Es ist ein halbes Jahrhundert her, dass die (heute immer noch) größte Industriegewerkschaft der (freien) Welt zu einer Internationalen Arbeitstagung nach Oberhausen bat. Auf Einladung des Ersten Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Metall, Otto Brenner, kamen vom 11. bis 14. April 1972 Politiker, Intellektuelle, Zukunftsforscher und Gewerkschaftsführer aus aller Welt zusammen, um über die „Qualität des Lebens“ als „Aufgabe Zukunft“ nachzudenken. Die männliche Form ist bewusst gewählt, denn unter den Rednern befand sich keine einzige Frau. In einer Reihe von zehn Taschenbüchern dokumentierte die Europäische Verlagsanstalt diese außergewöhnliche Veranstaltung. Vereinzelt noch tauchen sie in Antiquariaten auf: Bildung (Band 2), Umwelt (Band 4), Qualitatives Wachstum (Band 7) oder Demokratisierung (Band 8). Kommen heutigen Leserinnen und Lesern diese Themen nicht bekannt vor?
Jetzt, fünfzig Jahre später, legt die Gewerkschaftsstiftung, die nach Brenner benannt ist (er starb einen Tag nach dem Ende der Konferenz), zu ihrem Jubiläum drei Bücher vor: Zur Zukunft der Arbeit, des Journalismus und der Politik. Ein genauerer Blick in den Band „Welche Politik wollen wir?“ könnte die Frage beantworten, ob die Gewerkschaften, die sich zu dem Wir zählen, noch (wie damals) gesellschaftliches Gewicht haben, um intellektuelle Anstöße zur „Aufgabe Zukunft“ geben zu können.
Zwei Sätze seien ins Gedächtnis zurückgeholt: „Die Umweltprobleme stehen jetzt im Mittelpunkt der politischen Debatte.“ Und: „Solidarität in einer neueren und tieferen Bedeutung heißt aber auch, dass die Interessen kommender Generationen kraftvoll im politischen Prozess vertreten sein müssen.“ Wer sie sprach? Es war zur Eröffnung in Oberhausen Olof Palme, der schwedische Ministerpräsident, Sozialdemokrat und 1986 ermordete intellektuelle Charismatiker. In dem Band aus dem Jahr 2022 tauchen solche Sätze nicht mehr auf. Haben sie sich nach einem halben Jahrhundert schamvoll abgenutzt in Sonntagsreden, Parteiprogrammen und Koalitionsverträgen? Oder ist es die Mutlosigkeit einer Gewerkschaft und ihrer Stiftung, „kraftvoll im politischen Prozess“ vertreten zu sein?
Es sind zehn Autorinnen und Autoren, die sich in diesem Band zu Fragen äußern, die ihnen von den Verantwortlichen (Hans-Jürgen Arlt und Benedikt Linden) vorgegeben worden sind, „verbunden mit der Einladung, die Form des Essays zu wählen“ (S.19). Leider bleibt dieses Fragenbündel unbekannt. Es wird irgendetwas zu tun haben mit der Zukunft des Staates, der Zivilgesellschaft und der Demokratie. So lautet schließlich der Untertitel des Buches.
Eingängige Sätze
„Um es vorwegzunehmen: Es ist kein Überblick zu bekommen“. Das ist nicht die Kurzfassung einer Rezension, sondern der erste Satz des ersten Beitrags, geschrieben von der Schriftstellerin Kathrin Röggla. Sie erzählt von ihrer Gesprächsreihe „Welt verändern“ im Schauspiel Köln, berichtet von Begegnungen mit Aktivistinnen und Aktivisten am Frankfurter Flughafen und beklagt die Symbolpolitik und Scheinbeteiligung. „Damals als Mainzer Stadtschreiberin wurde mir klar, dass die alten Machtblöcke durchaus noch existieren, jene Verbindungen von Konzernen und Regierungen. Lufthansa hat nicht umsonst seine Brüsseler Vertretung direkt an die der hessischen Landesregierung gebaut.“ Wer könnte gegen solche eingängigen Sätze etwas einzuwenden haben? Doch was bedeuten sie für die Frage, welche Politik „wir“ wollen? Kathrin Röggla stellt sich in ihrem Text diese Frage überhaupt nicht. Sie sieht „es als eine Hauptaufgabe als Schriftstellerin zu verstehen, in welcher Welt ich lebe“ (S.25).
