Klar kennen Sie diese Anfeindungen: Die Alten fressen uns auf. Die Alten leben auf unsere Kosten. Für uns Junge bleibt nichts übrig. Die Alten gegen die Jungen. Stets geht es um das heutige, ach so gute Leben der Alten und erbärmliche Zukunfts-Aussichten der Jüngeren und Jungen. Seit Jahren geht das so. Die Friedrich-Ebert-Stiftung zeichnete gar 2018 Wolfgang Gründingers Buch: “Alte Säcke Politik. Wie wir unsere Zukunft verspielen“ als Buch des Jahres aus. Keine Lösung für solche Anfeindungen und Kontroversen in Sicht.
Man fängt an, ökologische Fußabdruck-Größen zu vergleichen. Wie groß sind die Abdrücke der Alten, wie groß dürfen die der Jungen werden. Und überhaupt: Die Alten wohnen in heute viel zu groß gewordenen Eigenheimen, derweil die Jungen keine preiswerten Wohnungen finden. Wenn diese Alten denn überhaupt in ihren Eigenheimen sitzen und nicht wieder nach Mallorca gedüst sind, um dort einen auf dolce Vita zu machen. Unwillkürlich schaut man sich nach Verhältnissen, Räumen, Optionen und Entwürfen um, in denen die Alten keine große Rolle und am besten gar keine Rolle mehr spielen. Wir sind eben so konstruiert: Schuld und Sühne.
In der Suche nach Verhältnissen, Räumen, Optionen und nach anderem steckt natürlich auch Spinnerei. Oder etwa doch nicht? Wollen wir wetten, dass ich Ihnen eine „Welt“ zeigen kann, in der die Alten fast keine Rolle spielen, ja genau genommen überhaupt nicht mehr vorkommen. Höchstens ein Fitzelchen. Glauben sie nicht? Empfehle einen Besuch beim Optiker. Diese „Welt“ haben die Kritiker und Kritikerinnen der „alte Säcke- Politik“ nicht bemerkt. Wetten? Schlagen sie ein!
Es ist eine eigene „Welt“, der wir tatsächlich jeden Tag begegnen, millionenfach, morgens während des Frühstücks bereits. Diese „Welt“ ist oft Beiwerk zu anderem. Wir schauen sie an, werfen sie weg. Sie begegnet uns beim Arzt oder in der Apotheke. Bei Regenwetter und Schnee stellen wir daheim die Schuhe darauf, damit der Boden nicht nass und versaut wird. Mehr verrat ich nicht. Vielleicht noch: Konstruiert wird diese „Welt“ weit, weit überwiegend von Jüngeren, wie könnte es anders ein. Man wird hierfür sogar an Universitäten ausgebildet.
Aber zuerst wie immer im Leben einige Zahlen, das Schwarzbrot „sozusagen“, gut für junge und alte Zähne. In Deutschland lebten 2021 rund 18,4 Millionen Menschen, die älter als 65 Jahre waren. 2040 werden es über 22 Millionen sein. Das entspricht dann etwa 27 bis 28 Prozent der Gesamtbevölkerung. Altbundespräsident Roman Herzog hat vor Jahren, gefühlt vor einer Ewigkeit, den Blick auf eine Art Rentnerdemokratie gelenkt. Sozialforscher wollen gefunden haben, ich gebe das mit der gebotenen Vorsicht weiter, dass im Alter die Skepsis gegenüber Kindergelderhöhungen wächst. Will damit sagen: Da ist richtig „Musik“ in der Debatte. So weit alles klar? Also schauen wir mal in die Welt ohne Alte.
Beleg 1:
Ich beginne mit dem Blick auf ein 36-seitiges Heft. Auf den 36 bunten Seiten der Publikation finde ich 17 abgebildete Menschen, Fotos, allesamt jung. Jungen, Mädchen, junge Frauen, junge Männer, mit und ohne Bart, wie aus dem Vorabend-Programm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens; auch in halbes Bein, ersichtlich keins älterer Bauart. Kein älterer und alter Mensch unter den 17.
