Den radikalen Methoden fehlt das radikale Programm

Kathrin Gerlof: Herr Peukert, Sie sind Wirtschafts- und Staatswissenschaftler, haben an der Universität Siegen gelehrt und sich mit Wirtschaftsgeschichte und post-autistischer Ökonomie befasst. Jetzt unterbreiten Sie einen wirklich sehr radikalen Vorschlag an die »Letzte Generation«. Es gebe, sagen Sie, eine Lücke zwischen der Radikalität der Methoden und der »Sanftheit« der von der LG an die Politik gestellten Forderungen. Das finden Sie nicht gut?

Helge Peukert: Ich höre in persönlichen Gesprächen und bei Vorträgen immer wieder, dass zwischen der meines Erachtens zutreffenden Aussage von LG, dass wir vor entscheidenden Kippunkten stehen und den moderaten Zielsetzungen (9 Euro-Ticket/100 km/h) eine Lücke zwischen Diagnose und Forderungskatalog besteht. In Talkshows wird das auch gerne von Teilnehmern, die gegen die LG sind, vorgebracht. Die wohl aus taktischen Gründen so vorgebrachten minimalistischen Forderungen sind auf Dauer von großem Nachteil, wenn man ansonsten gar nichts zur notwendigen großen Transformation zu sagen hat. Natürlich muss man aufpassen, sich durch inhaltliche Vorschläge nicht zu verdiskutieren und so den aktivistischen Kern von LG zu schwächen.

Ihr Vorschlag, den wir zu diesem Interview im Wortlaut veröffentlichen, ist wirklich umfassend. Er zielt auf eine weltweite Halbierung des Primär- und Energieverbrauchs. Zugespitzt gefragt: Ist das nicht völlig illusorisch?

Helge Peukert: Angesichts der bestehenden Macht- und Interessenverhältnisse, z.B. der Riesengewinne der Autokonzerne mit fetten SUVs, der geopolitischen Konfrontationslage, kurzfristorientierter Hasenfußpolitiker:innen auch hierzulande und der Nichtbereitschaft breiter Bevölkerungskreise in unserer Konsumdemokratie, der Katastrophe ins Auge zu schauen, stehen die Zeichen definitiv schlecht. Ich bin aber Wissenschaftler, der u.a. bei Scientist Rebellion mitmacht, und als solcher muss man sagen, was aus wissenschaftlicher Sicht der Fall ist, und was daraus folgen müsste. Aus der deutschen Vergangenheit habe ich als Jugendlicher die Lehre gezogen: Wer in Grenzsituationen schweigt, macht sich mitschuldig. Heute liegen die Fakten offen auf dem Tisch. Matthias Glaubrecht schreibt in »Das Ende der Evolution« die Vernichtung der Arten, niemand werde behaupten können, das nicht gewusst zu haben. Der offizielle EU-Erdbeobachtungsdienst Copernikus meldet gerade, dass Europa bereits bei 2,2 Grad Erderwärmung angelangt ist und 2022 der heißeste Sommer überhaupt war. Der von der Bundesregierung eingesetzte Expertenrat für Klimafragen erteilte jüngst der Klimapolitik dieser Bundesregierung eine saftige Ohrfeige. Das Versagen hat demnach einen offiziellen Stempel.

Im Prinzip wäre die weltweite Ausrufung eines Notstandes und des Ausnahmezustandes geboten, wollte man diese Forderungen auch nur annähernd umsetzen. Mal abgesehen von der Utopie, die da drin liegt: Wäre das nicht das Ende der Demokratie – also liefe man nicht Gefahr, dann die von vielen an die Wand gemalte drohende Ökodiktatur zu bekommen?

Helge Peukert: Wir werden in den kommenden Jahren mindestens mittelstarke Ökosystemzusammenbrüche erleben, dann wird es womöglich zu Formen der Ökodiktatur von oben kommen. International beobachten wir bereits auch angesichts diverser Verunsicherungen zunehmende Tendenzen zu autoritären Regimen und in westlichen Formaldemokratien gewinnen rechtspopulistische Akteure an Beliebtheit.