Die meisten übrigen Autoren, darunter die pensionierten Professoren Dirk Baecker und Dieter Rucht, sowie die Forscherin Bettina Kohlrausch aus dem gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung, sehen ihre Hauptaufgabe darin, in diesem Band die Themen unterzubringen, an denen sie schon länger arbeiten oder die sie gerade interessieren. Baecker erregt sich über den „Bürger 4.0“, bei dem die Selbständigkeit „nur noch bis zur Darstellung eines Profils im Netz“ reiche (S.56). Kohlrausch breitet erneut die seit zwanzig Jahren bekannten ungleichen Bildungs-und Aufstiegschancen aus. Rucht beschreibt das rechte und linke Protestspektrum und wagt immerhin einen Ausblick: „Im Vergleich europäischer Länder nimmt Deutschland hinsichtlich der Profilierung und Positionierung linker und rechter Bewegungen eine mittlere Position ein. Obgleich belastbare Daten bisher fehlen, gibt es doch Anzeichen dafür, das vor allem durch das Erstarken rechter Bewegungen die politische Polarisierung wächst und voraussichtlich weiter wachsen wird“ (S.172). Was der Bürger 4.0 oder all die Protestbewegungen von „Ende Gelände“ bis „Pegida“, von „Lützi lebt“ bis „keine Waffen für die Ukraine“ für eine Politik bedeuten, die „wir“ wollen, bleibt nebelhaft. Die von der Stiftung bezahlten Beiträge sind erschreckend harmlos und unergiebig.
Sind kritische und intellektuelle Köpfe, vor allem aus der jüngeren Generation, für Gewerkschaften oder gewerkschaftsnahe Think Tanks nicht mehr zu gewinnen? Oder hat sich in den letzten fünfzig Jahren die einstige „Arbeitermacht“ der Politik und Wissenschaft entfremdet? Einer der wichtigsten Vordenker und Netzwerker der Konferenz von Oberhausen war damals Hans Matthöfer, langjähriger Leiter der Bildungsabteilung in der IG Metall und zum Zeitpunkt der Tagung Frankfurter SPD-Bundestagsabgeordneter und Parlamentarischer Staatssekretär (im Entwicklungsministerium) in der Regierung Willy Brandts, ab 1974 dann Wissenschaftsminister: In seinem Buch „Für eine menschliche Zukunft“ (1976) übersetzte Matthöfer die Erkenntnisse von Oberhausen in praktische Politik, die „wir“ wollen sollten. Es blieb damals vieles angedacht oder von der Bildung über die Umwelt bis zur Humanisierung des Arbeitslebens in Reformansätzen stecken, aber manchmal lohnte sich dennoch ein Blick zurück: Zum Nach-Denken und Weiterdenken.
Ein Beitrag in dem neuen Band fällt aus dem Rahmen, obwohl auch er nicht auf die Frage eingeht, welche Politik ein Wir denn wollen soll. Imran Ayata, den „Kanak Attak“ und seine Kampagnenagentur „Ballhaus West“ bekannt machten, nimmt sich „Almanya“ als eine Gesellschaft vor, die fünfzig Jahre brauchte, um das Wort Einwanderungsgesellschaft in den politischen Alltag einzuführen, obwohl inzwischen mehr als jede und jeder vierte in diesem Land eine Migrationsgeschichte hat: 21,2 Millionen Männer und Frauen (S.97, Zahlen aus dem Jahr 2019).
Ayata erinnert an die sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, an die Gastarbeiterkarawanen, die Sommer für Sommer vollgepackt vom Ruhrpott über den „Autoput“ der E 5 in den Süden gefahren sind. Er erwähnt den Streik der Gastarbeiterinnen beim Autozulieferer Pierburg in Neuss (1973) für eine Mark mehr am Fließband und gegen die „Leichtlohngruppen“, mit denen die Türkinnen, Jugoslawinnen, Griechinnen, Spanierinnen der ersten „Gast“-Generation abgespeist worden sind (im übrigen: Diesen Frauen hat Gün Tank in ihrem Debütroman „Die Optimistinnen. Roman unserer Mütter“ ein hinreißend lebendiges, großartiges Buch gewidmet). In seinem Beitrag „Leben, lieben, kämpfen – in einem anderen Land“ wirbt Imran Ayata für einen Perspektivwechsel, „der darin besteht, Einwanderung und Migration als nichts Temporäres oder Vergängliches sondern als gesellschaftliche Normalität zu begreifen“ (S.91). Zu der gesellschaftlichen Normalität werde es gehören, dass der Anteil der Bürgerinnen und Bürger mit Migrationsgeschichte wachsen werde. Das Jahrhundert der Migration habe für Almanya erst begonnen. „Das Deutschland von morgen wird sehr viel stärker von Einwanderung geprägt sein, als es heute schon ist,“ schreibt Ayata (S.99).
