Wirkt Franz Emanuel August Geibels Gedicht Deutschlands Beruf, im Jahr 1861 aufgeschrieben, bis heute nach? Oder ist es passe? Aus und vergessen? Endgültig? Soll nichts von Geibels deutschem Wesen übrig geblieben sein? Aber wir haben doch unter anderen den Christian Lindner, seines Zeichens Bundesfinanzminister.
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„Macht und Freiheit, Recht und Sitte, Klarer Geist und scharfer Hieb Zügeln dann aus starker Mitte Jeder Selbstsucht wilden Trieb, Und es mag am deutschen Wesen Einmal noch die Welt genesen.“
So lautet die letzte Strophe von Geibels Gedicht. Das war 1861. Wie bekannt sein dürfte, wollte die Welt damals und auch später nicht am deutschen Wesen genesen. Man könnte sagen: „Die Welt“ hat einfach die Präpositionen ausgetauscht: Das „am“ durch ein „vom“ ersetzt. Undankbar war die Welt aus der Sicht einiger Traditionseliten der europäischen Mittelmacht Deutschland.
Was hatten die Deutschen der Welt nicht alles beschwert und geschenkt! Den Goethe und den Schiller, den Beethoven, den Luther und den Gutenberg. Den Heinrich Heine hat sich die Welt schenken lassen, obgleich der von den erwähnten Eliten nicht als Geschenk vorgesehen war. Dann waren da noch der Otto Motor, der Marx und der Engels und das Aspirin, Emil Fischers Veronal von 1902 und über die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung m.b.H. (Degesch) auch noch das Zyklon B.
Großherzig waren die seinerzeit in Deutschland Herrschenden bereit, sich selbst zu exportieren. Denken sie beispielsweise daran, dass man damaligen „Schutzgebieten“ (so nannte man die Kolonien) gar deutsche Bezeichnungen schenkte. Einen Teil der „Schutzgebiete“ im Pazifik, im Bismarck-Archipel, gaben die mit „klarem Geist und scharfem Hieb“ Ausgestatteten die Namen „Neu-Pommern“ und „Neu-Mecklenburg“.
Dann wurde es stiller um das deutsche Wesen und noch stiller. Geibels Gedichte verschwanden vor 60 Jahren aus den Deutschbüchern. Stattdessen gab´s in denen Hans Magnus Enzensbergers Landessprache:
„…Deutschland, mein Land, unheilig Herz der Völker,
ziemlich verrufen, von Fall zu Fall,
unter allen gewöhnlichen Leuten…“
Und heute? Das Literaturland SH schreibt: „In der Literaturgeschichte Schleswig-Holsteins ist Emanuel Geibel möglicherweise der Autor mit dem dramatischsten Verfall des Bekanntheitsgrads.“
Da fallen mir noch einige ein. Richtig ist, dass man ordentlich suchen muss, um etwas gegenwartsbezogenes zu Geibel und zum Wesen der Deutschen zu finden. Am 16. März 2016 war auf der Deutschen Welle zu vernehmen: „Mein Deutschland: Am deutschen Wesen mag die Welt genesen? Die deutsche Flüchtlingspolitik erinnert Zhang Danhong immer wieder an diese viel zitierte Zeile von Emanuel Geibel.“ Die Autorin erklärte selbst: „Deutschland kann und soll die ganze Welt retten! Ich glaube nicht, dass sich Angela Merkel ernsthaft ans Werk machen wollte, die Welt zu retten. Doch ihr Alleingang in der Flüchtlingskrise hat etwas Rechthaberisches: Wir Deutsche handeln moralisch, also werden uns die anderen Europäer schon folgen. Was aber folgte, war die zunehmende Isolation Deutschlands in Europa.“
Zhang Danhong wurde 2008 als Leitende Redakteurin der China-Redaktion der Deutschen Welle nach Protesten unter andern von Imre Kertész, Mario Vargas Llosa, Lutz Seiler und Ralph Giordano herunter gestuft auf den Status der Mitarbeiterin – und zwar wegen der ideologischen Nähe ihrer Berichterstattung zur rotchinesischen Regierung. Als Quelle einer eventuellen Relevanz der Geibelschen „Wesung“ taugt sie demnach nicht besonders.
Soll nichts von Geibels deutschem Wesen übrig geblieben sein? Kein Klitzekleines „am genesen“? Natürlich nichts im bunten Rock. Auch kein Tschingderassabum, nichts Revisionistisches? Aber vielleicht etwas nach der Art: Wir haben Recht. Ihr nicht? Schaun wir mal nach.
Das kann tatsächlich böse enden
Vor wenigen Tagen hat Bundesfinanzminister Lindner in Brüssel erklären lassen, die Bundesregierung sei mit flexiblen Schuldenquoten für die staatlichen Haushalte der EU-Länder nicht einverstanden. Die Bundesregierung wolle die durchgehende, jährlich einzuhaltende Schuldenquote erhalten, wie sie heute bereits mit 60 Prozent Höchstverschuldung gemessen am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt bestehe.
Der Ökonom Thomas Fricke schrieb in seinem Blog: Die Bundesregierung irrlichtere „ziemlich fahrlässig an allem vorbei, was Forschung und praktische Erfahrung lehren. Eine Gefahr für alle.“ Und: „Die hiesige Lernschwäche scheint bei der vermuteten Ursache aller Probleme zu beginnen, wonach die anderen einfach bewusst geschludert, zu viele Schulden gemacht und sich dann gegen Sanierung gewehrt haben. … Weshalb es jetzt als Lehre halt umso klarere Regeln, strengere Vorgaben und Hiebe geben muss. Wir: gut. Die: böse.“
Etwas leger übersetzt heißt das: Wir, die Deutschen, um bei Franz Emanuel August Geibel ein wenig anzuknüpfen, stehen „aus starker Mitte“ gegen den „wilden Trieb“ der Selbstsucht.
Das kann tatsächlich „böse“ enden. Denn die Welt hat sich geändert seit der Festlegung dieser Quote 1992. Die Vereinigten Staaten weiten die Wirtschaftstätigkeit kredit- auch staatskreditfinanziert aus. Die japanische Wirtschaft ist auf diesem Weg, die rotchinesische sowieso, Frankreich und Italien und viele andere mehr. Sicherung von Rohstoffbasen, Verbesserung von Wettbewerbsfähigkeit, Bereitstellung von preislich akzeptabler Energie in Wirtschaft und Privathaushalten, soziales Abfedern und die unendlich teure Verabschiedung der Karbonenergie – all das ist mit sklavisch fixierten Schuldenquoten in Europa nicht möglich. Die Welt hat sich eben gedreht. Die deutsche Schuldquoten-Fixierung ist an den Rand gerückt. Am Ende bleibt von Geibel nichts übrig. Auch Enzensberger ist nicht mehr treffend. Eher das, was die Christine Nöstlinger hinterließ, in einem wunderbar mundartlich verfassten Gedicht: