Sackgasse Ukrainekrieg

Amaury Laporte auf wikimedia commons

Der Angriffskrieg Russlands mit dem Ziel, die Ukraine zu vernichten oder zu teilen und gefügig zu machen, dauert immer länger und verlangt immer mehr und wohl längere Unterstützung. In der Tat, Zeit abzuwägen, wie Deutschland und Europa sich auf die Dauer verhalten sollen und was auf uns zukommt, wenn wir einen Diktatfrieden Russlands verhindern und Grundlagen für Verhandlungen über eine völkerrechtlich tragfähige Friedens- und Sicherheitsordnung schaffen wollen. Dazu verstärkt sich die Debatte in Deutschland.

Es gibt drei Argumentationsstränge, die darauf verweisen, dass der Ukrainekrieg zur Sackgasse für Deutschland und Europa, aber auch für Menschenrechte und Völkerrecht, zu werden droht.

  • Wegen der unterstellten Aussichtslosigkeit eines Erfolgs der Ukraine soll durch Zurückhaltung bei Unterstützung, Waffenlieferungen und Wirtschaftssanktionen dieser Aussichtslosigkeit Rechnung getragen werden – das nennt man self fullfilling prophecy;
  • Immer öfter wird spekuliert, dass die politische, technologische und militärische Auseinandersetzung mit China für die USA Vorrang bekommt vor dem Engagement für die Ukraine und gegen Russland. Was erwartet Europa, wenn Russland die Vernichtung oder Teilung der Ukraine erfolgreich durchgesetzt und damit seine Machtbasis in Europa massiv gestärkt hat?
  • Die Universalität der Menschenrechte und des Völkerrechts wird zunehmend relativiert, auf die andere geschichtliche und kulturelle Einbettung der Menschenrechte im Osten und Süden verwiesen. Europa und der Westen müssten sich mit ihrer menschenrechtsorientierten Politik zurückhalten und Interessenpolitik auf den Schild heben.

Self fullfilling prophecy

Zum ersten Punkt, die Aussichtslosigkeit des Sieges: Immer öfter hört man die Auffassung, der Angriffskrieg Russlands könne und werde nicht zu einer Niederlage Russlands führen, die Erfolge durch die militärische Unterstützung der Ukraine und die wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland seien mehr oder weniger wirkungslos. Außenministerin Baerbock wird in ihrer Beharrlichkeit zunehmend auch von linken und liberalen Personen belächelt oder der Naivität bezichtigt. Die unüberbietbar zynische und perfide Variante der Unbesiegbarkeit Russlands hat am 17.09.2023 Sara Wagenknecht bei der Talkshow von Anne Will dargelegt, da Russland ja über genügend Menschenmaterial als Kanonenfutter verfüge. Man fragt sich sehr, warum und für wen ein breites Spektrum der bürgerlichen Medien und der öffentliche-rechtlichen Medienanstalten dieser Solipsistin, die nur zerstören und sich vermarkten will, Raum gibt.
Diese Annahme eines russischen Sieges ist alles andere als zwingend. Russland ist von einer Niederlage sicher weit entfernt, aber zumindest genauso weit von einem Sieg über die Ukraine, die der Ausgangspunkt für eine erneute Vorherrschaft in Osteuropa wäre.
Ich habe den Eindruck, die weitergehenden restaurativen und aggressiven politischen und militärischen Ziele Russlands werden nicht ernst genommen, obwohl ständig neu bekräftigt. Oder ist die Aussage des hochrangigen Militärs A. Mordwitschew über die Eroberung Osteuropas als neues Ziel nur leeres Gerede und die militärisch-politische Zusammenarbeit, mit dem weltweit geächteten Nordkorea Ausdruck des Verhandlungswillen und der Kompromissbereitschaft Russlands?
Aufgrund des Verteidigungswillens der Ukraine, der – manchmal zögerlichen – Waffenlieferungen sowie der gesamten militärischen, wirtschaftlichen und humanitären Unterstützung hat die Ukraine bislang mehr als widerstanden. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass das in Zukunft anders sein wird, es sei denn, der Westen ändert seine Haltung. Ich fürchte, durch die Lasten dieser Unterstützung, verändern sich bei uns die Maßstäbe, wenn es um die Verurteilung eines Angriffskriegs geht, der immer noch in aller Härte und Brutalität von Russland fortgesetzt wird. Zögernde und abnehmende Bereitschaft des Westens zur Unterstützung der Ukraine kann in der Tat zum Nachteil der Ukraine führen – aber vor allem auch zum Nachteil Europas. Oder was erwartet denn Europa nach einer Niederlage der Ukraine und einem militärischen und politischen Erstarken Russlands? Friedfertigkeit und Versöhnungswille? Das Gegenteil wird der Fall sein (siehe oben). Diese Niederlage der Ukraine (und Europas) wäre aber dann eben keine zwangsläufige Entwicklung, sondern self fullfilling prophecy.

