Was heißt „linke Politik“ und was wird aus ihr?

Otto Freundlich (1878-1943): Mein roter Himmel
(Public domain auf wikimedia commons)

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind

  • für die äußere Rechte moderne Irrwege gegen die auf Kampf, Vorherrschaft, Rassen und Geschlechtsunterschiede gepolte menschliche Natur;
  • für die Mitte Grundwerte politischer Rhetorik, die in den Menschenrechten, dem Rechtsstaat sowie freien, gleichen und geheimen Wahlen institutionelle Anker haben, im Alltag aber allfälligen Notwendigkeiten des Kapitalismus und männlicher Macht weichen müssen;
  • für die Linke ein gesellschaftliches Großprojekt der Moderne, das es zu vollenden gilt.

Die politische und gesellschaftliche Linke findet sich in verschiedenen inhaltlichen Schattierungen und organisatorischen Formationen wieder: in Parteien, in Gewerkschaften, in zivilgesellschaftlichen Organisationen, in emanzipatorischen sozialen Bewegungen. Entsprechend divers sind die Inhalte „linker Politik“. Doch was ist das Gemeinsame? Ein Versuch in sieben Schritten, der sich an den grob skizzierten Eingangsunterscheidungen orientiert.

„Sozialismus im Sinn gemeinsamer Naturbeherrschung, Abschaffung der Unterschiede von Besitz und Notstand, Garantie der größten, nur durch die Erfordernisse friedlichen Zusammenlebens eingeschränkten individuellen Unabhängigkeit, erscheint als Resultat des westlichen Gedankens über den Gang der Zivilisation. Die Verbindung mit dem Klassenkampf ist überholt. Das Ziel liegt in Wahrheit Proletariern nicht näher als den aufgeklärten Bürgern.“ Max Horkheimer, Marx heute (1981 [1968])

1 Gleichheit und Unbehagen an der Ungleichheit

„Linke Politik“ erhält, gestaltet und weitet die materiellen, sozialen und kulturellen Räume für das „Linkssein“ in kapitalistisch strukturierten Gesellschaften mit einem demokratischen politischen System. Linke Politik stellt einen Zusammenhang her zwischen der sozialen Lage und bestimmten Werten und normativen Orientierungen von Individuen auf der einen Seite und den ökonomischen, sozialen und politischen Strukturen und Machtverhältnissen der vorgefundenen Gesellschaft auf der anderen Seite.

„Linkssein“ meint bestimmte, früh erworbene, über familiäre, Klassen- und Milieubindungen tradierte Deutungen und Haltungen zur Welt, damit verbundene Orientierungen in der Lebensführung und entsprechende Alltagspraxen, die sich vom „Rechtssein“ unterscheiden: Gleichheit und Fairness, Demokratie und Freiheit, Gemeinschaft/Kooperation und Solidarität als erstrebenswerte Leitlinien der eigenen Lebensgestaltung. Die wesentliche Scheidelinie, aus der sich letztlich alles andere ergibt, ist – mit Noberto Bobbio (2021) – das Verhältnis zur Gleichheit. „Links“ steht für eine horizontale, egalitäre Vision von Gesellschaft, „rechts“ für eine vertikale, hierarchische Vorstellung: Gleichheit oder Ungleichheit der Rechte und Pflichten gegenüber der Allgemeinheit, unabhängig oder abhängig von Stand, Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, Einkommen.

Der Autor
Horst Kahrs ist Sozialwissenschaftler, zuletzt von 2012 bis 2021 als Referent für die Rosa-Luxemburg-Stiftung auf den Themenfeldern Demokratie und Wahlen, Klassen und Sozialstruktur erwerbstätig. Er ist der Stiftung weiterhin als Senior Fellow verbunden.
Siehe auch das bruchstücke-Interview „Linkspartei: Zu erschöpft für eine produktive Spaltung

Wer dem Axiom der Gleichheit folgt, sieht die Grenzen der eigenen Freiheit in der Freiheit des Anderen, erkennt jedem und jeder das gleiche Recht zu auf Sicherheit und Kontrolle der eigenen Lebensbedingungen und das gleiche Recht auf Selbstbestimmung der eigenen Biografie, auf Emanzipation und Persönlichkeitsbildung. Ungleichheit muss sich legitimieren vor denen, die von ihr negativ betroffen sind: Warum es gerecht oder zumindest hinzunehmen sein soll, dass die einen weniger Kontrolle und Selbststimmung über ihre Biografie haben (sollen) als die anderen. Marx verband Gleichheit einst mit dem kategorischen Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx 1976, S. 385) und stattdessen gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Marx und Engels 1977, S. 482). Der revolutionäre Impuls, der von der Gleichheit ausgeht, bezieht sich von Beginn an auf „den Menschen“, nicht nur „den Arbeiter“. Und gleichzeitig stößt er an die Grenzen dessen, was dem „Linkssein“ an Lebenspraxis als Teil einer Ungleichheit perpetuierenden Gesellschaft möglich und abzuverlangen ist. Das Unbehagen und Leiden an den „falschen“ Zuständen ist dem Linkssein eingeschrieben. „Rechtssein“ heißt, die Verhältnisse zum eigenen Vorteil auszunutzen, wie schlecht es anderen dabei auch ergehen mag.

Linke Politik greift dieses Unbehagen, das Gefühl wie auch das Wissen auf, dass es so, wie es ist, nicht gut ist bzw. nicht gut gehen kann, und übersetzt es in politische Energie, in kollektive Kräfte der emanzipatorischen Veränderung. Sie bearbeitet die Spannung, die Ungleichzeitigkeit zwischen „Wie es sein sollte und könnte“ und „Wie es tatsächlich ist“, sie reflektiert den Unterschied zwischen den Möglichkeiten notwendiger Veränderung und den je eigenen Möglichkeiten individuellen Handelns. Sie beschreibt, wie es besser sein könnte und warum es „machbar“ wäre. Sie zeigt und öffnet Wege, damit Bürgerinnen und Bürger aktiver Teil gesellschaftlicher Transformation werden können.

Otto Freundlich: Kosmischer Kommunismus-9690.
Ausstellung im Museum Ludwig in Köln, Februar 2017
(Foto: Raimond Spekking auf wikimedia commons)

2 Das „Reich der Freiheit“

Linke Politik will niemanden „beglücken“. Sie zielt zuallererst auf die Abwesenheit von unnötigem Mangel und auf den gleichberechtigten Zugang zu den materiellen und sozialen Mitteln, die für ein selbstbestimmtes, „erfülltes menschliches Leben“ (Wright 2019) notwendig sind: Wasser, Energie, Nahrung, Wohnung, Gesundheitsfürsorge, Bildung und Wissen, Information, Kommunikation, Mobilität. Der Kapitalismus hat in über zweihundert Jahren die menschlichen Produktivkräfte so weit entwickelt und unabhängig von den Zufällen der Natur gemacht, dass in keinem Flecken des Planeten noch Mangel an diesen elementaren Lebensmitteln herrschen müsste. Herrschaft, die sich mit der Sicherung des Lebensnotwendigen begründet, verliert damit vor dem Prinzip der Gleichheit ihre Legitimation. Und mit der Entwicklung der Produktivkräfte geht auch jedes Argument verloren, warum das Prinzip der Gleichheit und des gleichberechtigten Zugangs nicht universell gelten sollte – und kann.

Der Kapitalismus und die „große Industrie“ schufen die materiellen Voraussetzungen für zivile, freundliche und gute nachbarschaftliche Verhältnisse zwischen den Menschen und Staaten – jedoch auf eine Weise und mit Methoden, die vielfach das genaue Gegenteil praktizierten. Mit Unterdrückung und Ausbeutung schuf der Kapitalismus Verhältnisse, die gutes Arbeiten und gutes Leben für alle möglich machen würden. Aus diesem Widerspruch speisen sich Wunsch und Wille zur Veränderung, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Wenn heute eine Welt ohne Mangel möglich wäre, warum sollte es nicht auch Morgen und Übermorgen so sein? Deshalb geht es immer auch darum, für zukünftige Generationen die Abwesenheit von Mangel mindestens auf dem gegenwärtigen Niveau eines erfüllten Lebens (nachhaltig) zu erhalten. Linkssein kennt ein Morgen bzw. eine Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen; umso mehr, als ökologische Zerstörung und Erderwärmung die materiellen Grundlagen der Abwesenheit von Mangel bedrohen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz vom März 2021 folgt im Grunde einem solchen linken Freiheitsverständnis: Auch in den kommenden Jahrzehnten sollen die Bürgerinnen und Bürger über die demokratische Freiheit verfügen, die gesellschaftliche Entwicklung bestimmen zu können statt ökologischen Notständen unterworfen zu sein.

