Der bisher jovial-bedeutungsarm erscheinende Boris Rhein, CDU, wirft ohne Federlesen den zehnjährigen grünen Regierungspartner über Bord, um ab jetzt sein geliebtes Hessen — zusammen mit einer ramponierten SPD — mit „Stil, Stabilität, Renaissance der Realpolitik“ und „sanfter Erneuerung“ durch diese turbulente Welt zu wiegen. Gar so als wäre es in den letzten zehn Jahren wegen der Grünen um turbulent-revolutionäre Veränderungen gegangen. Was sprachlich so esoterisch-sanft daher kommt, könnte den Anspruch in sich bergen, von Hessen aus die Statik dieser Republik zu verschieben. Rhein könnte aus dem politischen Moment eines überraschend und unverdient guten Wahlsieges heraus versuchen, eine Politik der Blockade aufzubauen: Status quo statt Veränderung. Eine Blockade-Koalition, die am 8. Oktober an der Wahlurne überzeugend legitimiert worden wäre. Denn der Aufstieg von CDU und AfD deckt sich mit dem Niedergang der Parteien links der Mitte. So verloren am 8. Oktober SPD, Grüne und Die Linke jeweils beträchtlich und kamen zusammen auf weniger Stimmen (33 Prozent) als die CDU alleine (34,6 Prozent); Hessen galt einst als rotes Bundesland. Und CDU und AfD (18,4 Prozent) gewannen jeweils überzeugend hinzu und erreichten zusammen 53 Prozent.
Was geschah in den letzten zehn Jahren schwarzgrüner Regierung, damit Boris Rhein nun die neue Sanftheit ausrufen muss? Radikale Umbrüche? Disruptive Veränderungen? Es gab unter dem langjährigen CDU-Ministerpräsidenten Volker Bouffier — Boris Rhein ist es erst seit Mai 2022 — und dem Stellvertreter im Amt, dem Grünen Tarek Al-Wazir, nur das:
- Es durfte ein bisschen sprachgegendert werden.
- Es wurden ein paar Umwelt-Nahverkehrs-Tickets eingeführt.
- Die Armut stieg. Nirgendwo in Deutschland so stark wie in Hessen: Das Land ist im Vergleich seit 2012 von Platz 3 auf Platz 11 der Bundesländer abgestürzt, jeder fünfte Mensch in Hessen ist von Armut bedroht.
- Die Zahl der Sozialwohnungen sank in diesen zehn Jahren um 25 Prozent auf kümmerliche 82.000. Richtig: 2021 und 2022 sind gut 1500 neue Sozialwohnungen (konkret: 1.636) dazugekommen. Welch` ein Erfolg! Zumal in einem Bundesland, das sehr wohlhabend ist, und dessen Regierung deshalb alle Möglichkeiten hat.
Als wären die Grünen nicht dabei gewesen
Die Landesregierung schaute zu, wie die Schulbauten im Land zunehmend verrotten: verdreckte Toiletten, kaputte Heizungen, heruntergekommene Zimmer, herabstürzende Decken. Die GEW sagt, die Kommunen — die sind für die Schulbauten verantwortlich — bräuchten für notdürftigste Instandsetzungen etwa fünf Milliarden Euro vom Land. Mit ihrer Mehrheit verweigerte die schwarzgrüne Landesregierung jedoch sogar eine Anhörung im Landtag über die Höhe des Investitionsbedarfs.
Was war noch? Die Grünen stimmten nicht jedem Autobahn-Neu- oder -Ausbau zu. Sie waren in Sachen Geflüchteten-Politik nicht so rigide, wie die CDU es wollte.
Noch was? In den letzten fünf Jahren wurden in ganz Hessen pro Jahr zwischen 15 und 50 neue Windräder genehmigt. Zu mehr hat es nicht gereicht, weil Hessen Spitze in der Genehmigungszeit ist: im Bundesdurchschnitt dauert eine Neu-Genehmigung 24 Monate, in Hessen 56. Ja, richtig, es wurden noch wenige hundert Kilometer Radfahrwege neu gelegt, dafür aber so gut wie kein Kilometer Bahnstrecke reaktiviert.
Wie soll dieses Ergebnis überschrieben werden: Stagnation? Bestenfalls. Von einer sozial-ökologischen Umgestaltung, gemessen an den Herausforderungen auch nur halbwegs angemessen, ist nichts zu sehen. Aber der Rhein-CDU war offensichtlich bereits das viele Reden über das anschließende Nichtstun schon zu turbulent und viel zu viel.
Mickrige Bilanz — harter Wahlkampf?
War diese mickrige Bilanz einer zehnjährigen Regierungsarbeit in einem reichen Bundesland wenigstens Anlass für einen harten widerstreitenden Wahlkampf? Nein.
