Mit Verzögerung schafft sich die Einsicht Raum, dass das vermehrte Votum für die AFD nicht einem Protest gegen die herrschende Politik, sondern einem Votum für die AFD entspringt. Als Einsicht darf sie bezeichnet werden, weil sie die Tatsache des Votums nicht länger kraft einer vermeintlich besseren Kenntnis, eines Verständnisses der Hintergründe dessen bestreitet, was es vordergründig bedeutet. Im Gegenteil. Hätte man schon früher darauf verzichtet, das Votum zu interpretieren, dann hätte man es beizeiten verstanden, sich aber dem Verdacht ausgesetzt, das jetzt unbestreitbar Eingetretene aus der bloßen Vorstellung in die Wirklichkeit zu befördern. Verzichtet man heute darauf, hinkt man dagegen in fataler Weise hinterher. Die Einsicht wäre also nie zeitgleich. Das Votum für eine Partei, die sich offen über die politische Moral stellt, kann nicht in der gewohnten Weise des Umgangs mit Politik abgetan werden, ist es doch eine „krasse Sache“, die eigene Maßstäbe setzt und in ihrer substantiellen Aussage verstanden werden muss, zumal den Verhältnissen im politisch abgehängten Osten Deutschlands ein globales Phänomen entspricht: die Ablehnung der Demokratie nicht wegen mangelnder, sondern aufgrund der Bekanntschaft mit ihr.
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Versuchen wir, die Sache zu verstehen und scheuen nicht die Gefahr, selbst ein wenig krass zu sein: Wäre es denkbar, dass die Demokratie, die den Einzelnen im wörtlichen wie übertragenen, im numerischen wie im emphatischen Sinn eine Stimme gibt, gar nicht die gesellschaftliche Form ist, die ihren, wie es formelhaft heißt, Fähigkeiten und Bedürfnissen entspricht? Sondern vielmehr, wenn überhaupt eine relevante Form, dann die jener abstrakten Verhältnisse, die seit dem 19. Jahrhundert als Produktionsverhältnisse aufgefasst werden? Und wäre es denkbar, dass der autoritäre, der Führerstaat die Sache des Einzelnen ungleich besser verträte?
Ein Argument ist leicht gefunden: Der Führer als der Einzelne par excellence, der überhöhte Einzelne, ist nun einmal die personifizierte Wunscherfüllung jener, die er regiert. Irrt er sich, dann unterläuft ihm das Gewöhnlichste. Bereichert er sich gar? Nur zu gern täten sie das auch. In seinen Verfehlungen können sie sich wiedererkennen, besser als in seinen Leistungen, die ihnen im Zweifelsfall fremd bleiben, denn sie sind zwar Einzelne, aber nicht grandios. Widerfährt ihnen unter seiner Ägide Böses, dann gleicht es dem Schicksal, dessen Bestimmung es ist, dass man es nicht zergliedern kann. Solange ihre Bindung an den Führer hält, bleibt ihnen das Schlimmste, jenes Moment von mangelnder Notwendigkeit erspart, das sie mitsamt ihrem Unglück ins Nichts verweist.
Die Angebote der Demokratie haben demgegenüber etwas Gemeines: Was man nicht ändern kann, das wird einem auch noch schwergemacht. Sich von dieser Einstellung lösen kann im Grunde nur, wer bereits frei, die Demokratie lieben nur, wer Demokrat ist, nicht bloß Einzelner, sondern Individuum, als Bürger zugegeben ein Wesen eigener Art, weniger Subjekt gewordener Mensch als vielmehr Mensch gewordene Demokratie, kurz, ein wenig künstlich. Der Versuch, die Demokratie in die systematische Nähe abstrakter Verhältnisse zu rücken, befreit das Modell von dieser Künstlichkeit, ist indes nicht nur vielversprechend, sondern auch bedrohlich. Wird das Individuum bei solcher Umschichtung, die den Verhältnissen womöglich ein Gesicht geben könnte, nicht um sein eigenes Gesicht gebracht?
Ökonomische Freiheit und politische Macht
Selbst wenn die Demokratie nicht mehr als Modus der Selbstverwirklichung der Individuen aufgefasst, sondern als Schauplatz des Kampfes gegen die Übermacht der verdinglichenden Verhältnisse wahrgenommen wird, macht dies ihr Bündnis mit dem Individuum nicht umso wichtiger? Dabei, spannend wäre es durchaus, wenn die Demokratie auf die Seite der Verhältnisse käme. Die Individuen wären aus der permanenten Zweideutigkeit entlassen. Sie müssten den Mechanismus der Demokratie, die sie ermutigt, nur um sie auflaufen zu lassen, nicht einmal durchschauen. Gedanklicher Irrtum, der er ist, hätte er sich erledigt. Die politische Sphäre, die nach dem Modell handlungsfähiger Individuen und auf sie hin konstruiert scheint, würde sich verflüchtigen. Von allen Illusionen befreit, könnten die Individuen in sich − die Verhältnisse entdecken.
