Vernichtungs- contra Verteidigungswillen. Wer stärkt wen?

 „Offenheit, Transparenz und Berechenbarkeit sind in der Politik ohne jede Alternative, aber die Anwendung von Gewalt sollte ebenso ausgeschlossen sein wie die Anwendung der Todesstrafe in den Rechtssystemen einiger Staaten… Ich bin überzeugt, dass der einzige Mechanismus zur Entscheidung über die Anwendung von Gewalt als letzte Maßnahme nur die UN-Charta sein darf.“ So Wladimir Putin als russischer Präsident auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahre 2007. Diese Aussagen sind auch heute noch gültig. In der Tat, die UN- Charta und die Menschenrechtskonvention bieten alle Grundlagen für ein friedliches Zusammenleben der Völker und die gewaltfreie Lösung von Konflikten. Mit dem kriegerischen Überfall auf die Ukraine und schon mit der Besetzung der Krim hat Putin seine Aussagen konterkariert.

43rd Munich Security Conference 2007: The President of the Russian Federation, Vladimir V. Putin and the Federal Chancellor Dr. Angela Merkel during the Conference. (Foto: Sebastian Zwez auf wikimedia commons)

Die Friedens-Ordnung, die in Europa nach dem Fall der Mauer, der Auflösung der Sowjetunion sowie des Warschauer Paktes entstanden war, wurde zerstört. Dieser Bruch des Völkerrechts, dieser Angriffskrieg war und ist mit nichts zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Weder mit dem Beitritt osteuropäischer Länder zur Nato noch damit, dass sich die Menschen in der Ukraine in einem längeren Prozess mit mehreren Demokratiebewegungen zur Westorientierung entschieden und nicht dem Herrschaftsanspruch Russlands unterworfen haben. Das Entsetzen unmittelbar nach Russlands Angriff war umfassend. Es war ja in der Tat eine „Zeitenwende“: Ein Rückfall in neue Formen des kalten Krieges und in ein neues Wettrüsten. Er hat eine einzige Ursache: Russlands Kriegs.

Es macht mich fassungslos

Schon im Verlauf des ersten Kriegsjahres und erst recht zum Jahrestag scheint das in Vergessenheit zu geraten. Initiativen, offene Briefe und Aufrufe, insbesondere das sogenannte “Manifest für den Frieden“, von Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer initiiert (nicht weit entfernt von dem, was auch AFD-Politiker wollen), zielen nicht auf Putin und Russland als Aggressor, fordern nicht ihn zu Stillstand und Rückzug auf. Stattdessen sollen Deutschland und der Westen die Waffenlieferungen einstellen und mehr Initiativen zu Verhandlungen ergreifen. Es macht mich fassungslos, wie so viele Persönlichkeiten, die für mich immer Verteidiger der Freiheitsrechte, der Parteinahme für Unterdrückte und Überfallene, sowie der friedlichen Konfliktlösung und der Gerechtigkeit verpflichtet waren, diesen Schwenk mitmachen können. Die Verurteilung Putins als Verursacher des Krieges und des fortwährenden Schreckens mit hunderttausendfachem Sterben von Militärs und Zivilisten, mit Vertreibung und Verschleppung, Vergewaltigung und Folterung stellen sie nicht ins Zentrum. Unfassbar, dass all dieses von Putin verursachte Grauen, die fortgesetzte Bombardierung und der Raketenbeschuss des gesamten Landes, die vollständige Zerstörung von Städten, die systematische Zerstörung der Infrastruktur, die dokumentierten Kriegsverbrechen, zur Randnotiz des Geschehens geworden ist. Die Angst vor Russlands Atomwaffen, die eigene Befindlichkeit ist in den Mittelpunkt gerückt..

Das mag mehrere Gründe haben. Einer ist vielleicht, dass die Erzählung Putins von der Bedrohung Russlands, der Gefahr seiner Vernichtung tatsächlich geglaubt wird. Der andere, dass die Ukraine als selbständiges Territorium und als demokratisches Gemeinwesen, auch hier im Gefolge von Russlands Sicht, nicht für wertgehalten wird, sie zu verteidigen. Und, vielleicht entscheidend, die Angst vor einem Atomkrieg, der „uns“ betreffen würde und die Erwartung, Tod und Vernichtung durch Nachgiebigkeit zu Lasten der Menschen in der Ukraine beenden zu können.

