One dollar, one vote

Offizieller Bildtitel: „IMF family“
(Foto: babella auf wikimedia commons)

Hört man die Warnungen derer, die oft als »Entscheider« tituliert werden, so befindet sich der Weltmarkt in Auflösung. Die Globalisierung, heißt es, schreite rückwärts, es drohe »Fragmentierung«, also eine Aufteilung in konkurrierende Handelsblöcke mit den USA, Europa und China als entgegengesetzten Polen. Dies unterminiere auch die Institutionen der globalen Kooperation. Doch während die Welthandelsorganisation WTO in einer Dauerkrise steckt, erweist sich die zweite Säule der Nachkriegs-Weltwirtschaftsordnung als bemerkenswert stabil: der Internationale Währungsfonds (IWF). Er verfügt über immer größere Mittel und weitet sein Engagement stetig aus. Dies liegt an seiner Funktion als Krisenmanager, die in unruhigen Zeiten an Bedeutung gewinnt – für das globale Geschäft sowie für jene Mächte, die ihn seit Jahrzehnten kontrollieren.

Es gab Zeiten, in denen der IWF heftig kritisiert wurde. Als in den 1980er Jahren insbesondere Entwicklungsländer Lateinamerikas und Afrikas in eine Schuldenkrise gerieten, half der Fonds mit Krediten aus. Im Gegenzug aber verlangte er harte Sparmaßnahmen und eine investorenfreundliche Politik, die unter dem Namen »Strukturanpassungsprogramm« firmierte: Kürzung von Sozialausgaben, Privatisierungen, Liberalisierung. In den 1990er Jahren folgten die Asien- und Russlandkrise, die der IWF auf gleiche Weise beantwortete.

Daraus speiste sich die Kritik der globalisierungskritischen Bewegung weltweit. Der Protest gipfelte in Demonstrationen bei der IWF-und-Weltbank-Tagung im September 2000 in Prag. »Diese Finanzinstitutionen haben Tausende Menschenleben, Tausende von zwangsumgesiedelten Personen, die Zerstörung der Umwelt und die Verletzung der Menschenrechte auf dem Gewissen«, sagte damals Viktor Piorecký, Sprecher der tschechischen »Initiative gegen ökonomische Globalisierung«, die die Protestkundgebung organisierte. »Tagtäglich werden durch sie auch die sozialen Rechte in dem Maß verletzt, wie wir es uns überhaupt nicht vorstellen können.«

Stärker denn je

Heute ist diese »globalisierungskritische Bewegung« weitgehend verschwunden. Der IWF ist noch da, stärker denn je. Ende 2022 hatte der Fonds fast 250 Milliarden Dollar Kredite und Kreditzusagen in seinen Büchern, 93 Staaten der Welt schulden ihm Geld. Allein in der Corona-Pandemie bewilligte er Kredite über 110 Milliarden Dollar an 86 Länder. Seine größten Schuldner sind Argentinien und Ägypten, mittlerweile gehören auch die Ukraine und Pakistan dazu. Um die Schlagkraft des IWF zu stärken, wurden seine Finanzreserven in der Pandemie um 650 Milliarden Dollar erhöht, so stark wie noch nie.

Nach einer informellen Vereinbarung zwischen den USA und einigen westeuropäischen Ländern ist der Direktor des IWF immer ein/e Europäer/in, während die einflussreiche Position des ersten stellvertretenden Direktors von einem US-Amerikaner besetzt wird. (wikipedia)

Formal überwacht der Fonds jeden seiner 190 Mitgliedsstaaten, auch die reichen. Er prüft ihre Wirtschaftskraft, ihre Finanzsituation und gibt ihnen regelmäßig Ratschläge. In seinen wichtigsten Publikationen – dem Weltwirtschaftsausblick, dem »Fiscal Monitor« zu den Staatsausgaben sowie dem »Global Financial Stability Report« – berichtet er über den Stand der Weltwirtschaft. Materielle Unterstützung inklusive Auflagen vergibt er allerdings nur im Globalen Süden, wo er vielfach mitregiert. Dennoch ist der IWF, anders als die Weltbank, keine Entwicklungsorganisation. Gegründet wurde er 1944 von der US-Regierung, um die Stabilität des globalen Finanz- und Geldsystems als Ganzes zu gewährleisten. Dass diese Aufgabe dazu führt, dass der IWF vor allem in armen Ländern tätig ist, ist kein Zufall, sondern Resultat des Weltmarktes, den der Fonds bewahren soll.

Diesen Weltmarkt gründeten die USA nach dem Zweiten Weltkrieg auf das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) und damit auf das Prinzip des Freihandels. Staatlichen Schutz- und Fördermaßnahmen für nationale Unternehmen wurden so enge Grenzen gesetzt. Die Vorgabe war: Jedes Land durfte sich am globalen Handel beteiligen, musste den anderen aber Zugang zum eigenen Markt gestatten. Gleiche Regeln für Starke und Schwache – im Ergebnis produzierte dieses System nicht nur Gewinner und Verlierer der Konkurrenz, sondern bevorteilte darüber hinaus jene Staaten, die ohnehin traditionell zu den Gewinnern gehört hatten, vor allem in Nordamerika und Westeuropa.

An den Hilfskrediten ist einiges bemerkenswert

Bei den Verlierern wiederum machte sich deren Erfolglosigkeit regelmäßig als Überschuldung bemerkbar. Um dieses System vor seinen stets erwarteten Krisen zu schützen, wurde der IWF ins Leben gerufen – ein Fonds, in den alle Staaten einzahlen und der Krisenländern gegen Auflagen Hilfskredite gewährt. An diesen Hilfskrediten ist einiges bemerkenswert:

Erstens handelt es sich bei ihnen in der Sprache des IWF um zusätzliche »Liquidität«. Der Fonds nimmt also den Standpunkt ein, einem überschuldeten Land fehle es nur vorübergehend an flüssigen Mitteln. Zweitens bleibt ein Land durch die »Hilfe« des IWF zahlungsfähig, auch wenn es das nach ökonomischen Maßgaben gar nicht mehr ist – andere Kreditgeber als den IWF gibt es für solche Länder nicht mehr. Mit der IWF-Hilfe bleibt drittens das überschuldete Land als Geschäftspartner der Weltmarktgewinner erhalten, ihre Investitionen und Kredite müssen nicht abgeschrieben werden, und systemgefährdende Staatspleiten werden verhindert. Das macht den IWF so wertvoll für die großen Weltwirtschaftsmächte: Als Garanten der IWF-Kredite »retten« sie regelmäßig die Zahlungsfähigkeit ruinierter Länder, mindern damit aber weniger den Schaden der Schuldner, sondern bewahren sich selbst vor dem Schaden, den die Schuldner dem System zufügen könnten.

Das ist die Leistung des IWF. Er macht ein System stabil, das permanent Verlierer produziert, fördert so weltweit Investitionen und Handel und sorgt mit den Auflagen für seine Schuldner dafür, dass sie ein investorenfreundliches Klima schaffen, wobei die Investoren zumeist aus dem Globalen Norden stammen. Die verbreitete Kritik am IWF, er zwinge arme Länder zu einer unsozialen Politik, setzt daher etwas spät an. Denn als »Entwicklungsländer« oder »Schwachwährungsländer« sind sie von Beginn an eingeordnet in ein System, das sie als abhängige Anlagesphäre, als Quelle von billiger Arbeit und Rohstoffen für den reichen Norden definiert.

Die 10 größten Kreditnehmer des IWF im Jahr 2020 laut Daten der Weltbank (Screenshot: wikipedia)

Der Stoff, der das System erhält

Dass der IWF eine Institution ist, die die Weltmarktgewinner vor den -verlierern schützt, ist auch an seiner Struktur erkennbar. Zwar zählt der Fonds 190 Mitglieder. Doch gilt in ihm nicht das demokratische Prinzip »One country, one vote«, sondern das Prinzip »One dollar, one vote«: Länder, die mehr zur Finanzkraft des IWF beitragen, haben mehr Stimmrechte. Das sind im Wesentlichen die USA und die EU-Staaten, die auch die Führungsposten des Fonds besetzen. Formal ist der Stimmenanteil der USA mit 16,5 Prozent zwar nicht dominant, sie könnten bei einem geschlossenen Auftreten Japans (6,2 Prozent), Chinas (6,1 Prozent), Deutschlands (5,3 Prozent), Frankreichs und Großbritanniens (je 4,0 Prozent) überstimmt werden. »Bislang hat aber kein Land und keine Ländergruppe sich dafür entschieden, die US-Führung offen herauszufordern«, schreibt Morten Bøås, Professor am Norwegischen Institut für Internationale Angelegenheiten.

Die De-facto-Dominanz des Westens und vor allem der USA resultiert aus der Tatsache, dass sie den »Stoff« liefern, mit dem der IWF das System erhält: Dollar und daneben Euro, Yen und Pfund. Als Emittenten der Weltwährungen, die alle brauchen, stehen sie mit ihrer Kreditmacht gemeinsam hinter dem Fonds und sorgen dafür, dass auch der IWF kredit- und glaubwürdig ist. »Ohne seine reichen Mitglieder kann der IWF nicht funktionieren«, so Bøås. Zwar ist auch China reich. Doch verfügt es nicht über eine Währung, die global gültig ist, sondern bloß über Billionen von US-Dollar.

Der IWF stabilisiert nicht nur die Weltwirtschaftsordnung, auf der die Macht des Westens und insbesondere der USA beruht. Er dient ihnen auch als Mittel der Politik. »Das US-Außenministerium sieht sowohl den Fonds wie auch die Weltbank als Instrumente dafür, die außenpolitischen Ziele der USA zu unterstützen«, erklärt Bøås. In einem Arbeitspapier stellte die Europäische Zentralbank 2008 fest, dass »geopolitische Erwägungen ein wichtiger Faktor bei den Entscheidungen zur Kreditvergabe des IWF sind«. Die geopolitische Bedeutung des Fonds zeigte sich auch am Fall Ukraine: Im Jahr 2013 entschied sich die Regierung unter Wiktor Janukowytsch gegen ein Assoziierungsabkommen mit der EU, an das eine Kreditvereinbarung mit dem IWF über 17 Milliarden Dollar gekoppelt war. Stattdessen wählte Janukowytsch ein Angebot der russischen Regierung über 15 Milliarden Dollar plus Rabatt auf Gaspreise. Als die Maidan-Revolution Anfang 2014 eine prowestliche Regierung in Kiew an die Macht brachte, schwang das Pendel wieder in Richtung IWF-Beistandsabkommen, das eine Voraussetzung für weitere Kredite aus den USA und Europa war.

Der IWF und die Weltbank, so Bøås, »spiegeln die Machtverhältnisse der westlich dominierten Weltordnung wider. Das könnte sich allerdings ändern.« Denn als globale Wirtschaftsinstitutionen müssten sie die ökonomischen Realitäten reflektieren. Und hier ist die Dominanz des Westens nicht mehr uneingeschränkt, insbesondere wegen des Aufstiegs der Staatengruppe BRIC (Brasilien, Russland, Indien, China). Diesem Aufstieg trug der IWF 2012 zwar Rechnung, als er den BRIC-Ländern mehr Stimmrechte einräumte, zulasten Europas. Dennoch, so Bøås, »entspricht Chinas Anteil bei weitem nicht seinem Gewicht in der Weltwirtschaft«. Die Frage sei daher, ob hier ein Kompromiss möglich sei. Wenn nicht, »wird China höchstwahrscheinlich seine eigene Version einer internationalen Ordnung und ihrer Institutionen verfolgen«.

