Politische Machtfrage: Was müssen wir tun, um das Notwendige unterlassen zu können

Bild: geralt auf Pixabay

An der Frage, ob Parteien überhaupt noch adressiert werden sollten, wenn sie doch einem offensichtlich geradezu natürlichen Prozess der Kartellisierung unterliegen, kann man sich schon mal die Zähne ausbeißen. Denn noch jede Partei – egal, wie ihr Gründungsaufruf einst lautete – sieht ab einem bestimmten Punkt ihre Aufgabe nicht mehr darin, eine eigene politische Agenda durchzusetzen, die im allerbesten Fall einen der Fülle der Gegenwart und ihrer Probleme angemessenen Entwurf für gesellschaftliche Transformation enthält. Wobei schon das Wort Transformation inzwischen einen abgestandenen, schalen Geschmack hat, führen es doch alle im Munde und viele meinen damit: Was müssen wir tun, um das eigentlich Notwendige unterlassen zu können?

Statt eines notwendigerweise radikalen Wandels sehen Parteien ihre Aufgabe eher darin, Wahlen zu gewinnen, Ämter und Mandate zu bekommen oder zu verteidigen, die Finanzierung der Organisation zu sichern. Also in gewisser Weise ein Beutegemeinschaft zu werden. Das liegt in den Genen der modernen Konkurrenzgesellschaft.

Es gab in der jüngeren Vergangenheit einige ehrenwerte Versuche, diesem Prozess des Verfalls und der Trennung der Repräsentierenden von den Repräsentierten etwas entgegenzusetzen. Rotation (Grüne), offene Listen (PDS) seien als zwei Beispiel genannt. Konsequente Basisdemokratie (Piraten) gehört dazu. Die Basisdemokratie ist komplett gescheitert, die anderen Versuche wurden entweder als kontraproduktiv auf dem Weg zur Macht – vor allem für den Machterhalt – angesehen oder als zu aufwendig und anstrengend für eine im Grunde genommen stets mit dem Sektierertum liebäugelnde Linke empfunden. Was in dieser Gegenwart geradezu auf die Spitze getrieben wird, wenn eine Partei, die sich in den Umfragen mal unter, mal knapp über der 5-Prozent-Hürde bewegt, vorrangig damit beschäftigt ist, die Spaltung oder Abspaltung zu vollziehen.

Wem wollten wir gerade Charisma unterstellen?

Politische Repräsentationsmechanismen unterliegen dem organischen Verfall. Die Parlamentarische Demokratie, der es hierzulande an einer wesentlichen Grundvoraussetzung für Fort-Schritt fehlt, nämlich an direkter Demokratie und der Fähigkeit zur Deliberation, führt ein Eigenleben, das die gegenwärtige existenzielle Bedrohung nicht abbildet. Schauen wir woanders hin, sehen wir aber auch, dass partizipative Projekte, kollaborative Willensbildung und deliberative Prozesse unglaublich problematisch und fragil sind. Podemos in Spanien ist ein Beispiel dafür: Aus den Protesten 2008 als Bewegung entstanden, 2014 als Organisation angetreten, die soziale Empörung in ein Werkzeug des politischen Wandels zu transformieren, wenige Monate nach Parteiengründung auf Platz 1, aber eine Partei ohne gewachsene Strukturen, ohne ausreichend Kader und ohne eine jahrzehntelang erprobte und ausprobierte gemeinsame politische Kultur. Oder eben auch jener Un-Kultur, die in gewisser Weise Voraussetzung zu sein scheint für Erfolg.

Zurück nach Deutschland, das gleich gar keine Erfahrung hat mit deliberativen Mechanismen, kollaborativem Arbeiten an einem Gesellschaftsprojekt. Und auch nicht haben will. Rousseau sah in der Demagogie charismatischer Führer und in der Neigung zum Konformismus große Gefahren für die Demokratie. Das sehen wir bestätigt. Wobei die Neigung zum Konformismus gegenwärtig das größere Problem darstellt, denn wem wollten wir gerade Charisma unterstellen?