Aber ich will das Problem möglicher negativer Folgen eines zwangsläufig gesamtplanerischen Vorgehens mit den daraus folgenden Einschränkungen nicht herunterspielen. Wenngleich die Bevölkerung nicht ganz so begeistert war, wie gelegentlich zu lesen ist, bieten die Kriegswirtschaften im 2. Weltkrieg auf Seiten der Alliierten doch ein Beispiel, wie man unter halbwegs demokratischen Bedingungen die Fokussierung auf ein großes Ziel schaffen kann. Auch die Corona-Politik bietet Anschauungsunterricht, wie man einen tendenziellen Lockdown hinbekommen kann, ohne in einer Corona-Diktatur zu enden, wobei man auch aus ihren Fehlern und hier nicht näher einzugehenden problematischen Zusammenhängen lernen könnte. Es ist für mich merkwürdig, aber doch ernst gemeint, hier noch auf die deutschen Notstandsgesetze hinzuweisen, da ich als Kind die Proteste gegen sie noch gut erinnere.

Eine völlige Umwälzung der Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen ginge mit einem solchen Weltrettungsprogramm einher, schreiben Sie. Wie wollen wir das nennen? Post-Kapitalismus? Denn im Rahmen der gegenwärtigen Wirtschaftsweise ist das ja nicht umzusetzen. Nicht einmal im Ansatz. Oder sehen Sie das anders?

Helge Peukert: Man kann es Post-Kapitalismus oder Postwachstums- oder Suffizienzökonomie nennen. Vor 30 Jahren wären die jetzt aufgesetzten systemimmanenten Maßnahmen der EU beispielsweise mit Fit for 55 richtig und zielführend gewesen. Man stünde auch anders da, wenn z.B. China den Weg eines »grünen Kommunismus« eingeschlagen hätte oder man sich in Indien an Mahatma Gandhis Vorstellungen orientierte. Da man aber Jahrzehnte die Emissionen immer weiter hat steigen lassen, sind wir jetzt in der fatalen Situation, im Grunde von heute auf morgen alles umstellen zu müssen: das Ziel des Wirtschaftens (Schrumpfung statt Expansion), eine starke ordnende Rolle des Staates bzw. der öffentlichen Hand, dessen Finanzierung derzeit an Verschuldung am Kapitalmarkt oder an durch Wachstum gesicherte Steuern hängt, eine Überwindung des individualegoistischen Konsumlebensstils, inklusive einer Verabschiedung vom Individualverkehr und vielem mehr. Und das alles in einer sehr komplexen, arbeitsteiligen Weltwirtschaft und wo nicht alle am gleichen Strang ziehen, sondern viele Menschen auf Verleugnung und Abwehrmechanismen setzen. Diese größte Herausforderung der Menschheit ist in ihrer Dimension erschreckend.

Sind Sie mit der LG im Gespräch?

Helge Peukert: Ja, über Scientist Rebellion bin ich mit Ihnen in Kontakt gekommen und habe einige Gespräche mit Henning, Friedrich, Kyle, Nana und anderen geführt und anfänglich an zwei Aktionen (Paperpastings) in Frankfurt und Bonn teilgenommen. Aus gesundheitsgründen halte ich mich als 66er bei Aktionen zurück, aber den Aktivist:innen gilt meine absolute Hochachtung. Was bleibt anderes übrig, wenn die Bundesregierung anstelle z.B. einer zupackenden Verkehrspolitik lieber die Sektorziele schleift und das einzig Konkrete in 144 Autobahnprojekten besteht. Neben den gut geplanten Aktionen und der professionellen Organisation fehlt nicht nur nach meinem Eindruck nur ein wenig eine inhaltliche Richtungsanzeige. Als Anregung dazu dienen die Vorschläge.

Sie sind weder ein logisch oder sachlich geschlossener Entwurf, noch konkurrieren sie z.B. mit Parteiprogrammen. Sie folgen bewusst nicht den vorherrschenden politischen »Frontlinien« und zu einzelnen Aspekten gibt es sicher abweichende Auffassungen, daher ist eine wohlwollende Haltung zu Einzelfragen erforderlich. In politischen Diskussionen könnte man aber auf den Vorwurf, neben kleinkarierten Forderungen nichts bieten zu können, darauf verweisen und sich einzelne Aspekte herausgreifen und diese je nach Situation beispielhaft einbringen oder Kontrahenten auffordern, doch mal konkret zu einzelnen Vorschlägen Stellung zu nehmen.