Es kennzeichnet unsere demokratische Gesellschaft, dass wir auch in zentralen Fragen kontrovers diskutieren. Vergessen wir nicht: Diese öffentlich geäußerten kontroversen Positionen, Demonstrationen und Protesten sind nur möglich, weil wir seit fast 80 Jahren in einem von den USA und der NATO wesentlich gestützten Werte- und Verteidigungsraum leben, in dem die bürgerlichen Freiheiten, Demokratie und Gewaltenteilung sowie eine plurale Zivilgesellschaft selbstverständlich sind. Zu keinem Zeitpunkt war in der früheren Sowjetunion und später in Russland – mit Ausnahme vielleicht weniger Jahre zwischen 1989 und 1992/93 – Vergleichbares möglich. Heute ist es wieder völlig ausgeschlossen. Kritiker des Krieges setzt Putin menschenverachtend Fliegen, die „ausgespuckt“ werden, gleich: „Jedes Volk, das russische ganz besonders, wird immer in der Lage sein, das Gesindel und die Verräter zu erkennen und sie auszuspucken, wie man eine Fliege ausspuckt, die einem in den Mund geflogen ist.“ (Fernsehansprache Putins).

Dieses Foto wurde im Juni 1989 aufgenommen, zwei Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Präsident Michail Gorbatschow hatte die Reformen „Glasnost“ und „Perestroika“ eingeführt, durch die sich die Spannungen zwischen der Sowjetunion und dem Westen erheblich entspannten. Ich [der Fotograf] war in dieser Zeit während eines siebentägigen Urlaubs in Moskau und Leningrad (heute St. Petersburg) und konnte mich in beiden Städten frei bewegen. Es fanden friedliche Pro-Demokratie-Demonstrationen statt, Greenpeace veranstaltete ein Konzert und verkaufte Kassetten davon, und eine Gruppe von Friedenstänzern aus dem Vereinigten Königreich, den USA und Kanada reiste nach Moskau und führte Tänze in der Nähe des Kremls auf (Foto: LeicesterChris auf wikimedia commons).

NATO-Beitritt – Selbstschutz souveräner Staaten

Russland ist seit fast zwei Jahrzehnten unter W. Putin auf dem Weg in einen autoritären Kontroll- und Überwachungsstaat, mit diktatorischen Elementen, ohne Pressefreiheit, politische Opposition und plurale Zivilgesellschaft. Es ist offenkundig wichtig im Vorfeld all unserer Debatten und Kontroversen zu betonen: Wir können protestieren und demonstrieren und kritisieren, ohne mit Verhaftung, Gefängnis, Folter oder gar Tod bedroht zu werden!

Die verschiedenen von Russland angegebenen Gründe, die auch bei uns aufgegriffen werden, sind vielfach diskutiert. Wie immer man den Umgang des Westens, der NATO oder der EU oder der USA mit Russland zwischen 1990 und 2014 wertet: Eine Rechtfertigung für die Annexion der Krim und den Überfall auf die Ukraine ergibt sich daraus zu keinem Zeitpunkt. Denn Russland war und ist nie durch einen militärischen Angriff bedroht, weder von der Ukraine noch vom Westen. Die Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind gekennzeichnet von Initiativen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der politischen Stabilisierung im Verhältnis von Russland zu Europa, auch zu den USA und der NATO. Im März 1994 wurde parallel von Russland und der Ukraine ein Partnerschaftsvertrag und Kooperationsabkommen mit der EU abgeschlossen. Im selben Jahr unterzeichnen Russland, die USA und Großbritannien gemeinsam das Budapester Memorandum, das die territoriale Integrität und Souveränität Kasachstans, Belarus und der Ukraine in den damaligen Grenzen garantiert als Gegenleistung für die Vernichtung der Atomwaffen aus Zeiten der Sowjetunion auf deren Territorium.