Klare Botschaft
In einer solchen Gesellschaft zu leben, heiße, „kontinuierlich über Rassismus zu sprechen“. Rassismus sei ein Thema „der gesamten Gesellschaft und nicht delegierbar auf so genannte Minderheiten. Das ist sogar grundfalsch. Rassismus ist das Thema aller, weshalb der Kampf gegen Rassismus und Hass in Almanya als gesamtgesellschaftliche Aufgabe leidenschaftlicher und energischer geführt werden muss“ (S. 95). Das ist Imran Ayatas Anfrage an das Wir, die derzeitige Mehrheit oder die demokratischen Institutionen, die sich scheinbar daran gewöhnt habe, „dass rassistische Diskriminierungen verharmlost, Menschengruppen stigmatisiert, Flüchtlingsheime, Aktivistinnnen und Aktivisten sowie Politikerinnen und Politiker angegriffen werden. Indem wir dieser Gewöhnung nichts entgegenstellen, erfahren Nationalismus, Ressentiments und gruppenbezogener Hass weiter Akzeptanz“ (S. 97).
Es sind klare Sätze, die auch als eine klare Botschaft an die Gewerkschaft gelesen werden können, die über ihre Stiftung die Frage „Welche Politik wollen wir?“ gestellt hat: Sie richtet sich nicht zuletzt an sie selbst. Damals in Oberhausen fiel das Wort Gastarbeiter und Einwanderungsgesellschaft keinem einzigen Redner ein. Heute kommen die Gewerkschaften nicht um die Frage herum, was sie „dieser Gewöhnung“ entgegenstellen, entgegen zu stellen haben. Im Herbst könnte die Industriegewerkschaft Metall entscheiden, ob sie mit einer Doppelspitze mit der klugen Soziologin Christiane Benner, der jetzigen zweiten Vorsitzenden, und dem baden-württembergischen „Tariffuchs“ Roman Zitzelsberger „kraftvoll im politischen Prozess vertreten“ sein will, um noch einmal an Olof Palme zu erinnern. Ende März soll diese mehrfach vertagte Empfehlung an den Gewerkschaftstag fallen. Nur Mut zu diesem neuen Wir: Es könnte für Politik und Gesellschaft ein Gewinn sein.
Unter dem Titel „Dürftige politische Aussichten“ erschien die Rezension zuerst auf Faust-Kultur.
Dass Autor:innen über Themen schreiben, „an denen sie schon länger arbeiten oder die sie gerade interessieren“, ist ein interessanter Vorwurf. Er schließt die Annahme ein, der Herausgeber hätte den eingeladenen Autor:innen Fragen vorgegeben, an denen sie nicht arbeiten oder die sie nicht interessieren.
Nun war ich am Entstehen dieses Buches beteiligt und meine Bemerkungen zu der Rezension sind mit aller Vorsicht zu lesen. Zwei mache ich trotzdem noch.
1. Dirk Baeckers tiefschürfende gesellschaftstheoretische Analyse zum Begriff des Bürgers mit einem (daneben liegenden) Satz und dem Hinweis auf Baeckers Alter abzutun (ich bin fast zehn Jahre älter) – das hat was.
2. Die nostalgische Erinnerung an die (gewerkschafts-)politische Kommunikation der 1970er Jahre tut unausgesprochen so, als seien die schönen und klugen Reden mit der damaligen praktischen Politik identisch gewesen. Vor allem aber läuft die Unterstellung mit, politisches Handeln habe heute dieselben Voraussetzungen und Möglichkeiten wie vor 50 Jahren. Kathrin Rögglas realistische Zeitdiagnose, „es ist kein Überblick zu bekommen“, und die Anstrengung der Schriftstellerin, „zu verstehen, in welcher Welt ich lebe“, werden gegen sie (und gegen das Buch) verwendet. Blame the messenger!