Der Beitrag ist entnommen aus Otto Brenner Stiftung (Hrsg.) (2022): Welche Politik wollen wir? Zur Zukunft des States, der Zivilgesellschaft und der Demokratie. Das Buch gibt es als Download und (kostenlos) als gedrucktes Exemplar bei der Otto Brenner Stiftung.

3 Demokratie, Freiheit, Solidarität

Das Verständnis von Freiheit, dass sich aus dem Prinzip der Gleichheit herleitet, ist notwendig mit Demokratie verbunden. Meint Freiheit die Selbstbestimmung, die freie Entscheidung die eigene Person betreffend (Privatsphäre), so meint Demokratie die Entscheidungen, die auch weitere Personen betreffen (öffentliche Sphäre). Demokratie beschränkt sich in diesem Verständnis nicht auf die „Herrschaft des Volkes“ bzw. die Kontrolle der Staatsmacht durch die Bürgerinnen und Bürger. Dem Linkssein geht es um die demokratische Gesellschaft, um Demokratie als Lebensweise (Oskar Negt), um mehr als den demokratischen Staat: die Beseitigung aller Hindernisse, die Menschen im Wege stehen, sich angemessen und gleichberechtigt an allen Entscheidungen beteiligen zu können, die ihr Leben in erheblichem Umfang beeinflussen. Ob sie es dann auch tun, steht auf einem anderen Blatt.

Eine demokratische Gesellschaft ist ohne demokratischen Betrieb, ohne die „freie Assoziation der freien Produzenten“ des Kommunistischen Manifestes nicht denkbar. Lohnarbeit, der Verkauf der eigenen Arbeitskraft, impliziert, für begrenzte Zeit am Tag die Verfügung über die eigene Lebenszeit an Andere abzutreten. Kapitalismus bedeutet Produktion von Mehrwert mittels der Fähigkeit, fremde Lebenszeit kommandieren zu können. Die dem frühen Kapitalismus gemäße Utopie behauptete, die Entwicklung der betrieblichen und gesellschaftlichen Arbeitsteilung und des Produzentenwissens lasse die Abwesenheit von autoritärer Herrschaft heranreifen, ermögliche die demokratische Kontrolle des Betriebes und der gesamten gesellschaftlichen Produktion. Tatsächlich scheiterten alle historischen Versuche, dieses Versprechen wahr werden zu lassen, an den Problemen demokratischer Planung der gesellschaftlichen Investitionsentscheidungen, und führten stattdessen zu neuen Formen autoritärer bürokratischer Herrschaft und Bevormundung. Auf einem anderen Weg wurden Tarif- und Arbeitsrecht, betriebliche Mitbestimmung und Elemente der Wirtschaftsdemokratie auf- und ausgebaut, aber eine Demokratisierung der Investitionsfunktion unterblieb. Szenarien zu entwickeln, wie eine Wirtschaft funktioniert, deren Organisationen lokal, regional, national und global auf demokratischen Entscheidungsprozessen fußen, ist die große Herausforderung.

Ein moderner Sozialstaat ist für eine demokratische Gesellschaft in kapitalistischen Formationen nahezu unabdingbar. Neben allen materiellen Sicherungen gegen elementare Not und neben dem Abbau von gesellschaftlichen Hindernissen gleicher Beteiligung obliegt es ihm zu gewährleisten, zu einem vertretbaren Preis „Nein“ sagen zu können: zu Über-Ausbeutung, zu mangelndem Respekt und Diskriminierung, zur Missachtung der Rechte anderer. Wer sich in existentieller Abhängigkeit befindet, kann nicht frei entscheiden. In diesem Sinne verlässliches „Sozialeigentum“ (Robert Castel 2011) versteht linke Politik als notwendige Kehrseite des Eigentums an den Produktionsmitteln. Ursprünglich als Absicherung der spezifischen Risiken der Lohnarbeit (Alter, Krankheit/Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit) entstanden, fällt dem Sozialstaat in demokratischen Gesellschaften auch die Aufgabe zu, generell die notwendigen Voraussetzungen für die Wahrnehmung demokratischer Beteiligungsrechte zu schützen und zu sichern.