Unter dem Titel “Den Aktivitist:innen von ‘Letzte Generation’ gilt meine absolute Hochachtung” erschien das Interview zuerst auf oxiblog. Es fand vor der Kriminalisierungswelle gegen die Letzte Generation statt.
Peukerts “Vorschläge zu angemessenen Reformen” haben ein breites Echo ausgelöst, auch einen Shitstorm gegen ihn. Er hat den lieben Mut-, Mit- und Wutbürger:innen hier geantwortet.

Der ökomodernistische Traum ist ausgeträumt

von Helge Peukert

Ein Vorschlag an die Letzte Generation, welche Forderungen aufzustellen und zu diskutieren wären, um die thermophysikalische Bedrohung der Menschheit abzuwenden.

Die in der Öffentlichkeit oft gegen die »Letzte Generation« (LG) und Scientist Rebellion angeführte Kluft zwischen Blockaden und Kipppunkten einerseits und Minimalforderungen (9 €-Ticket, 100 km/h) andererseits benennt eine offenkundige Lücke. Es fehlt ein radikaler Vorschlagskatalog als Richtungsanzeige. Nur Blockaden, Moral und naiv wirkende Appelle an die Bundesregierung werden ansonsten womöglich zu einem baldigen Scheitern der LG führen. Auch Gesellschaftsräte bieten hier keinen Ersatz für eine Positionierung. Sollten sie tatsächlich die Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung wiedergeben, träten sie derzeit für das Weiterlaufen der Atomkraftwerke ein. Glaubt man wirklich, dass das Politestablishment ihm nicht genehme Experten auswählt?

Klimanotstandspolitik

Angesichts des – selbst laut offizieller Quellen (Sachverständigenrat für Umweltfragen, Umweltbundesamt, IPCC) – für die Begrenzung von 1,5 Grad Erderwärmung weitestgehend aufgebrauchten Emissionsrestbudgets und des Artenschwundes von weltweit hundert Millionen Arten bis Ende dieses Jahrhunderts – über 30.000 Arten allein in Deutschland – fordert die LG eine zunächst deutsche Klimanotstandspolitik. Anstelle wolkiger Debatten um qualitatives oder grünes Wachstum bedarf es in der kurzen Frist erstens einer weltweiten Halbierung des Primär- und Endenergieverbrauchs, zweitens einer Reduzierung der Stoffströme um 90 Prozent (die derzeitige Recyclingquote liegt bei 10 Prozent) und drittens eines absoluten Endes des Flächenverbrauchs in den nächsten fünf Jahren.

Ehrlich ist einzugestehen, dass diese Ziele auf dem heutigen Produktions- und Konsumniveau selbst durch eine vollständige Umstellung auf Grünstrom sicher nicht erreichbar sind: Der ökomodernistische Traum ist ausgeträumt. Nach jahrzehntelanger Verschleppung bedarf es sofort der Einführung von Notstandsgesetzen. Wenn es so weitergeht, wird es bei Verschärfung v.a. der Klimakatastrophe, die nach Aussagen deutscher Klimaexperten bis zu sechs Grad Erderwärmung in Deutschland führen könnte, ansonsten wahrscheinlich zu einem Außerkraftsetzen der Demokratie über längere Zeiträume kommen. Was wir daher bräuchten, wäre eine Eine-Welt-Überlebensparteienallianz unter Ausklammerung des üblichen kleinkarierten Parteiengezänks, idealerweise unter Einschluss der EU, Chinas, den USA, Japans, Russlands und Indiens. Da dies derzeit unrealistisch ist, wäre eine solche Notstandsregierung vorerst auch erst einmal auf nationaler und dann europäischer Ebene anzustreben.

Zur Umsetzung der erwähnten drei wissenschaftlich abgeleiteten Primärziele (Halbierung des Energieverbrauchs, Reduzierung der Stoffströme und Ende des Flächenverbrauchs) könnten von LG neben Blockadeaktionen selbst organisierte Gesellschaftsratsgespräche auch als Weiterentwicklung ihrer Rekrutierungsveranstaltungen stattfinden, um mit der Zivilgesellschaft, aber auch Politiker:innen und Wissenschaftler:innen den vorläufigen Panoramaaufriss zu diskutieren und ihn auch in Interviews, Talkshows und auf der Website offensiv einzubringen, um über die sich leerlaufende Frage, ob Ankleben gut oder schlecht fürs Klima ist, hinauszukommen. Neben inhaltlichen Anregungen wäre auch zwecks Einbezugs vieler Menschen über niederschwellige Aktionsformen nachzudenken.