Kerzenlichtmahnwache für die Ukraine, UNU Plaza, Tokio, April 2022
(Foto: Syced auf wikimedia commons)

Gefährliche Illusion

Inzwischen wird oft darauf hingewiesen, dass die bisherige amerikanische Unterstützung der Ukraine durch die USA auf der Kippe stehe, ein Wahlsieg D. Trumps wird dabei fast schon als sicher unterstellt. Elbrige Coldy (siehe DER SPIEGEL vom 12.08.2023 | Bezahlschranke) wird als einer der Kronzeugen für einen politischen Richtungs- oder Strategiewechsel der USA in der Gewichtung Europa/Ukraine gegenüber China angeführt. Coldy ist Stratege der Republikaner und war Staatssekretär im Verteidigungsministerium unter Trump. Coldy hat also selbst diesen Richtungswechsel propagiert und befestigt. Dass die Republikanische Partei immer schon isolationistische Tendenzen hatte, (so z.B. auch massiv vor dem Eintritt der USA in den 2. Weltkrieg, eindrucksvoll beschrieben im Roman von Philip Roth, Verschwörung gegen Amerika), der Trump-Flügel zuallererst, ist nichts Neues. Für eine fehlende Differenz zwischen den Republikanern und den Demokraten in dieser entscheidenden Frage gibt es meines Erachtens keine hinreichen Belege – und selbst die republikanische Partei ist in dieser Frage keineswegs einer Meinung. Auch hier drohen wir einer vorweggenommenen Entwicklung zu erliegen, anstatt im atlantischen Bündnis klar machen, dass dieser Richtungswechsel auf der gefährlichen Illusion basiert, im Wettbewerb mit China eher bestehen zu können, wenn Russland gewonnen hat.

Die Europäer können gute Gründe dafür darlegen, dass eine geänderte Rang- und Reihenfolge falsch wäre. Ein Sieg Chinas wäre für die Welt eine Katastrophe, so Colby. Auch ein Sieg Russlands in der Aggression gegen die Ukraine wäre eine ähnliche Katastrophe, zuallererst, aber nicht nur für Europa. Denn anzunehmen, der Weg Chinas zu einem dominanten, die USA übertreffenden Pol einer multipolaren Welt sei leichter zu stoppen, wenn wir die Ukraine ihrem Schicksal überlassen und einen Sieg Russland ermöglichen, ist eine gefährliche Illusion. Das Ringen um eine multipolare Weltordnung, in der insbesondere Europa nicht untergeht, wird nur dann erfolgreich sein, wenn der neosowjetischen Aggression Russlands entschieden Einhalt geboten wird.

Dass da von Europa und auch Deutschland mehr an Einsatz in vielerlei Hinsicht verlangt wird, mag zwar bitter sein, ist aber unvermeidlich. Wir haben über viele Jahrzehnte unter dem Schutzschild der USA im Verbund der NATO unsere Freiheit und Sicherheit genossen, unsere Rüstung und Verteidigungsfähigkeit heruntergefahren, gleichzeitig mit der Möglichkeit verbunden, USA und NATO aufs heftigste kritisieren und gegen ihre Politik zu demonstrieren zu können. Das zeichnet dieses politische Gefüge auch aus! Denn in welch anderem Machtbereich der Welt ist diese Dualität möglich? Gerade das ist einer der Plusunkte, die demokratisch verfasste Staaten Europas der Welt zu bieten haben.