Schließlich zählen zum Linkssein Solidarität, Gemeinschaft, Kooperation, Fürsorge füreinander. Menschen sollten miteinander kooperieren, sich wechselseitig moralisch verpflichtet fühlen und an den Belangen anderer interessiert sein. Solidargemeinschaften wie Nachbarschaften, Vereine, Organisationen, Dörfer und Städte, auch Nationen sind immer auch Schutzgemeinschaften und beweisen sich in der Not. Gemeinschaften jedweder Art haben Zutrittsregeln, gerade auch für die Inanspruchnahme von Solidarität in einem Verein, einer Gewerkschaft, einer Solidarkasse, in einem Nationalstaat. Sie unterliegen einer fatalen Dialektik: Je stärker dieses Gemeinschaftsgefühl mit starren Grenzen der Zugehörigkeit und Mitgliedschaft verbunden ist – oft Bedingungen für ein hohes Maß an innerer Egalität – desto repressiver kann es alle ausschließen, die nicht dazugehören. Solidarität ist nicht per se links, sondern nur im Zusammenspiel mit den anderen linken Maßstäben zur Bewertung gesellschaftlicher Institutionen und sozialer Strukturen. Diese Maßstäbe selbst stehen in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander: die Abwesenheit von Mangel für alle gleich zu gewährleisten, birgt die Tendenz zur Unfreiheit (Max Horkheimer 1981 [1968]).

Otto Freundlich: Kosmischer Kommunismus-9679
Ausstellung im Museum Ludwig in Köln, Februar 2017
(Foto: Raimond Spekking auf wikimedia commons)

4 Allfälliges Streben nach universeller Gültigkeit

Linke Politik entwickelt sich in zweierlei Spannungsfeldern. Erstens sind da die global äußerst ungleich verteilten Möglichkeiten eines erfüllten Lebens, für Hunderte von Millionen geht es stattdessen tagtäglich um das nackte Überleben. Das Wissen um die himmelschreiende Ungerechtigkeit von Hunger, Wasserund Energiemangel nährt ständiges (wenngleich ungleich verteiltes und unterschiedlich starkes) Unbehagen am noch so bescheidenen Wohlstand hier. Dieses Unbehagen kann zur emphatischen Quelle linker Politik werden wie auch zu affektiver Abwehr, zu Nationalismus,

Rassismus, Festungsmentalität führen. Und zweitens geht es darum, die Wertmaßstäbe, die normativen Orientierungen linker Politik immer wieder neu auszubalancieren, einer einseitigen Verabsolutierung zu widerstehen und diese ständige Abwägung erkennbar und nachvollziehbar, also lebensnah zu machen; zu wissen, wo die Grenzen des Handelns einzelner liegen und wo Institutionen und Strukturen verändert werden müssen, um diese Grenzen zu verschieben.

Vor fast dreißig Jahren diagnostizierte Eric Hobsbawm im „Zeitalter der Extreme“ zwei langfristige Entwicklungslinien, die beiden „zentralsten und auf lange Sicht entschiedensten Probleme“ gesellschaftlicher Entwicklung und damit linker Politik: ökologische Krise sowie Bevölkerungswachstum und Migration. Die reichen Länder mit ihren vielen alten Bürgerinnen und Bürgern und wenigen Kindern sähen sich vor die Wahl gestellt, entweder massive Immigration zu gestatten, um den Preis heftiger innerstaatlicher Spannungen, oder sich zu verbarrikadieren, was sich als unmöglich herausstellen würde. „Unstrittig aber ist, dass diese Spannungen in den kommenden Jahrzehnten ein wesentlicher Faktor jeder nationalen wie der globalen Politik sein werden.“ (Hobsbawm 1998, S. 701) Die ökologische Krise erfordere globale Lösungen, müsse zugleich radikal und realistisch sein und verlange ein Gleichgewicht zwischen der Menschheit, den von ihr konsumierten (ersetzbaren) Ressourcen und den Auswirkungen ihrer Aktivitäten auf die Umwelt – eine Aufgabe, die „weder wissenschaftlicher noch technologischer, sondern politischer und gesellschaftlicher Art“ sei. Die Krise, in die linke Politik seit den 1990er Jahren europaweit geraten ist, hat viel mit der Leugnung der Bedeutung dieser beiden Entwicklungsdynamiken bzw. mit unzureichenden Antworten zu tun.