Die beste Analyse des Konformismus und fehlender politischer Ambitionen, die uns einfällt, ist ein halbwitziger Spruch: »Viel Spaß mit dem Wahlergebnis.« (César Rendueles: “Gegen die Chancengleichheit”)

Und das Problem, die große Frage ist: Was fängt man damit an, wenn eine biophysikalische Bedrohung sozusagen das Ganze infrage stellt? Und wenn der politische Tribalismus gleichzeitig das ökologische Paradigma ignoriert?

Der Versuch, uns einzureden, mit DIESER Politik sei das 1,5-Grad-Ziel noch zu erreichen, wie es die Politik gegenwärtig tut, verdient keinen Respekt. Obwohl darin sicher bei einigen auch das Anliegen steckt, uns irgendwie zu ermutigen. Es bleibt trotzdem unterlassene Hilfeleistung, denn bereits jetzt wäre es dringend geboten, uns auf das Leben in einer klimagewandelten Realität vorzubereiten. Ist die Hoffnung auf Reformfähigkeit der adressierten Parteien naiv? Ist das Maß der Naivität unterschiedlich groß beim Blick auf die drei Parteien? Gibt es Alternativen?

Parteien sind nicht (mehr) fähig, generativ zu handeln.

Es war insofern einmal anders, als dass – egal welcher Couleur eine Partei war – sie stets ein Wachstums- und Wohlstandsversprechen im Gepäck haben konnte. Und zwar völlig unabhängig davon, ob dieses Wohlstandsversprechen für eine Oberschicht, eine Mittelschicht, die sozial Abgehängten oder gar alle galt. Jedes Versprechen basierte darauf, dass es Wachstum geben wird und aus diesem Wachstum Wohlstand erwüchse. Selbst wenn die Verteilung der Wachstumsgewinne höchst ungerecht (FDP oder CDU) nach oben erfolgen sollte, ging damit das Versprechen einher, dass für alle etwas abfallen und sich in mehr Konsum niederschlagen wird. Dass die warenförmige Welt für alle, auch für die Spatzen, ein paar Segnungen vorhält.

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Generatives, also der Lage angemessenes Handeln war insofern ein leichtes Spiel, denn es bedeutete, schlicht und einfach zu behaupten, dass es den Kindern der jetzigen Wähler:innen einmal besser gehen wird. Und so ist es ja auch lange gekommen. Hier, im reichen globalen Norden.

Nun stehen Parteien eigentlich vor der Aufgabe zu vermitteln, dass unser Verständnis von Wohlstand und Lebensqualität entkoppelt werden müsste von ökonomischem Wachstum, Fossilismus und Übernutzung aller irdischen Ressourcen (Sonne ist genug). Diesen Diskurs hat noch keine Partei gewagt zu führen. Und führte eine Partei ihn, wäre die Strafe ihr Untergang. Medial begleitet und unterstützt. Keine Partei hat sich bislang die Mühe gemacht, ernsthaft über einen anderen, neuen Wohlstandsbegriff nachzudenken. Das tun die Wirtschaftsethiker:innen der Katholischen oder Evangelischen Akademien, die nicht gefragt werden, die Pluralen Ökonom:innen, die nur selten als Minderheitenposition in Expert:innenkommissionen berufen werden, Klimaaktivist:innen, von denen niemand etwas hören möchte.

Ein anderes BESSER als MEHR

Unser politisches System basiert darauf – und die Bevölkerungen der Vergangenheit und Gegenwart sind so konditioniert –, dass bei Wahlen keine Partei aus dem Topf »Sonstige« herauskommt, deren Versprechen lautet, einen Plan, eine Idee für eine angemessene politische Reaktion auf die weltumspannende biophysikalische Bedrohung und Existenzkrise zu haben. Denn dieser Plan, diese Idee bräche in den sogenannten Wohlstandsgesellschaften mit allem, was der überwiegende Teil der Menschen bislang zur Grundlage einer Wahlentscheidung gemacht hat. ES MUSS BESSER WERDEN! Und besser ist von den Parteien, über die wir reden, bislang immer mit MEHR beschrieben worden. Gegenwärtig wissen die Klügeren, dass besser sowieso nicht drin ist und formulieren das Verlangen, es möge dann doch zumindest bleiben, wie es ist. Was im Umkehrschluss bedeutet: Mit ausreichend Stimmen wird gewählt, wer behauptet, es ginge auch ohne einen solchen Plan. Oder wer zusammenlügt, es ließe sich eine stacheldrahtbewehrte Insel des Wohlstandes bewahren, auf die das Klima der nahen Zukunft nicht wird flüchten können.