Kerzenlichtmahnwache für die Ukraine, UNU Plaza, Tokio, April 2022
(Foto: Syced auf wikipedia)

Was ist der Grund für die Verzwergung?

Was mich bestürzt ist, damit bin ich beim dritten Punkt, dass immer häufiger von einem „westlichen Menschenrechtsuniversalismus“ gesprochen wird. Diese Tendenz fällt mir seit einiger Zeit nicht nur in den Debatten um den Angriffskrieg Russlands, sondern auch generell in den Debatten um die wachsende Bedeutung des globalen Südens auf. Die Universalität der Menschenrechte wird relativiert und der Menschenrechtsorientierung einer Interessensorientierung entgegengesetzt. Ich halte das für fatal. Die Menschenrechte und das Völkerrecht sind keine Erfindung des Westens. Es sind universale Werte, die von all den Staaten, die heute eine multipolare Weltordnung fordern, mitformuliert und mitgetragen wurden, einmal in der Charta der Vereinten Nationen 1945 und zum anderen in der Erklärung der Menschenrechte von 1948.

Ich finde es sehr bedrückend, wenn wir uns selbst nur noch als Macht sehen, die nichts anderes als einen als Doppelmoral empfundenen Wertekanon zu bieten habe. Was ist der Grund für die Verzwergung? Ja, die USA haben Menschenrechtsverletzungen zugelassen und gefördert, Angriffskriege geführt. Europa leidet unter der drückenden Last seiner kolonialen Vergangenheit, hat sie auch noch überhaupt nicht überwunden, wie die Auseinandersetzungen im französischen Afrika zeigen, die Aufarbeitung ist erst am Anfang. Aber Aufarbeitung und Auseinandersetzung sind bei uns möglich! Müssen wir wirklich klein reden, dass wir, dass der Westen, dass die USA und Europa in den Jahrzehnten seit dem 2. Weltkrieg die Sphäre waren, in der sich Demokratie und Freiheit, Toleranz und Emanzipation, Gewaltenteilung und Rechtsstaat, aber auch soziale Gerechtigkeit und Wohlstand qualitativ besser entfalten konnten als in jeder anderen Weltregion? Wollen wir im Nachhinein den fundamentalen menschenrechtlichen Unterschied zwischen dem sowjetischen Imperium oder China einerseits und Nordamerika, Europa und Japan andererseits nivellieren?

 Wir sehen in der Tat, dass die Unterscheidung zwischen freiheitlichen liberalen Demokratien und diktatorischen Autokraten oder autoritären Regimen nicht die Gefolgschaft findet, die wir uns wünschen. Dies gilt vor allem für die diktatorischen und autoritären Regime selbst, nicht für die Menschen in diesen Ländern. Selbst wenn die Zustimmung geringer wäre als nach Ende des 2. Weltkrieges, so bleibt die Unterscheidung dennoch richtig. Bei allen gravierenden Mängeln von Staat und Gesellschaft in den USA, Kriegsverbrechen und die brutale innere Kolonialisierung in der Entstehungszeit des Landes eingeschlossen, bei allen drückenden Folgen der kolonialen Erblast vieler Länder Westeuropas, ist in deren Einflussbereich eine Entwicklung von Demokratie und Freiheit, von Rechtsstaat und Gewaltenteilung, von Chancengleichheit und Minderheitenschutz, von Menschenrechten und Emanzipation, vor allem auch von Kritik am System und Protest dagegen möglich, in völligem Gegensatz zum Einflussbereich der Sowjetunion bzw. Russlands oder Chinas.