Universelle Gleichheit verlangt, jedem Menschen, ob Frau oder Mann, das gleiche Recht zuzugestehen. Jeder Mensch hat demnach das Recht, sich auf die Suche nach besseren Lebensbedingungen zu begeben. Doch welche Pflichten folgen daraus für die Gesellschaft, in die migriert wird? Jeder Mensch hat das Recht auf einen gleichen „ökologischen Fußabdruck“. Mit der entsprechenden nationalstaatlich verfassten Ungleichheit in den alten Industriestaaten – der Treibhausgasausstoß der Lebensweise der wohlhabendsten zehn Prozent in Deutschland ist sechsmal höher als die Emission der ärmeren Hälfte – lernt die linke Politik allmählich politisch umzugehen. Doch was folgt daraus – und in welchem Zeitrahmen – angesichts der globalen Ungleichheit? Was bedeutet das für systematisch auf Externalisierung ökologischer Kosten setzende entwickelte Volkswirtschaften? Linke Politik wird hierauf Antworten finden müssen, die dem Maßstab universeller Gleichheit auf einer vertretbaren Zeitachse gerecht werden.

Migration und Klimawandel nähren gesellschaftliche Konflikte, die sich nicht eindeutig sozialstrukturell verorten lassen wie der traditionelle Klassenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital bzw. Oben und Unten. Sie durchziehen alle sozialen Schichten. Auch die (industrielle) Arbeiterbewegung war in ihren ideologischen Orientierungen nicht homogen, sondern zuweilen offen gespalten, etwa in die egalitären, zum Beispiel sozialdemokratisch-sozialistischen und die eher hierarchischen, etwa christlich-katholischen Strömungen und Milieus. „Linkssein“ wie „Rechtssein“ sind nicht an bestimmte sozialstrukturelle Voraussetzungen gebunden. Die modernen Ungleichheitskonflikte um Migration (Innen – Außen), Identität (Wir – Sie), Ökologie (Heute – Morgen) ersetzen nicht den klassischen, von linker Politik bearbeiteten Konflikt Arbeit – Kapital oder den patriarchalen Konflikt Mann – Frau. Vielmehr fordern sie linke Politik heraus, politisch produktive Verbindungen zwischen den Konfliktachsen herzustellen. (vgl. Mau et al 2020; Lux et al. 2021).Die Linke ist dabei in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten mehr und mehr in die Defensive geraten gegenüber einer autoritären Rechten, der es zum Beispiel gelungen ist, aus der Verbindung von Identitätsfragen und Migrationsfragen politische Funken zu schlagen.

5 Beteiligung ermöglichen

Eine linke politische Verbindung von Ungleichheitskonflikten könnte an dem ansetzen, was weiter oben als „Unbehagen“ angedeutet wurde, als Brüche, als Spannungen im Linkssein. Die entscheidende Potenz liegt in dem Unterschied zwischen den Möglichkeiten individuellen Verhaltens und systemischen Strukturen. Die historische Erfahrung lehrt, wie kontraproduktiv es ist, Notwendigkeiten, Untergangsszenarien, gar Apokalypsen zu beschwören, um individuelle Verhaltensänderungen – und sei es nur eine Wahlentscheidung – herbeizuführen; und ebenfalls, wie umgekehrt „die Systemfrage stellen“ auch nicht zu zünden vermag. Das Kommunistische Manifest entwarf ein Reich der Möglichkeiten, der Freiheit, das zu gewinnen war, für das zu kämpfen ein erfüllteres Leben versprach. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und dann vor allem nach 1945 setzte sich die Erfahrung fest, dass auch im Kapitalismus bessere Lebensverhältnisse für die arbeitenden Klassen, ein sozialer Aufstieg aus proletarischen Lebenslagen möglich sein kann. Gleichwohl blieb es dabei: links geht es politisch um die kommenden Möglichkeiten, rechts um die Verteidigung etablierter Strukturen.