KLIMA: Der EU-Emissionshandel wäre vor 30 Jahren ein effizientes Instrument gewesen, bei einem Notstandsprogramm kann er nur sehr begrenzt lenkend wirken; mit den Öl-, Kohle- und Gasförderländern müsste ein Superkartellvertrag geschlossen werden, demgemäß unter Wahrung der Interessen dieser Länder (Kompensationszahlungen, Preis- und Abnahmegarantien usw.) die fossilen Ressourcen im Boden bleiben. Die Treibhausgase sind in der EU bis 2035 linear auf netto Null zu senken, unter Anrechnung der Senken (Bindung des CO2 durch Wälder usw.). Keine weitere Verwendung von Palmöl und sonstigen durch Entwaldung hergestellten Produkten; Anpflanzen von Bäumen, Renaturierung von Böden, Mooren und anderen CO2-Speichern, auch bei nur geringen Senkeneffekten; Entwaldung verbieten sowie Aktivitäten, die organischen Zerfall verursachen – Feldfrüchte und Gartenabfälle verbrennen Lager- und Grillfeuer usw. –; Militär weitestmöglich reduzieren.

VERKEHR: 100 km/Höchstgeschwindigkeit und 9-Euro-Ticket als sofortiger Einstieg; alle fossilen Individual-Transportmittel werden zunächst eingeschränkt und so schnell wie möglich überflüssig gemacht; der private Benzin- und Dieselverbrauch liegt zukünftig bei 500 Liter pro Person/Jahr; er ist nicht übertragbar und in 5 Jahren auf 0 zu reduzieren. Der öffentliche Nah- und Fernverkehr ist kostenfrei, der Rad- und Schienenverkehr hat absoluten Vorrang; Verkehrsberuhigung erfolgt auch durch den Abbau von Straßen/Autobahnen usw.; die Frachtschifffahrt und der Straßengüterfernverkehr sinkt jährlich um 20 Prozent, bis auf 90 Prozent Reduktion im Vergleich zu 2023; Kreuzfahrtschiffe und Niedrigpreis-Fluglinien sind wie alle Flüge unter 1000 km und über 3000 km sofort einzustellen; Business- und First-Class entfallen unmittelbar; es gibt das Recht auf einen Hin- und Rückflug/Jahr, in fünf Jahren einen Flug alle drei Jahre, das Recht ist nicht übertragbar. Schließung der meisten Flughäfen; Forschungen in alternative Formen des Fliegens und Antriebssysteme können subventioniert werden.

VERTEILUNG/Soziales/gesellschaftlicher Zusammenhalt/Kommunikation: Einführung eines bedingten Grundeinkommens: Vollbeschäftigung durch einen dritten, öffentlichen Sektor mit sozial-ökologischen Arbeitsplätzen; ein Maximaleinkommen des zehnfachen des Mindestlohns; hohe Vermögens- und Erbschaftssteuern (ggf. Deckelung des max. zulässigen Vermögens), auch um finanzielle Umstellungslasten besser zu verteilen; eine CO2-Steuer für über 2 Tonnen/Person: 5 Prozent des persönlichen Jahreseinkommens pro mehr verbrauchter Tonne sind zu entrichten; nur eine öffentliche Krankenversicherung und entfallen der Beitragsbemessungsgrenze.  Sorge- und Pflegearbeit sind zu entkommerzialisieren, angesichts geringerer Einnahmen z.B. für Pflegepersonal: Einführung eines sozialen Dienstes für alle Bürger:innen (als Mitsorgearbeitende z.B. in Krankenhäusern oder Pflegeinrichtungen).