Erst nach den ersten expansionistischen kriegerischen Akten Russlands in Tschetschenien, Abchasien, besonders auch in Transnistrien (einem Teil der Republik Moldau) kam es zum NATO-Beitritt der osteuropäischen Staaten: Wer wollte es der Tschechoslowakei, Ungarn und Polen (Beitritt im Jahre 1999) oder gar den baltischen Staaten sowie Bulgarien, Rumänien, Slowakei und Rumänien (Beitritt 2004) nach den Erfahrungen mit Sowjetherrschaft und stalinistischem Terror verdenken, diesen Weg zu wählen? Gerade zu einem Zeitpunkt, als in Russland der Revanchismus Fahrt aufnahm! Der Beitritt dieser Staaten zur NATO ist, wie manche sagen, nicht einfach die Erweiterung des Machtbereichs der USA, sondern der Selbstschutz dieser Staaten angesichts der historischen Erfahrungen. Es war der entschiedene, demokratisch legitimierte Wille der Staaten aus dem Machtbereich der ehemaligen Sowjetunion, der NATO beizutreten. Der Beitritt dieser Staaten wird bei verschiedenen Befürwortern von sofortigen Verhandlungen, z.B. von Klaus von Dohnanyi oder Günther Verheugen (Interview in der Berliner Zeitung 11.02.2022), immer wieder als ein Grund dafür angeführt, dass die Interessen Russlands verletzt worden seien und das letztlich eine der Ursachen des kriegerischen Angriffs sei. Aber welches Recht hätte Russland, über den Beitritt der von der Sowjetunion extrem unterdrückten Staaten mitzureden? In Putins Rede im Deutschen Bundestag im September 2001 war die NATO-Mitgliedschaft dieser Staaten kein Thema, auch wenn er dort Kritik am Verhalten der NATO gegenüber Russland äußerst.

„Entwicklungsgesetze der Informationsgesellschaft“

Neben der politischen Kooperation intensivierte sich vor allem auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit, insbesondere mit Deutschland. Zahlreiche unternehmerische Investments in Russland, Nord stream 1 und der begonnene Bau von Nord stream 2 sind dafür die besten Belege. Niemand im Westen hatte daran gedacht, die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu stoppen oder Russland militärisch zu überfallen. Selbst nach dem Georgienkrieg wurde die Zusammenarbeit keineswegs gestoppt. Auch dann noch wird, insbesondere von Deutschland und Frankreich, ein Beitritt Georgiens und der Ukraine zur NATO, wenn überhaupt, in weite Ferne geschoben aus Rücksichtnahme auf die Interessen Russlands. Gelohnt wurde das mit der Annexion der Krim und der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine durch Russland 2014.

Dass Putin das Territorium der Ukraine politisch in Frage stellt, ist durch und durch revanchistisch, die Fortsetzung und Ausweitung dessen, was Putin für Moldawien/Transnistrien schon lange plant und umsetzt und in Georgien begonnen hat. Es geht um die Wiederherstellung des „Großrussischen Reiches“, des zaristisch-sowjetischen Machtbereichs, da ja, so Putin 2005, der Zerfall der Sowjetunion „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ sei. Die Ukraine wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein eigenständiger Staat, unabhängig von historischen sprachlichen, kulturellen und ethnischen Verknüpfungen, die niemand leugnet. Die vertraglichen und völkerrechtlichen Grundlagen für das Staatsgebiet der Ukraine, einschließlich der Krim, sind eindeutig – egal seit wann es ein ukrainisches Nationalbewusstsein gibt und ob sein Territorium erst durch Lenin geschaffen wurde. Seit 1991 war dieser Staat in seinen Grenzen existent, gerade auch von Russland in verschiedenen Rechtsakten anerkannt.

Nicht eine militärische Bedrohung Russlands führte zu Putins Angriffskrieg, sondern der unbedingte Wille Putins, den sowjetrussischen Einflussbereich in alter territorialer Größe wiederherzustellen. Und die „Bedrohung“ abzuwehren, die von einer lebendigen Demokratie mit Gewaltenteilung und Rechtsstaat sowie einer modernen Zivilgesellschaft vor den Toren Russlands ausgeht. Putin selbst hat diese Dynamik in anderem Zusammenhang schon 2001 skizziert, in seiner bejubelten Rede im Deutschen Bundestag. Für den Zusammenbruch der Sowjetunion, führt er „die Ereignisse, die in Russland vor zehn Jahren stattgefunden haben“, an: „Die Ereignisse sind wichtig, um zu begreifen, was bei uns vor sich gegangen ist und was man von Russland in der Zukunft erwarten kann. Die Antwort ist eigentlich einfach: Unter der Wirkung der Entwicklungsgesetze der Informationsgesellschaft konnte die totalitäre stalinistische Ideologie den Ideen der Demokratie und der Freiheit nicht mehr gerecht werden. Der Geist dieser Ideen ergriff die überwiegende Mehrheit der russischen Bürger.“

