung” hinsichtlich der Kriegsdienstverpflichtung und -verweigerung? Und, lieber Thomas, hast Du nicht auch noch eine gute Idee, wie wir zivilgesellschaftlich einen solchen Aufruf auch von außerhalb (und von innerhalb) der Gewerkschaften vorantreiben können? Ich würde mich gern beteiligen. Gibt es irgendwo ein Diskussionsforum, in dem man sich über praktische Möglichkeiten der Gegenwehr auseinandersetzen kann – ohne sich gleich wieder mit der ganz anderen Ansicht auseinandersetzen zu müssen? Ich suche bislang vergeblich ein Forum, das sich der falschen Alternative Anti-Nato/USA oder Anti-Putin verweigert und beide Seiten angemessen (und nicht nur rhetorisch) im Blick hat und ernsthaft nach einer formulierbaren und machbaren Pro-Friedensstrategie sucht. Vielleicht gibt es auch eine Plattform, die solche Beiträge – wie z.B. das letzte Interview von Herrn Kujat (siehe blog-der-Republik.de vom 24.1.2023) – so breit wie möglich unter die Leute bringt. Es ist so furchtbar, wenn sich Leute wie Roger Köppel (siehe Nachdenkseiten) zum Sprecher der Friedenbewegung aufblasen können, weil die, die wirklich in dieser Tradition stehen, sich nicht mehr wirksam artikulieren können.

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