Board of Governors – International Monetary Fund (IMF)
(Photo: 1999, International monetary fund)

»Great power rivalry« mit China

Mit der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) und der Belt and Road Initiative sind erste Ansätze Chinas erkennbar, sich zur Alternative zu IWF und Weltbank aufzubauen. Zudem versucht Peking, durch die Internationalisierung seiner Währung Renminbi seine Abhängigkeit vom US-Dollar zu reduzieren und selbst zum Emittenten einer Weltwährung zu werden. Bis es so weit ist, nutzt China verstärkt seine Dollars, um als Kreditgeber für arme Länder und damit als Konkurrent des Westens aufzutreten. Im Jahr 2017 warnte der US-Außenminister Mike Pompeo, man werde genau beobachten, ob die Regierung von Pakistan neue IWF-Kredite dazu verwenden werde, chinesische Kredite zu bedienen. Und als Argentinien vergangenes Jahr über neue IWF-Kredite verhandelte, »spielte es seine geopolitischen Karten aus«, so Ex-IWF-Direktor Martin Mühleisen. Noch während der Verhandlungen trat Argentinien der Belt and Road Initiative Chinas bei und sandte damit ein starkes Signal an Washington. Gleichzeitig bewarb sich das Land offiziell um eine Aufnahme in die Gruppe der BRICS+.

Die US-Regierung hat die »great power rivalry« mit China zu ihrem wichtigsten außenpolitischen Projekt gemacht. Europa schließt sich inzwischen vorsichtig an. Diese Konkurrenz wird sich im Fall des Währungsfonds nicht durch Kompromisse bei Stimmrechtsfragen befrieden lassen. Ohne Kompromisse aber, so Bøås, drohen »dramatische Konsequenzen für die bedeutsamsten Institutionen der Nachkriegsordnung, den IWF und die Weltbank«. Und damit dramatische Konsequenzen für die Weltwirtschaft. Denn angesichts der rasch aufeinanderfolgenden Krisen sei ein verlässliches, globales finanzielles Sicherheitsnetz mit dem IWF im Zentrum nun wichtiger denn je, wie der Fonds in seinem Jahresbericht 2022 schreibt. Gleichzeitig habe sich »das Risiko für eine geopolitische und wirtschaftliche Blockbildung stark erhöht«.

Die Grenzen der Blöcke verlaufen nicht nur zwischen den USA und China, sondern auch zwischen den USA und Europa. Alle drei beklagen neuerdings ihre ökonomische »Abhängigkeit« von den anderen und zielen im Sinne ihrer »nationalen Sicherheit« auf »strategische Souveränität«,  »offene Autonomie« und »technologische Führerschaft«, sichern sich Patente, Rohstoffe und Märkte. Damit geben sie zu Protokoll, dass sie die Konkurrenten zunehmend als Gefahr für sich sehen, der zu begegnen ist. Für die US-Regierung geht es dabei darum, die anderen Blöcke zur Stärkung der amerikanischen Weltordnung einzubinden. Die Konkurrenten der USA wiederum stehen vor dem Dilemma, dass sie unter der Dominanz der USA leiden, diese Dominanz aber der Pfeiler ist, auf dem die Welt- und Weltwirtschaftsordnung ruht, die alle benötigen.

Unter dem Titel „Der Kredit der Weltordnung“ erschien der Beitrag zuerst auf oxiblog.

Stephan Kaufmann
Stephan Kaufmann ist Wirtschaftsjournalist und Sachbuchautor. Er arbeitet als Wirtschaftsredakteur und schreib für die Berliner Zeitung, die Frankfurter Rundschau und den Kölner Stadt-Anzeiger. Aktuell gehört er zur Redaktion vom nd und OXI

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