Warum wir uns einmischen müssen

Fünfzehn Jahre danach war in Russland unter Putin die Rehabilitation der Stalin-Ära voll im Gange. Ihre kritische Aufarbeitung z.B. durch „Memorial“ ist verboten und ausgemerzt. Russland ist auf dem Weg zu autokratischer Herrschaft ohne Gewaltenteilung, ohne Opposition, ohne Pressefreiheit weit vorangeschritten. Akteure einer vielfältigen Zivilgesellschaft werden bedroht, verfolgt, gefangen genommen und ausgemerzt. Die Ukraine war der Staat, der sich der Macht Russlands und dem politischen System autoritärer Herrschaft entziehen wollte. Schon die Orangene Revolution 2004 mit einer demokratischen Massenbewegung machte diese Entwicklung deutlich. Mit der Maidan-Revolution 2014 wurde endgültig klar, dass die Ukraine kein zweites Belarus mit W. Janukowitsch, vergleichbar A. Lukaschenko, als Satrap Russlands werden wird. Die Gefahr, dass von der Ukraine aus „den Ideen der Demokratie und der Freiheit“ Platz gegeben wird, ist die entscheidende Gefahr für Putins autoritäre Herrschaft in Russland.

Der großrussische Revanchismus ist der ideologische Überbau. Handfeste ökonomischen Interessen an Rohstoffvorkommen und Anbauflächen sowie der ungehinderte Zugang zum Schwarzen Meer spielten sicher auch eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, die Krim zu besetzen und im Osten der Ukraine separatistische Feuer zu entfachen. Aber das Fass zum Überlaufen brachte aus der Sicht Russlands die Gefahr der dauerhaften Existenz eines demokratischen Staates, der Oligarchenherrschaft und Korruption schrittweise überwindet und souveräne Entscheidungen über seine gesellschaftlichen Verhältnisse im Inneren und die politischen Bündnisse nach außen trifft.

Das ist für mich die entscheidende Dimension des Krieges. Das ist der Grund, warum und wie wir uns einmischen und einmischen müssen. Der Angriff auf die Ukraine ist deswegen auch der Angriff auf die Grundlagen unserer Staats- und Gesellschaftsverfassung. Die Verteidigung von Souveränität und Freiheit, nicht die Interessen Russlands, müssten daher im Mittelpunkt stehen. Die Machthaber im Kreml und ihre homophoben publizistischen Propagandisten ebenso wie die reaktionären klerikalen Unterstützer sprechen offen davon, dass ihnen die Lebensformen und Verhaltensweisen des Westens ein Gräuel sind.

Für mich ist klar: Es geht nicht nur um die Ukraine oder einen Teil ihrer Gebiete. Die Kriegsziele Russlands sind andere. Darum gibt es, trotz aller Bemühungen von Macron und Scholz, von Guterres und Erdogan bis heute keine Verhandlungen, gibt es nicht das geringste Anzeichen für eine Verhandlungsbereitschaft Russlands. Putin will seine Kriegsziele der Zerstörung oder Beherrschung der Ukraine erreichen. Werden diese Ziele durch den Stopp von westlichen Waffenlieferungen erreicht, sind doch die nächsten Schritte erkennbar: Moldawien zu russifizieren, wie ein jetzt bekannt gewordener Plan aus dem Kremls offen legt, und Georgien schrittweise gleichzuschalten, was momentan mit einer breiten Protestbewegung verhindert wird (die manche sicher wieder als „fremdgesteuert“ denunzieren werden). Stehen die baltischen Staaten wegen russischsprachiger Bevölkerung als nächsten Ziel der Einverleibung an. Vielleicht auch die Rückkehr der großslawischen Idee? Die aktuelle russische Verfassung ermöglicht es Putin überall dort einzugreifen, wo die Interessen der „Landsleute“ bedroht sind (Art. 67).