Es ist die Werbe-Publikation einer Kaufhauskette, über welche während der vergangenen Jahre immer wieder berichtet wurde, weil Teile der Kette zu machten, sich viele Beschäftigte Sorgen um die Zukunft machten und weiterhin machen müssen, übrigens meist Frauen, die wiederum ein Alter erreicht haben, in welchem sie für die 36 Seiten offensichtlich nicht in Frage kämen. Zufall? Kaum. Auf der letzten Seite des Heftes steht jedenfalls: „Irrtümer und Druckfehler vorbehalten.“
Beleg 2:
Anschließend greife ich zu einem 100 Seiten dicken Heft. Es heißt „Centaur“, wird ebenfalls von einer Kette herausgegeben. Einer Kette für Kosmetika, Heftpflaster, Baldrianperlen, Tee, Getreideriegel, After Shave und viele andere Dinge, die Junge und Alte mehr oder weniger brauchen können. Der Centaur ist der Fama nach ein Zwitterwesen, halb Mensch halb Pferd. Weshalb das Heft so heißt – ein Rätsel. Der Gründer der Kette schreibt Krimi – im ersten Krimi dichtete er den Octopoden, den Achtfüßlern, eine neunte Extremität an. Er fand auch Positives an Wladimir Putin trotz dessen Verbrechen. Wie auch immer: In diesem Heft kommen die Alten ebenfalls so gut wie nicht vor. Eine patente ältere Frau wird darin vorgestellt, Kirsten Boie. Alles andere im Heft: „Junges Gemüse“. Oder Mittelalter: Ein bekannter Schauspieler mit Zahnlücke wirbt für ein Produkt, das Zahnlücken reinigt. Ein echter Kalauer. Oder: „Mein neues Out of Bed Feeling.“ – „Fühl dich true“. So zieht sich ein verkaufsförderndes „feeling“ nach dem anderen durchs Heft. Per Feeling und Ansprache und Foto gepampert werden Jüngere. Die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Boie zählt übrigens bei mir nicht zu den Alten. Ansonsten auf den 100 Seiten das, was ich bereits auf den 36 Seiten vorgefunden hatte. Die Alten existieren praktisch nicht: Weder als Kunden, geschweige denn als Wesen. Vielleicht haben die Centauren sie verjagt.
Beleg 3:
Eine wirtschaftsnahe Zeitschrift, das „DUP Unternehmer-Magazin“ weckt mein Interesse. Vorneweg eine ältere Dame, die einmal Bundesjustizministerin war, Brigitte Zypries. Sie beschwört im Editorial den „Mut zum Wandel“. Sie ist Herausgeberin des 76-Seiten DUP. Auf Seite 44 heißt es: „Ein Spezial von DUP und DIND. DIND steht für Deutsches Innovationsinstitut für Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Spezial mit z geschrieben statt mit c. Das beruhigt. Über das Heft verteilt: Viele optimistisch blickende junge Frauen, viele energisch in die Zukunft schauende jüngere Männer. Alte sucht man auch im DUP vergeblich. Die digitalisierte Zukunft hat mit den Alten nichts im Sinn.
Beleg 4:
Ein Marken-Discounter mit vier Buchstaben schenkt mir samstags 44 Seiten mit Produktangeboten: Massen Fleisch und Käse, Obst und Gurken und Bier und……bis zum Balkonkraftwerk sowie Fahrrädern und Klamotten ist alles Mögliche zu finden. Eingestreut fünf jüngere sympathisch wirkende Frauen und vier Männer, darunter ein früher im Nationaldress spielender Fußballer. Alte Leute: Fehlanzeige.
Beleg 4b:
Ein anderer Allesanbieter mit vier Buchstaben im Titel bietet auf 20 Seiten eine Gruppe Fotografierter an. Darunter 1 (ein) lachendes Gesicht einer offenkundig ein wenig älteren Frau. Der Rest der Gruppe: Jüngere. Einige Konterfeis stecken in Bergen aus Fleisch und anderem, die unmittelbar an ein Erzeugnis geknüpft sind. Hersteller. Die zählen nicht. Denen, die eine Gewichtsreduktion erwägen, ist das Studium solcher Werbehefte angefüllt mit Hunderten zum Verzehr angebotenen Dinge zu empfehlen. Der Hunger ist nach Lektüre hundertprozentig weg.