KOMMUNIKATION/Forschung: unabhängige Online-Suchmaschine und sicheres Internet; drastische Einschränkung der Handlungsfreiheit der IT-Konzerne des Überwachungskapitalismus; Kommunikationsorganisation zur Einsicht in Veränderungen und Notwendigkeit radikaler Maßnahmen entwickeln, lokales Feedback und Vorschläge – Bürgerräte. Sofortige Einrichtung eines Sondervermögens zur Einrichtung von Forschungseinrichtungen und -aufträgen zur Umsetzung des Notstandsprogramms; Ausrichtung der Lehre und Forschung auf eine Überlebenswissenschaft, gerade auch in den Sozialwissenschaften und insbesondere in den wachstumsfixierten Wirtschaftswissenschaften.

WOHNEN: Alle Neubauaktivitäten sind im Prinzip einzustellen, jedem Inländer steht so viel Energie zu wie für 45 qm bei 20 Grad zum Heizen benötigt wird; Neubauten nur als 0-Emissionshäuser; keine weitere Versiegelung von Freiflächen und Ansiedlungen auf der grünen Wiese; EE-Sanierung (Wärmepumpen usw.) auch beim Altbestand; Förderung auch kleiner Solarpanelen (auf Balkons) sowie des Baus von Solarparks und Windrädern durch Bürgergenossenschaften; Waschmaschinen usw. müssen A+++ entsprechen und eine Mindestzahl an Nutzern aufweisen (gilt z.B. auch für Rasenmäher); der Müll von Privathaushalten darf max. 10 Prozent des Vorjahreswertes vor Einführung des Notstandsprogramms betragen; Höchsttemperatur in Gebäuden von 20 Grad, Mindesttemperatur von nicht unter 26 Grad [sic! ist 16 Grad gemeint?] Firmen Haushalte und Gebäude müssen ihre Emissionen um 12 Prozent jährlich reduzieren (70 Prozent in zehn Jahren).

ARBEIT/Wirtschaft/Industrie: Angesichts der zeitlichen Dringlichkeit – wie stark kann man auf Beeinflussung von Preissignalen auf Märkten angesichts des Scheiterns früherer Planökonomien setzen? Es bedarf dennoch einer starken gesamtwirtschaftlichen Rahmenplanung: Aus (auf z.B. auf Deutschland bezogenen) Input-Output-Matrizen ist zu entnehmen, welcher Konsum angesichts welcher Produktionsinputs möglich ist, um dann möglichst demokratisch über den gewünschten Mix zu entscheiden. Um die nötigen 90 Prozent zu schrumpfen, sind jedenfalls folgende Produktionsbereiche weitgehend rückzubauen: Fossilenergieunternehmen, Zementhersteller, Entwaldungsfirmen, Automobilhersteller, Flug- und Schiffsgesellschaften, Chemieunternehmen, Düngemittelhersteller, Metallhersteller und der Finanzsektor. Umweltverträglichkeitsprüfung aller Arbeitsplätze und ggf. Einstellung und Umschulungen; Arbeitszeitreduktion auf max. 25 h/Woche; bis 25.000 € keine Steuern, dann linear ansteigend. Die Mehrwertsteuer entfällt, stattdessen kompensierende CO2-Besteuerung auf Herstellung und Kauf von Produkten, die den Hauptanteil der Steuererträge ausmachen soll; 25 Prozent-Steuer auf Onlinekäufe.
Einsatz fluorierter Gase untersagen; alle Einwegprodukte sind zu verbieten, auch Becher, Flaschen, Plastikfolien und sonstige nichtentsorgbare Verpackungen; sonstiges ist zu sammeln und kann an der Quelle zurückgegeben werden. Alle nichtessenziellen Maschinen sind zu verbieten: Fahrstühle, Rolltreppen, Brotschneidemaschinen, Leuchtreklame usw., und nur (Aufzüge für Behinderte z.B.), sofern Strom aus EE kommt. Werbedisplays an Straßen entfallen, Schaufenster werden nachts nicht beleuchtet. Schaffung einer Einrichtung zur Regulierung des Produktdesigns mit dem Ziel der Maximierung der Lebensdauer. Sicherstellen, dass vorrangig Recycling stattfindet; nicht wiederverwendbare Produkte müssen in drei Jahren verschwinden; Müllexporte sind zu verbieten; Herstellern komplexer Produkte (Autos, Handys) ist vorzuschreiben, diese am Produktionsende zu zerlegen und alle Rohstoffe zu entnehmen, unabhängig von den Kosten. Das Privateigentum an Wasser, Land und natürlichen Ressourcen (Holz) muss sehr stark eingeschränkt und reguliert werden (z.B. Erbpacht anstelle von Privatgrund und Boden).