Nancy Faeser, SPD-Spitzenkandidatin in Hessen und Bundesinnenministerin, thematisierte diese Stagnation nicht, nicht dieses ehrgeizlose Verwalten. Tarek Al-Wazir und seine Grünen sprachen über dieses Versagen als langjährige Mit-Regenten natürlich auch nicht. Beide Spitzenkandidaten arbeiteten vielmehr unbeirrt an ihrem eigentlichen Wahlziel: (mit-)regieren. Der Kern dieser Arbeit: Wie machen sie den Dritten (im Bunde) für sich gewogen? Nimmt Rhein mich? Oder mich?
Deshalb wählten alle Drei im gesamten Wahlkampf den Schonwaschgang, den Kuschelkurs, alle und alles austauschbar. Nancy Faeser, Boris Rhein, Tarek Al-Wazir — sie haben sich alle zum Koalieren gern. Die FAZ titelte kurz vor dem Wahlgang „Kein Streit ist auch keine Lösung“ und beschrieb die Dimension dieses politischen Elends sehr sachlich so: „Alle drei sind zwischen 1970 und 1972 im Rhein-Main-Gebiet geboren, studierten Jura oder Politik an der Frankfurter Goethe-Universität und wurden in jungen Jahren Landtagsabgeordnete. Alle drei pflegen auch äußerlich einen dezidiert bürgerlichen Habitus … . Man kennt sich, man schätzt sich … .
Der Willfährigste hat gewonnen
Nun hat der wohl politisch Schwächste, der zugleich Willfährigste, von Boris Rhein den Zuschlag bekommen. Glückwunsch SPD! Interessant, dass diese sich nicht einmal fragte, ob sie überhaupt mitregieren darf. Etwa aus Gründen der Würde. Immerhin hat sie sich ihrer eigentlichen Rolle verweigert: im Wahlkampf die amtierende Regierung wenigstens herauszufordern. Immerhin hat sie nur 15,1 Prozent erreicht. Immerhin hat sie in ihrer 25jährigen Oppositionszeit ständig an Zustimmung verloren, sich seit 2013 sogar auf diese kümmerlichen 15,1 Prozent halbiert.
Aber woran beteiligt sich diese SPD? Offensichtlich geht es um deutlich mehr als nur um die Teilhabe an einem normal-routinierten Regierungsgeschäft. Es geht um ein Projekt, um eine Rolle rückwärts. Natürlich bleibt das Ende der bereits laufenden Koalitionsverhandlungen abzuwarten. Es gibt aber bereits seit etwa zwei Wochen ein sechsseitiges „Eckpunktepapier einer Hessenkoalition der Verantwortung“ von CDU und SPD, das ahnen lässt, wohin die schwarzrote Fahrt gehen wird.
AfD schachmatt oder Spin Doctor?
Das Thema Sicherheit (Gesichtserkennung, mehr Kameras, Datenanalysen mit KI, mehr Befugnisse für Polizei und Verfassungsschutz) rückt Richtung Mittelpunkt; der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft sieht einen möglichen „Befreiungsschlag für die Polizei“. Die Hess:innen dürfen künftig ohne Gendern leben. Und: weniger Bürokratie, schnellere Planungen, weniger Wölfe. Und: Es gibt etwas mehr Soziales (mehr Lehrer, mehr Kita-Plätze). Die Geflüchteten-Politik wird rigide: abschieben, Obergrenzen einziehen. Die Klimapolitik, bisher wortreich im Zentrum der Politik platziert , rutscht ohne viele Worte nach hinten; es gibt ein Placebo, ein 100.000 Solardächer-Programm, das niemanden stört und nichts nützen wird. Die Themen der Regierungspolitik werden also dramatisch neu gewichtet. Die FAZ trifft es: „So grün wird es nicht wieder“. Und: „Gendern war gestern, jetzt wird abgeschoben.“
Dieser Versuch der hessischen CDU und SPD eine Art politischer Schubumkehr einzuleiten, dürfte vor allem der AfD gefallen. Nicht nur wegen Nicht-Gendern, Abschieben, Obergrenzen, auch deshalb: „Gut ging es den Menschen insbesondere in den wärmeren Phasen“ der Erdgeschichte, schrieb sie in ihrem Wahlprogramm und begründet damit ihre weitgehende Ablehnung einer Klimaschutz-Politik.
Und wetten wir? Deshalb werden CDU und SPD künftig behaupten: Toll, wie wir mit unserer ganz anderen Politik der AfD die Argumente aus der Hand geschlagen und sie damit schachmatt gesetzt haben. Sie werden feststellen müssen, dass sie sich auch darin geirrt haben.