Beleg 5:
Auch das Osterheft der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg- schlesische Oberlausitz kommt auf seinen 16 Seiten ohne Alte aus. Baby, junge Frau und junger Mann: Ja. Alte: Nein. Eine Oster-Geschichte heißt „Von der Auferstehung zur Schokolade“. Na bitte.
Beleg 6:
Hübsch gemacht ist die touristische Werbeschrift der schwäbischen Alb: „Städteperlen“. 36 Seiten vollgepackt mit schönen Fassaden, jungen Leuten und einladenden Hotels. Die einzigen alten Gesichter sind auf Seite 20 zwei Gesichter, die zu römischen Paradeuniformen gehören, dem Limes Museum zu Aalen entlehnt. Gesichter aus Metall. So alt müssen die Alten nun auch wieder nicht sein.
Beleg 7:
„Freude pur. Urlaub in Kärnten“ steht auf den 24 Seiten, die für das erwähnte Land werben. Nach dem, was die Werbezeitung bietet, kann man in Kärnten Urlaub machen ohne auf einen alten Menschen zu treffen. Kein „Silberrücken“, keine weißen Locken. Der Werbespruch auf der Rückseite der Publikation hat daher einen eigenen Sinn: „Mach, was du liebst…..“
Beleg 8:
Wird es langweilig? Tut mir ehrlich geschrieben leid. Aber so sind die Dinge nun mal. In einem fort ohne Alte und Ältere. Der „Sommerkurier“ des Tagesspiegel – „Berlins Orchester – Queeres Musikfestival – Kulturausflüge für Kinder“ macht da keine Ausnahme. Wer leibhaftige alte Menschen in diesem Angebot für alle Berlinerinnen und Berliner erblicken will, ist auf ein briefmarkengroßes Foto von Dieter Kosslick verwiesen, des früheren Chefs der Berlinale. Schlagzeile zum beigefügten Text: „Auf Teufel komm raus“. Und der ist ja bekanntermaßen nicht mehr der Jüngste.
Beleg 9:
„Workflow“ nennt das „Team Österreich Werbung“ sein Werbeheft. Weshalb es Workflow heißt, ist nicht zu erschließen, dreht es sich doch um Fahrradfahren und Essen in der Alpenrepublik. Der Darstellung des Team Österreich zufolge ist das nix für Ältere und Alte. Die spielen absolut keine Rolle im Heft. Das Heft wird von vorne und von hinten gelesen – 19 Seiten von vorn voller Tretler und Tretlerinnen, 21 Seiten von hinten Mit mit Radfahrenden gespickt. Ein Text wurde mit dem Titel „Zeit, bleib stehn“, versehen. Da haben Alte tatsächlich nichts verloren.
Beleg 10:
Ich will nicht ungerecht sein. Man kann auch beigefügte Hefte und Werbeschriften finden, die wunderbare Fotos ebenso wunderbarer älterer Menschen enthalten. „frings.“ heißt das Magazin der Misereor Spenden- und Hilfsorganisation, benannt nach dem Kölner Kardinal Josef Frings. Fabelhaft gelöst: Alt & jung. Sehr nett. Aber mal ehrlich: Wer liest Misereor Schriften?
Warum das so ist, weshalb die Welt der Werbeheftchen ohne Alte auskommen will, ist nicht leicht zu ergründen. Vielleicht steckt darin eines der bekannten, aber nie wirklich erforschten Menschheitsrätsel. Vergleichbar der Frage, warum man sich beim Duschen stets von der Wand wegdreht und dem Duschvorhang zuwendet. Ein Werbemensch namens Rolf Kirschmaier von Seniorenresearch sagte mal, „unter Marketinggesichtspunkten gibt es die Zielgruppe 50plus nicht, denn dafür ist diese Personengruppe viel zu groß und zu heterogen.“ Aha.
Schade eigentlich, dass wir nicht gewettet haben.