Tatsächlich kommt es darauf an, dass der und die Einzelne sich in der alltäglichen Lebensführung als aktiver Teil gesellschaftlicher Transformation begreifen kann, wenn er und sie es wollen. Dafür dürfen sie nicht vor unüberwindlichen bzw. nicht zumutbaren Hindernissen stehen. Selbstverständlich kommt es bei der ökologischen Transformation auch auf das individuelle Verhalten an, doch wenn mehr als vier Fünftel aller Emissionen in Deutschland energiebasiert sind, sind der Wirkung individuellen Verhaltens enge Grenzen gesetzt.

Bedacht werden muss indes vor allem, dass die alltägliche Lebensführung gerade deshalb alltäglich ist, weil sie auf bestimmten Routinen beruht. Linke Politik fragt daher danach, über welche Möglichkeiten der Einzelne gemäß seiner sozialen Lage verfügt, seine Alltagsroutinen zu verändern, welche institutionellen bzw. systemisch-strukturellen Umstellungen nötig wären, um diese Möglichkeiten zu vergrößern. Linke Politik empört sich daher, wenn zum Beispiel die staatlich verordneten Regelsätze für die Grundsicherung keinen ausreichenden Anteil für den Kauf nachhaltig produzierter Lebensmittel vorsehen, aber gleichzeitig Konsumenten-Entscheidungen beim Umbau der Landwirtschaft eine zentrale Rolle spielen sollen (vom Inflationsausgleich zu schweigen). So wird ein Bevölkerungsteil systemisch gehindert, Teil des gesellschaftlichen Projekts der sozialökologischen Transformation zu sein. Aus diesem Grund, um diesen und andere Ausschlüsse zu verhindern, um die Teilhabe zu ermöglichen, hat linke Politik ein besonderes Augenmerk für die soziale Lage der einkommensärmeren Teile der Bevölkerung; und wird den wohlhabenderen Teilen aus Gründen der Gleichheit größere Anstrengungen zur Veränderung ihres Alltages vorschlagen. Linke Politik steht, so wäre zu verallgemeinern, nicht auf der Seite „der Arbeiterin“, weil sie Arbeiterin ist, sondern weil in einer Gesellschaft, in der Bildungskapital zur sozialen Distinktion entscheidend geworden ist, der ja immer noch notwendigen Handarbeit die gleiche soziale Würde und Anerkennung zukommen sollte wie der Kopfarbeit.

Otto Freundlich: Kosmischer Kommunismus-9662
Ausstellung im Museum Ludwig in Köln, Februar 2017
(Foto: Raimond Spekking auf wikimedia commons)

6 Politische Ökonomie der Arbeit

Wie lassen sich diese Perspektiven auf linke Politik bündeln, was sollte erkennbarer Fluchtpunkt linker Politik sein? Linke Politik könnte der politischen Ökonomie des Kapitals eine politische Ökonomie der Arbeit, der Arbeitskraft bzw. des Arbeitsvermögens gegenüberstellen, die sich sowohl auf die (Erfordernisse der Reproduktion der) Ware Arbeitskraft als auch auf die Arbeit als tätige Lebensäußerung freier Persönlichkeiten bezieht. Kreist die politische Ökonomie des Kapitals um die Erwirtschaftung von Mehrwert und Profit, so die politische Ökonomie der Arbeit um die soziale und gesellschaftliche Reproduktion der materiellen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen eines erfüllten Lebens.