Das andere MEHR, eines jenseits von Wachstum, Extraktivismus und Übernutzung aller planetaren Ressourcen ist bislang nicht einmal im Ansatz versucht worden zu beschreiben.
Keine der drei Parteien, rot und rot und grün, kann etwas Entsprechendes vorweisen. In Abstufungen natürlich, denn trotz aller Enttäuschungen haben die Grünen sicher noch einen Vorsprung und auch eine Provenance, die auf Expertise und guten Willen verweist.

Wahlkampf Landtagswahl NRW 2022 – Bündnis 90/Die Grünen – Heumarkt Köln
(Foto: Raimond Spekking auf wikimedia commons)

Es sind gegenwärtig einzig die Grünen, die hierzulande auch in der Realpolitik an der einen und anderen Stelle versuchen, diesen Paradigmenwechsel hinzubekommen und uns auf schwierigere bis schlechtere Zeiten einzustimmen. Dafür werden sie abgestraft. Gegenwärtig muss der Versuch, »der Gesellschaft eine avantgardistische Agenda überzustülpen, an den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen scheitern«, beschrieb es Marc Saxer von der Friedrich-Ebert-Stiftung in einem Beitrag für das Journal für internationale Politik und Gesellschaft. Und das stimmt. Eine Degrowth-Partei ist bislang zwar schon versucht worden, aber nie auch nur in Sichtweite einer parlamentarischen Beteiligung gekommen.

Aber ist das realistisch…

Parteien stellen gegenwärtig nur Fragen, deren Antworten sie kennen. Sie ersetzen Realität durch Meinung und Geschichte durch Kommentar. Das reicht nicht mehr aus, um die Welt, oder genauer, unsere Spezies, zu retten. Die Parteiendemokratie kann zudem unter bestehendem Recht und Gesetz (meint auch wesentlich das Parteiengesetz und die Verfasstheit als parlamentarische Stellvertreter-Demokratie) nur punktuell weiterentwickelt werden. Das ist definitiv nicht ausreichend.

Es liegt in der Natur der Sache, dass Parteien NICHT der Hort des radikalen Wandels sind. Sie sind aufs Nationale beschränkt, durch Recht und Gesetz eingeengt und tragen aufgrund ihrer Konstruktion immer ein hohes Maß an Opportunismus in sich, das es ihnen ermöglicht, gesellschaftlichen Entwicklungen zu folgen, nicht aber, notwendige gesellschaftliche Entwicklungen voranzubringen. Dieser Opportunismus birgt natürlich auch eine Chance: Denn wenn es so ist, dass nicht Menschen und Menschengruppen Parteien folgen, sondern Parteien vermeintlichen oder wirklichen Mehrheiten (Zielgruppen, Wähler:innenpotenzialen) zu Munde agieren, hieße das ja auch: Sie lassen sich bewegen, ja zwingen. Aber ist das realistisch?

  • In einer Zeit, da selbst ein handwerklich ungenügendes, aber in der Sache doch vernünftiges Heizungsmodernisierungsgesetz dazu führt, dass eine Partei geradezu stündlich an Sympathie verliert?
  • In einer Zeit, da auf kommunalen Ebenen Politiker, die die meisten Parkplätze versprechen, den größten Zuspruch erhalten?
  • In einer Zeit, da Mehrheiten jubeln, wenn den Aktivist:innen der Letzten Generation attestiert wird, sie seien eine terroristische Vereinigung?
  • In einer Zeit, da die Aushebelung der letzten Reste des Rechts auf Asyl die Zustimmung sehr vieler Menschen findet, die vorher glauben gemacht wurden, das Elend der Länder des Globalen Südens ließe sich mit Hilfe von Stacheldraht abhalten oder im Mittelmeer ersäufen?
  • In einer Zeit, da die Physik der menschengemachten Krise unerbittlich und in stetig sich steigerndem Tempo wirkt?
Bild: geralt auf Pixabay