Verhandeln heißt nicht kapitulieren

Gegen weitere Waffenlieferungen wird im sogenannten Friedensmanifest eingewandt: Die Ukraine könne einzelne Schlachten gewinnen, aber „gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg“. Das ist falsch. Wenn das so apodiktisch stimmte, stünden die USA heute noch in Vietnam als Sieger da oder hätten ein geteiltes Vietnam, ähnlich Korea geschaffen. Und Afghanistan wäre nicht wieder den Taliban in die Hände gefallen. Sara Wagenknecht beklagt scheinheilig angesichts des Drohnenkonflikts über dem Schwarzen Meer die Verwicklung des Westens in den Krieg und fordert auf Twitter das Ende „dieses Wahnsinns“. Wieder kein Wort über den belegten Wahnsinn russischer Gräueltaten und Expansionspläne. Wird die Unterstützung der Ukraine durch Waffenlieferungen gestoppt oder reduziert, fehlt jedes Druckmittel, um zu Verhandlungen zu kommen. Eine Nachgiebigkeit aus Angst vor dem Einsatz von Atomwaffen würde diese Angst doch nicht beenden, sondern verlängern und verstärken, uns über weitere Jahrzehnte begleiten. Wie jetzt Putins Plan der Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus an der Grenze Polens zeigt, wird diese Spiel mit dem Schüren der Angst fortgesetzt werden, wenn wir uns darauf einlassen. Erst wenn klar wird, dass diese Drohung den Verteidigungswillen eines Staates und seiner Unterstützer nicht brechen kann, kann auch die Angst vor dieser Drohung nachlassen.

Foto: British Government auf wikimedia commons

Verhandeln heißt nicht kapitulieren, heißt es – ja, aber nur dann, wenn die eine Partei nicht die Zerstörung der anderen zum erklärten Ziel hat. W. Churchill hat sich zu Recht 1940 gegen „Friedenserkundungen“ mit den Nazis über den Umweg B. Mussolini gewandt, die sein Außenminister Lord Halifax wollte. Denn Churchill griff auf, was Mussolini selbst gesagt hatte, nämlich dass Demokratie und Diktatur unvereinbar sind. Der vorwurfsvolle Ruf nach Verhandlungen, an den Westen gerichtet, geht ins Leere. Wer die Ukraine auslöschen will, wird nicht über ihren Fortbestand verhandeln. All die Verhandlungsappelle wichtiger Persönlichkeiten (Dohnanyi, Verheugen, Habermas) richten sich nie an Putin und die russische Führung, sondern an die USA und den Westen. Nicht der Aggressor soll ein eindeutiges Signal zur Verhandlungsbereitschaft geben, sondern der Westen, der die Ukraine in ihrer Selbstverteidigung unterstützt, durch Stop der Waffenlieferungen. Auffallend ist auch, dass z.B. bei Dohanyi (Interview in EMMA September/Oktober 2022) und Habermas (Beitrag in der Süddeutsche Zeitung vom 14. Februar 2023) eine „Sonderlösung“ für den Donbass als Teil eines möglichen Kompromisses die Rede ist, die besetzte Krim aber überhaupt nicht mehr erwähnt wird. „Verhandlungen sind keine Alternative zum Kämpfen“ formuliert Herfried Münkler in einer Replik auf Habermas zu Recht im Deutschlandfunk Kultur. Erst die ungebrochene Verteidigungsfähigkeit der Ukraine schafft die Voraussetzungen dafür.

Was ist denn heute so viel anders – im Vergleich zu Vietnam?

Der neue Friedensaufruf, initiiert von Peter Brandt, Rainer Hoffmann sowie anderen und von vielen SPD-Politikern*innen und Gewerkschaftern*innen unterzeichnet (Berliner Zeitung vom 01. April 2023) widerspricht dem nicht. Aber er benennt nicht eindeutig, wer dieses ständig ausufernde Kriegsszenario bis heute verursacht. Und stellt daher auch nicht klar, dass der erste Adressat aller Vermittlungsbemühungen Putins sein müsste mit dem klaren Ziel, den Angriffskrieg sofort zu beenden.