Die jüngsten Erfahrungen mit autoritären und faschistoiden Bewegungen, mit der Zersetzung einer demokratischen Öffentlichkeit, mit dem Eintritt globaler „worst cases“ wie der Pandemie, aber auch mit der endgültigen Aufkündigung der Nachkriegsordnung durch den russischen Überfall auf die Ukraine lassen die Gewährleistung von „sicheren demokratischen Lebensverhältnissen“ und „Schutz“ in anderem Licht erscheinen. Welche Lehren können aus diesen gesellschaftlichen Erfahrungen gezogen werden, welche Schlussfolgerungen und Veränderungen sind aus der Sicht einer auf abhängige Arbeit oder kleiner Selbstständigkeit angewiesenen Bevölkerung notwendig?

Die weit überwiegende Mehrheit der Menschen kann sich privat organisierte Sicherheit nicht leisten, sie ist angewiesen auf verlässliche öffentliche Infrastruktur – von der Wasser und Energieversorgung über das Informationswesen und die öffentliche Verwaltung bis hin zur Bildung –, zu der auch in Notzeiten gleichberechtigter Zugang möglich sein muss. Die öffentlichen Einrichtungen, die wirtschaftlichen Prozesse, die für einen krisenfesten Alltag unverzichtbar sind, sowie die demokratischen Institutionen handlungsfähiger und resilienter für kommende Krisen zu machen, sie an zukünftige Extrem(wetter)lagen anzupassen, ist ein alltagsnahes Anliegen, woran linke Politik deutlich machen kann, worum es ihr geht. Die jüngsten Unterbrechungen der Alltagsroutinen zeigten den Verschleiß, die Brüchigkeit und Verletzlichkeit der Gemeinschaftseinrichtungen und die Notwendigkeit, Reserven und Puffer zu schaffen. Deren Umfang und Qualität muss erkämpft werden auf Kosten privatisierter Gewinne, hoher Einkommen und großer Vermögen. Als Leitbild einer solchen Politik demokratischer Resilienz können die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung und Public Health-Politiken dienen: die Entwicklung gesundheitsfördernder Gesamtpolitik und gesundheitsfördernder Lebenswelten, in denen die Kontrolle über die eigenen Lebensverhältnisse und über die eigene Biografie eine wichtige Rolle spielt. Eine besondere Aufgabe kommt dabei der Technologie- und Forschungspolitik (zum Beispiel „künstliche Intelligenz“, Biowissenschaften) zu, womit linke Politik auch wieder zu einem Marx’schen Gedanken zurückfände: für gesellschaftliche und politische Bedingungen zu sorgen, unter denen Wissenschaft, Forschung und Technologie dem Ziel eines erfüllten Lebens im globalen Maßstab dienen.

7 Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus und linkes Erwartungsmanagement

In den zurückliegenden 150 Jahren konnte sich kein alternatives gesellschaftspolitisches System, kein „SozialismusModell“ erfolgreich gegen den Kapitalismus behaupten. Das spricht nicht grundsätzlich gegen den revolutionären Umsturz als modus operandi linker Politik, macht aber die verbreitete Skepsis im (Wähler-)Potential linker Politik gegenüber der „Systemfrage“ verständlich. Seit dem Ende der Systemkonkurrenz liegt die Zustimmung zu den „Werten des Sozialismus“ im Gegensatz zu den „Werten des Kapitalismus“ in den Industrieländern konstant zwischen 40 und 60 Prozent der Bevölkerung bei gleichzeitiger Ablehnung des vormals real existierenden Systems. Dass eine dauerhafte emanzipatorische Überwindung des Kapitalismus möglich ist, zählt nicht mehr zu den Gewissheiten linker Politik, wohl aber die Erfahrung, dass es gelingen kann, ihm demokratische sozialstaatliche Zügel anzulegen und Entwicklungsrichtungen etwa durch staatliche Forschungs-, Struktur- und Industriepolitik zu beeinflussen. Auch ist es möglich, Lebens- und Wirtschaftsbereiche in relativer Unabhängigkeit vom Profitprinzip zu organisieren und so alternative soziale Milieus zu stützen. Andererseits zeigt sich die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus gerade auch in der Aneignung von Elementen der Gegenkultur, kultureller Codes und Emanzipationsbestrebungen.

