Streik macht Arbeit sichtbar

Screenshot: Twitter

Ein paar Randnotizen zum „Monster-Streik“, zum „schlimmsten Streik seit 31 Jahren“, zu dem „Megastreik, vor dem Deutschland zittert“, der „das ganze Land lahmlegt“. Arbeitsleistungen zu verweigern, wird seit jeher als eine Provokation wahrgenommen: Arbeit soll gehorchen. Streiks werden in nicht wenigen Ländern bis heute von Polizei und Militär niedergeknüppelt. Wer kennt in der modernen Sozialgeschichte einen Streik, der in der Öffentlichkeit, der vom Journalismus begrüßt und befürwortet worden wäre? Unsere Gesellschaft und mit ihr der Journalismus schaut durch die Brille der Wirtschaft auf die Arbeit. Medien haben keine Arbeitsredaktion, sondern eine Wirtschaftsredaktion. So ein Streik verändert die Sichtverhältnisse. Streiks machen die Arbeit sichtbar.

Unbezahlte Arbeit

Am unsichtbarsten ist – im Verhältnis zu ihrer tatsächlichen Bedeutung – die unbezahlte Arbeit. Ohne die versorgende und pflegende Reproduktionsarbeit hätten wir alle keine Überlebenschancen, aber für die Öffentlichkeit ist sie in der Regel völlig uninteressant. Die bezahlte Arbeit verschwindet, solange „Arbeitsfrieden“ herrscht, in den Medien weitgehend hinter Umsatzzahlen, Quartalsberichten, Gewinnmargen, Bilanzen. Wenn ein Streik „droht“, „ausbricht“, „sich ausdehnt“, werden die Arbeitsbedingungen thematisiert, bekommen die Lebensbedingungen der Arbeitskräfte Aufmerksamkeit.

Zahlung

Die Lebensbedingungen sind in unserer Gesellschaft ja ganz eng an Zahlungsfähigkeit gekoppelt. Die Zahlung ist zur wichtigsten sozialen Beziehung unserer Zeit geworden. Zahlungen verkörpern eine Grundhaltung, die ein ausgesprochen rücksichtsloses soziales und kulturelles Klima erzeugt: jede der beiden beteiligten Personen möchte möglichst wenig geben und möglichst viel nehmen. Insofern sind Tarifverhandlungen gar nichts Besonderes, sie folgen demselben Verhaltensmuster, das wir im Alltag pflegen; allerdings mit dem großen Unterschied, dass abhängig Beschäftigte ein Interesse am Erhalt ihres Arbeitsplatzes/ Arbeitgeber haben.

In dem Leben, das wir gewohnt sind, bleibt die Arbeit hinter der Zahlung verborgen, die Arbeit erledigt sich dank des Geldes. In der Streiksituation merken wir plötzlich: Das Geld steuert den Bus nicht durch den Straßenverkehr, es ist nicht das Geld, das unsere Kinder in der Kita in Empfang nimmt, Geld unterrichtet keine Schülerinnen und Schüler, Geld pflegt und heilt auch niemanden, es liefert weder die Post noch die Pizza aus. Streik, ich wiederhole mich, macht die Arbeit sichtbar.

Unbeteiligte Dritte

In Tarifkonflikten gibt es, wenn es zum Streik kommt, die berühmten unbeteiligten Dritten, die darunter zu leiden haben. Die Illusion unbeteiligter Dritter wird vom Journalismus und von Teilen der Politik nachhaltig geschürt. Habe ich irgendetwas damit zu tun, dass mich Beschäftigte des Öffentlichen Nahverkehrs jeden Werktag zu meinem Arbeitsplatz und wieder nach Hause bringen? Habe ich irgendetwas damit zu tun, wenn sich Ärztinnen und Pfleger um meine Gesundheit kümmern? Muss mich das interessieren, ob diejenigen, die Tag und Nacht Arbeit für mich machen, unter krankmachenden Bedingungen leiden, schlecht bezahlt werden und nicht wissen, wovon sie im Alter leben sollen?

In der Illusion der unbeteiligten Dritten spiegelt sich dieses abgehobene Freiheitsverständnis, das nicht wahrhaben will, wie sehr unsere Freiheiten auf einem Netz von Abhängigkeiten beruhen. Um so freier, um so selbstbestimmter können Menschen leben, je mehr und je billiger andere (Personen und/ oder Maschinen) für sie arbeiten. Ohne die Arbeit der Anderen kann ich mich nicht einmal ins Bett legen, denn das haben andere Leute hergestellt und geliefert. Dieses illusionäre Freiheitsverständnis, das fundamentale Abhängigkeiten und Zusammenhänge ausblendet, ist im Mainstream ebenso fest verankert, wie es realitätsuntüchtig ist.

Krokodilstränen

In den Kommentaren zum Warnstreik von ver.di und EVG gab es davon noch eine Steigerungsform. Es meldeten sich alte Bekannte zu Wort, die seit Jahrzehnten die Fanfaren der Arbeitgeber blasen und für die Gewerkschaften nie etwas anderes waren als ein Störelement der Wirtschaft. Solche Kommentatoren vergossen Krokodilstränen für die kleinen Leute, die an diesem Warnstreiktag kein eigenes Auto haben, sich kein Taxi und kein Hotelzimmer leisten können: „Die kleinen Leute sind die großen Verlierer des Streiks“. Solche Kommentatoren haben kein Problem damit, dass die kleinen Leute 365 Tage im Jahr die großen Verlierer sind, aber während eines Streiks fällt es ihnen auf und dann wenden sie es gegen die Gewerkschaften.

Screenshot: Twitter

Gewerkschaft

Die real existierenden Gewerkschaften kommen mir ein wenig wie ein Fußballverein vor, der alle Sportler und Sportlerinnen aufruft, bei ihm Mitglied zu werden, und sich wundert, warum Basketballer, Biathleten und Tennisspielerinnen nicht zu ihm kommen. Die Arbeitsverhältnisse und die Lebenslagen der Beschäftigten sind so vielfältig, so verschiedenartig geworden, die Zeit der Massenorganisationen scheint – sofern sie nicht wie in China und Russland von oben zusammengehalten werden – erst einmal vorbei zu sein. Aber sie sind auch gar nicht mehr so nötig, um Kraft zu entfalten. Die Arbeitsteilung geht inzwischen so tief, in der Wirtschaft hängt alles so sehr mit allem zusammen, dass es ausreichen kann, an einem Punkt massiv einzugreifen, um sehr vieles zum Stehen zu bringen und Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen stark zu machen. Das haben Pilot:innen und Lokomotivführer:innen schon früher begriffen.

Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

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