ERNÄHRUNG/Landwirtschaft: Prinzipiell sind regional anbaubare Produkte zu bevorzugen. Weitgehender Importstopp von Lebensmitteln (insbesondere von außerhalb der EU), zumindest ist die Einfuhr von Lebensmitteln mit hohem CO2-Fußabdruck einzustellen. Vertrieb und Konsum erfolgen über ein Punktebezugssystem, um eine gesicherte Basisversorgung und Gleichverteilung der Bevölkerung angesichts der vorzunehmenden Begrenzungen insbesondere in der Übergangsphase zu erreichen. Die Vernichtung von Lebensmitteln ist verboten, nicht benötigte sind abzugeben und/oder kostenlos zu verteilen; kein Fleisch- und Wurstwaren-Verzehr mehr, oder eine geringe, maximale Quote/Kopf. Die Massentierhaltung ist zu verbieten (und nur so viele Kühe sind zulässig, wie genügend Wiese für die Gülle beim Halter vor Ort vorhanden ist). Die Emissionen in der Landwirtschaft sind um 12 Prozent jährlich zu reduzieren (70 Prozent in zehn Jahren), 2035 auf Null. Umweltschädliche Düngemittel und Pestizide sind zu verbieten; Fisch-Fangquoten unabhängig von der Nachfrage zwecks Erholung der Bestände neu festzulegen, der Beifang/Rückwurf ist zu senken, umweltschädliche (Groß)Fischereimethoden sind zu verbieten; höhere Biodiversität, keine Bodenverluste; mindestens 20 Prozent der Land- und Wasserfläche Deutschlands werden zu möglichst verbundenen Ökozonen, in denen es keinen versiegelten Boden, keine Straßen und keine Ortschaften gibt.

FINANZSEKTOR: Drastische Schrumpfung von Derivaten, Optionen und Futures, nur zugelassen, sofern sie zur Abdeckung von Risiken in der Realwirtschaft dienen. Ökosoziale Ausrichtung öffentlicher und privater Kreditvergabe; ein sicheres Bankensystem für Alltagstransaktionen wie Bewegungen auf Girokonten (Trennbankensystem); Mindesthaltedauer von Aktien, Anleihen, Währungen usw. von einer Woche und Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Beendigung privater Geldschöpfung zugunsten der Geldschöpfung durch die öffentliche Hand (Vollgeldsystem); (Teil)Finanzierung des sozial-ökologischen dritten Arbeitsmarktes durch Schenkgeld der Zentralbank (keine Zinslast und ohne Tilgung); Größenbegrenzung der Banken auf 100 Mrd. Euro; rückzahlungsfreie Investitionen in die grüne Fundamentaltransformation, z.B. Schaffung eines integrierten europäischen Bahnnetzes (in sechs Stunden von Paris nach Athen).

Die frohe Botschaft: 
Die unerlässliche Entmaterialisierung führt wohl zwangsläufig zu einer völligen Umwälzung der Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen. Eine Postwachstumsökonomie entlastet und entschleunigt und erfordert ein neues transzendentes Weltbild jenseits von individualegoistischem Konsum, Expansion und Geschwindigkeit. Die Aktivist:innen der LG werfen nicht nur selbstlos ihre Körper in die Waagschale, sondern sie sind auch symbolische Persönlichkeiten und Repräsentanten einer zukünftigen biosphärischen Lebensökonomie, die nicht nur gegen die voranschreitende Zerstörung unseres Planeten kämpfen, sondern deren Ziele auch zu einem sinnerfüllteren, kreativeren, solidarischeren, schöneren und glücklicheren Leben führen können.

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Kathrin Gerlof
Kathrin Gerlof ist Chefredakteurin der Wirtschaftszeitung OXI, Filmemacherin, Texterin und Schriftstellerin. „Nenn mich November“ ist der Titel ihres jüngsten, im Aufbau-Verlag erschienen Romans. Als freie Journalistin schreibt sie für verschiedene Medien.

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