Auf der linken Seite des politischen Feldes agieren eine Vielzahl von Organisationen, Parteien, Bewegungen mit je eigenen Schwerpunkten. Was oftmals als Zersplitterung der Kräfte wahrgenommen wird, lässt sich auch als angemessener Ausdruck der Komplexität globaler gesellschaftlicher Verhältnisse begreifen. Für eine erfolgreichere Zukunft linker Politik käme es dann darauf an, den gemeinsamen linken Wertehorizont erkennbar zu machen, nämlich das Streben nach Verwirklichung universeller Gleichheit von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus als Basis für politische Kooperation und Synergien.

Bezug genommen werden könnte dabei auf Willy Brandt: Nachdem die Sozialdemokratie im nationalstaatlichen Rahmen mit betrieblicher Mitbestimmung und Ausbildungsförderung im institutionellen Sinn die letzten „Lücken“ im Sozialstaat geschlossen hatte, stellte er 1980 als Vorsitzender der UN-„Nord-Süd-Kommission“ mit dem Bericht „Das Überleben sichern“ (Brandt 1982) die Linken nun vor eine globale Herausforderung. Liest man diesen Bericht heute erneut, werden die Versäumnisse der zurückliegenden Jahre deutlich. Die transnationalstaatliche Zusammenarbeit der Linken ist unterentwickelt, gerade auch angesichts der sich herausbildenden neuen machtpolitischen Weltordnung. Und das Erwartungsmanagement vieler Linker gerade in „Menschheitsfragen“ bewegt sich nicht auf der Höhe der Zeit bzw. bleibt alten Aporien verhaftet: Man sollte aufgrund der Produktivkraftentwicklung des Kapitalismus erwarten, dass Hunger und absolute Armut abgeschafft wären. Man kann damit aber nicht warten, bis der Kapitalismus überwunden ist. Die Dringlichkeit der Dekarbonisierung der globalen Wirtschaft wird nur innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsweise in dem notwendigen Zeitrahmen möglich sein – ob es mit ihr gelingt, ist gleichwohl mit guten Argumenten zu bezweifeln. Radikaler Pragmatismus als linker Politikmodus verlangt vom Kapitalismus daher doppelte Anpassung: Dekarbonisierung, um weitere Erderwärmung zu begrenzen, und sozio-ökologische Maßnahmen zur Anpassung an den stattfindenden Klimawandel.

Literatur

Die Links wurden am 19. Juli 2022 zuletzt überprüft.
Bobbio, N. (2021 [1994]). Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung. Berlin: Wagenbach
Brandt, W. (Hrsg.) (1982): Das Überleben sichern. Bericht der Nord-Süd-Kommission. Gemeinsame Interessen der Industrieund Entwicklungsländer. Köln: Kiepenheuer & Witsch
Castel, R. (2011). Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums. Hamburg: Hamburger Edition
Hobsbawm, E. (1998). Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München: dtv
Horkheimer, M. (1981 [1968]). Marx heute. In Ders., Gesellschaft im Übergang. Aufsätze, Reden und Vorträge 1942–1970, Frankfurt a. M.: Fischer
Lux, T., Mau, S. & Jacobi, A. (2021). Neue Ungleichheitsfragen, neue Cleavages? Ein internationaler Vergleich der Einstellungen in vier Ungleichheitsfeldern. Berliner Journal für Soziologie, 32, 173–212. https://doi.org/10.1007/s11609-021-00456-4
Marx, K. (1976). Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (MEW 1, S. 378-391). Berlin: Dietz
Marx, K., & Engels, F. (1977). Manifest der kommunistischen Partei (MEW 4, S. 459–493). Berlin: Dietz
Mau, S., Lux, T., & Gülzau, F. (2020). Die drei Arenen der neuen Ungleichheitskonflikte. Eine sozialstrukturelle Positionsbestimmung der Einstellungen zu Umverteilung, Migration und sexueller Diversität. Berliner Journal für Soziologie, 30, 317–346. https://doi. org/10.1007/s11609-020-00420-8
Wright, E. O. (2019). Linker Antikapitalismus im 21. Jahrhundert. Was es bedeutet, demokratischer Sozialist zu sein. Hamburg: VSA

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