Natürlich ließe sich im Rahmen des Parteiengesetzes einiges tun im Sinne einer stärkeren Mitgliederbeteiligung (das wäre die Frage nach Vertreter:innenversammlung oder Mitgliederversammlung und die Möglichkeit, weitere Organe zu etablieren, wie Beiräte, Räte etc.) Es lässt sich daran basteln, ob eine Partei über Eintritt oder Aufnahme neue Mitglieder bekommt, wie sie mit ihren diversen Unvereinbarkeitsbeschlüssen umgeht, wie sie ihr Antragsrecht partizipativer ausgestaltet, Rotationsverfahren in Ämtern einführt. Das alles ändert aber nichts an dem Grundproblem: Parteien treten an, um Wahlen zu gewinnen, und – in ihrer Lesart – Politik zu gestalten. Dafür brauchen sie Ämter und Mandate, sprich Macht, und darum streiten und fighten sie in Konkurrenz und nicht in Konkordanz. In einem Wettbewerb, in dem sie den anderen schaden, wo es nur geht, und nicht in einem deliberativen gesellschaftlichen Prozess.

Lässt sich ein anderes System überhaupt denken?

In einem Kontext sozialer Fragmentierung aber ist politische Emanzipation unmöglich. Radikal wäre an dieser Stelle, die Art und Weise der politischen Repräsentation an sich auf den Prüfstand zu stellen. Ist es weiterhin genehm, dass NUR Parteien die erste Gewalt, also die Legislative, stellen? Obwohl es – wie schon der Name sagt: pars, lat. der Teil – keine Partei geben kann, die Gesellschaft als Ganzes vertritt, weil es eine Bedrohung für alle und alles abzuwenden gilt, und das Abwenden, bzw. mindestens eine Verlangsamung der ökologischen Katastrophe zum Programm gemacht werden müsste? Um Zeit zu schinden? Wenigstens das. Ließe sich ein anderes System überhaupt denken? Oder ist das völlig verschwendete Zeit, die uns ja sowieso davonläuft?

Verschwendet auch deshalb, weil Parteien (wie alle Organisationen) immer und zuerst im eigenen Interesse handeln. Wobei das eigene Interesse natürlich ihre Zielgruppe, sprich ihre Wähler:innen einschließt. Nur deshalb ist beispielsweise eine Abschaffung der Sperrklausel nicht möglich. Durch die holte man sich (wenn auch im niedrigen Prozentbereich) Konkurrenz ins Haus.

Also scheint die Frage zu sein, ob es überhaupt ein gesellschaftliches Fundament gibt, das ausreicht, den Zustand der Parteien fundamental zu ändern. Wer läuft wem hinterher, wer treibt wen vor sich her? Wer erzwingt Transformation auch dann, wenn die, die es aufgrund des bestehenden Systems in Recht und Gesetz und Durchführungsbestimmungen gießen müssen, zu dieser Transformation als Beschlusslage nicht in der Lage sind?

Es stellt sich gegenwärtig nicht, wie vielleicht erhofft, ein innerer Zusammenhang her aller Krisen, die uns beherrschen. Die Krisendynamiken reichern einander immer weiter an und alle Krisen werden herrschaftlich reguliert. Auf eine widerständige Bevölkerung trifft nur, wer vorschlägt, die Kosten angerichteter Schäden durch diese Art des Wirtschaftens zu internalisieren. Vor diesen dringend notwendigen politischen Eingriffen in die Lebensweise und den Lebensstandard (ausschließlich an materiellem Wohlstand bemessen) schrecken alle Parteien zurück. Und die für solche Eingriffe auf die Straßen gehen, sind nun wahrlich keine Mehrheiten, die in der Lage wären, Parteien zu zwingen, politische Avantgarde einer schmerzhaften Transformation zu sein.

Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrigbleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.

Sherlock Holmes
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Kathrin Gerlof
Kathrin Gerlof ist Chefredakteurin der Wirtschaftszeitung OXI, Filmemacherin, Texterin und Schriftstellerin. „Nenn mich November“ ist der Titel ihres jüngsten, im Aufbau-Verlag erschienen Romans. Als freie Journalistin schreibt sie für verschiedene Medien.

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