Das Gebot der Stunde ist eine breite Allianz auf deutscher und europäischer Ebene gegen Putin und gegen den Angriffskriegs Russlands. Die Überlebensfähigkeit der Ukraine ist die Voraussetzung für Verhandlungen. Vielleicht sind einige derer, die 2022 den offenen Brief und jetzt den aktuellen Friedensappell an Kanzler Scholz oder das sogenannte Friedensmanifest unterzeichnet haben, in den 60er Jahren des vorigen Jahrhundert, wie ich, gegen den Krieg der USA in Vietnam auf die Straße gegangen. Da war weder die Rede davon, dass gegen eine große Atommacht kein Krieg zu gewinnen sei, noch dass die Unterstützung des Vietkongs mit Waffen und Kriegsgerät nur das Leiden und Sterben verlängere. Was ist denn heute so viel anders? Beides sind imperiale Kriege einer atomaren Großmacht gegen ein kleineres Land. Der eine Krieg war dem Ende des alten Kolonialismus geschuldet. Der aktuelle Krieg dem Aufflammen eines neuen Kolonialismus.

Anstelle eines verlogenen Friedensmanifestes sollten die Menschen, die Frieden und Freiheit wollen, die Erklärung von Amnesty International zum Jahrestag des Angriffskriegs massenhaft unterschreiben (siehe Anhang). Deren Forderungen sollten such das zentrale Ziel der Ostermärsche 2023 sein.

Denn klarer kann man es nicht formulieren. Richtig, wir können nicht direkt auf Amerika und Russland einwirken. Aber Millionen Unterschriften in Deutschland und Europa unter diesen Aufruf würden Putin mehr beeindrucken als die Appeasement Forderungen des sogenannten Friedensmanifests. Dessen Unterstützung ist der beste Weg, Putin in der Fortsetzung des Krieges zu bestärken und den Stopp westlicher Waffenlieferungen abzuwarten. Die Selbstverteidigung der Ukraine wäre damit ja nicht zu Ende, das Sterben und die Verelendung der Bevölkerung der Ukraine würden aber dadurch verlängert. Eines Tages könnte Putin eine völlig verwüstete Ukraine beherrschen oder als Teil der russischen Föderation einverleiben.

Das kann niemand wollen, darf niemand hinnehmen! Heute wissen wir, dass der von D. Trump ausgelöste Rückzug des Westens aus Afghanistan Hoffnungen enttäuscht und die Menschen dort der unverändert reaktionären Gewaltherrschaft der islamistischen Taliban überlassen hat. Die Länder und die Menschen, die vom Wert demokratischer Verfassungen und freiheitlicher Gesellschaften überzeugt sind, dürfen einen vergleichbaren Fehler durch den Stopp oder die Reduzierung der Waffenlieferungen an die Ukraine nicht wieder zulassen.

A n h a n g
RUSSLAND: ANGRIFFSKRIEG GEGEN DIE UKRAINE STOPPEN!
„Wir fordern die russische Führung auf, den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine sofort zu beenden und die systematischen Verstöße gegen internationale Menschenrechtsnormen und humanitäres Völkerrecht zu stoppen. Russlands Einmarsch in die Ukraine ist ein eklatanter Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen, ein Akt der Aggression und damit ein Völkerrechtsverbrechen. Die russische Führung greift damit die internationale Ordnung an, zu deren Grundnormen seit Ende des Zweiten Weltkrieges das Gewaltverbot und die Menschenrechte gehören. Das dürfen wir nicht zulassen. Russland missbraucht seine Position als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats, um sich vor Konsequenzen zu schützen. Nun gilt es, die Institutionen und ihre Werkzeuge zum Schutz der Menschenrechte zu stärken und die Verantwortlichen für Völkerrechtsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.“

Klaus Lang
Dr. Klaus Lang studierte Katholische Theologie, Psychologie und Politik. Er war zunächst Pressesprecher des Vorstandes der IG Metall, 1981 wurde er Leiter der Abteilung Tarifpolitik, später leitete er die Abteilung des 1. Vorsitzenden und war Geschäftsführer der Otto-Brenner-Stiftung, 2003 wurde er Arbeitsdirektor der Georgsmarienhütte Holding GmbH. Er ist Mitglied im Rat der Stiftung Menschenrechte, der Förderstiftung von Amnesty International und im Sozialethischen Arbeitskreis Kirchen und Gewerkschaften.

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