Foto: Leonhard Lenz auf wikimedia commons

Prüfstand der Doppelmoral

Die elementaren Freiheiten, die in der UNO-Charta und in der Erklärung der Menschenrechte von allen diesen Staaten, die sich davon abwenden oder abgewendet haben, kodifiziert sind, spielen dann keine Rolle mehr. Presse-, Meinungs-, Religions- und Reisefreiheit und anderes mehr, kann man nicht kulturell oder religiös unterschiedlich auslegen. Eine für alle verpflichtende Staatsreligion, ein Verbot politischer Parteien, Antisemitismus, Homophobie, Genitalverstümmelung, Zwangsehen, Unterdrückung von Frauen und Bildungsverbot für sie, Zensur von Medien und Ermordung von Journalisten, Apartheid, um einige Beispiele zu nennen, sind keine spezifische kulturelle Ausformung von Menschenrechten, sondern ein Verstoß gegen sie – egal ob in Indonesien oder Israel, in Palästina oder Polen.

Letztlich wird auch unser Engagement für das Überleben und die Unversehrtheit der Ukraine zum neuen Prüfstand der Doppelmoral: Dieselben Kräfte und Staaten, die heute zur Rücksichtnahme auf die Interessen Russlands, zur Vorsicht und Zögerlichkeit bei militärischer Unterstützung mahnen, werden morgen – sollte Russland dadurch obsiegen und die Ukraine untergehen – dies als weiteres Beispiel für die Unzuverlässigkeit und Doppelmoral des Westens anführen.

Wir müssen mit allem Nachdruck auf eine andere globale Verteilung von Rechten, Reichtum und Ressourcen drängen, den Ländern des globalen Südens und Ostens zu mehr ökonomischer Kraft und zu mehr politischem Einfluss verhelfen. Das wird uns wohl weit mehr abverlangen als die Unterstützung der Ukraine. Die gesellschaftliche Debatte darüber, was die Abwehr der Klimakatastrophe und die Bekämpfung der Fluchtursachen von uns verlangt, hat gerade begonnen. Dazu können wir, kann Europa, einiges, aber sicher noch viel zu wenig vorweisen. Aber Menschenrechte und Völkerrecht können dabei nicht außen vor bleiben und die weitere Unterstützung der Ukraine, bei der es um mehr als nur dieses Land geht, ist ein wichtiger Prüfstein. Die Europäer, eine noch größere werdende Europäische Union, haben die Kraft dazu – aber sicher nicht ohne transatlantisches Bündnis, denn zu dieser ökonomischen und militärischen Stärke, im globalen Wettbewerb zu bestehen, ist Europa allein weder gewillt noch in der Lage.

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Klaus Lang
Dr. Klaus Lang studierte Katholische Theologie, Psychologie und Politik. Er war zunächst Pressesprecher des Vorstandes der IG Metall, 1981 wurde er Leiter der Abteilung Tarifpolitik, später leitete er die Abteilung des 1. Vorsitzenden und war Geschäftsführer der Otto-Brenner-Stiftung, 2003 wurde er Arbeitsdirektor der Georgsmarienhütte Holding GmbH. Er ist Mitglied im Rat der Stiftung Menschenrechte, der Förderstiftung von Amnesty International und im Sozialethischen Arbeitskreis Kirchen und Gewerkschaften.

2 Kommentare

  1. Die analytische Präzision in der Analyse des Defätismus angesichts des Angriffskriegs des russischen Imperiums gegen die Ukraine ist beeindruckend klar.
    Dies gilt insbesondere für jedwede Auswirkung auf unsere politisch-kulturelle Lebensweise. Chapeau!!
    Ein wenig mehr analytische Anstrengung hätte die Debatte um Grenzen und Potential der Historizität „universaler Menschenrechte“ schon verdient. Dort, wo hier die Diskussion moralinsauer per Diktum abgebrochen wird, dort fängt sie erst an. Bei manchen hat sich noch nicht rumgesprochen, dass der Satz „Roma locuta…….“ nur noch als Karikatur bestand hat.

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