Übrigens stellt der zeitgenössische autoritäre Staat, indem er ökonomische Freiheit und politische Macht kurzschließt, die Beweglichkeit der gesellschaftlichen Bezüge bereits unter Beweis. Einerseits ein Widerspruch in sich, zerstört er den Schein der Freiheit der Individuen vom Zwang der Verhältnisse, aber ebenso den Schein der Abhängigkeit der Verhältnisse von der Freiheit der Einzelnen. Nicht zufällig gibt China gegenwärtig mehr zu lernen als Europa. Während die parlamentarische Demokratie, indem sie die Verhältnisse permanent in politische umdeutet, einen Spielraum suggeriert, der gar nicht existiert, deutet der autoritäre Staat, indem er die scheinhaften Spielräume kassiert, die abstrakte Vermittlung in eine immer schon konkrete und die eigene Rolle in die eines Sachwalters der Verhältnisse um. Die übt er am besten aus, wenn er sie ungehindert ausüben kann. Nur rückt dabei „das Ökonomische“ überraschend in den Vordergrund, stellt sich als der mit Vorsicht zu behandelnde Dritte neben das Volk und seinen Regenten und innerhalb dieser Dreiheit als das eigentlich Unregierbare heraus und von der großartigen Geste bleibt nicht viel übrig.
Indem er die Demokratie beim Wort nimmt und zeigt, dass sie nicht hält, was sie verspricht, vermittelt auch der hiesige Rechtsradikalismus von den gesellschaftlichen Verhältnissen eine Vorstellung, die an einem Ding eher als an einem Begriff, an der psychoanalytischen Sachvorstellung eher als an der Wortvorstellung orientiert ist. Auf eine Formel gebracht, geht es um das Versprechen, dass der Einzelne zählt. Es unterschlägt, dass es sich dabei um ein Versprechen der Demokratie handelt, das konsequent nur in der Demokratie eingelöst werden könnte. Zugleich wird der Finger auf die Wunde gelegt, zählt der Einzelne doch nur, indem er zum Individuum und Repräsentanten der Demokratie wird, ein Repräsentant nicht seiner selbst, sondern der Verhältnisse. Rechtsradikale Bewegungen sammeln die doppelt Frustrierten ein, jene, die ein Versprechen auf sich bezogen haben, das ihnen gar nicht galt, und etwas enthielt, was sie konsequent niemals gewollt hätten. So wirkt wie eine politische Option, was eigentlich nur Reflex eines doppelten Missverständnisses ist, und diese neuerliche Zweideutigkeit erweckt den Eindruck, als verfügten die rechtsradikalen Bewegungen über eine Naturbasis, die sie mit einer unendlichen Menge potentieller Anhänger verknüpft, denen sie anstelle einer Transformation in Individuen, die sie als Einzelne zerstört, eine lineare Transformation in einem Führerstaat anbietet, in dem sie dem Faktum nach Beherrschte, dem Selbstgefühl nach Herrscher, in beiderlei Funktion aber dieselben sind.
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Ist das Missverhältnis zwischen Demokratie und Einzelnem nicht zu bestreiten, weil es offensichtlich ein Nichtverhältnis ist, so ist es ungleich schwieriger zuzugeben, dass auch an der Beziehung der Demokratie zu den Individuen etwas nicht stimmt. Tatsächlich ist ein solches Eingeständnis keine Kleinigkeit, ist die Demokratie doch die natürliche Umgebung, das Habitat der zu sprichwörtlicher Selbstbewusstheit gelangten Freien und Gleichen, und wie kann, so die Vorstellung, ein Teil zum Ganzen nicht passen? Die Lösung muss in der Konstellation gesucht werden, die das in den Verhältnissen allenfalls passiv und zerstreut wahrgenommene geistige Vermögen im Individuum auf einen konzentrierten Punkt und in eine unantastbare Gestalt bringt, während die „tumben Verhältnisse“ sich selbst überlassen bleiben.
Unter diesen Bedingungen kommen die Individuen, die alles, was ist, nur allzu gern auf sich beziehen, gar nicht auf die Idee, die Beziehung der Demokratie zu den Verhältnissen in den Blick zu nehmen. Dass ihnen dadurch der Weg zu ihrem allgemeinen Wesen als zu ihrem einzig plausiblen Sich gebahnt werden könnte, ist für sie ein im Wortsinn abwegiger Gedanke. Da sie für diese Erkundung aus ihrer exklusiven Position nicht herausträten, bliebe ihnen ohnehin nur, sich durch die obstruktiven Elemente leiten zu lassen, die ihnen die Demokratie verächtlich machen. Ein merkwürdiger Verdacht ergäbe sich dabei: Dass in der Demokratie jeder Aufschwung in Stillstand überführt wird, jede Initiative, Urform demokratischer Lebensäußerung, versandet, ist das womöglich ihr Zweck?
Vorlagen und Wiedervorlagen
Wäre es so, dann würde die Vernunft, die aus den Verhältnissen herausdestilliert und in eine scheinhafte Autonomie und Perspektive hineinhalluziniert wird, in der Demokratie wieder zurückgenommen. Sie würde, wie die saloppe Redewendung sagt, dahin zurückbefördert, wo sie hergekommen ist. Die Balance auf diese Weise wiederherzustellen wäre die eigentliche Funktion der Demokratie. Das System der Vorlagen und Wiedervorlagen, Inbegriff eines nicht greifbaren Widerstands und nutzlosen Aufwands, wäre ein Bollwerk weniger gegen Veränderung als vielmehr gegen Verselbständigung. Gegen die Willkür des bloß Gedachten fungierte es als Mauer. Im „Vorgang“, selbst ein Produkt unermüdlichen geistigen Aufwands, würde der Elan der reinen Veränderung zermahlen, endete als Sturm im Wasserglas, entpuppte sich als Viel-Lärm-um-nichts, hässliches Außer-Spesen-nichts-gewesen, in zynischem Resümee: „als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet.“
Auch der für die Demokratie typische Drang, ihre Grenzen auszutesten, ihre Mechanismen gar als Werkzeug zu ihrer eigenen Abschaffung zu erproben, wäre weniger auf einen rätselhaften Hang zur Selbstzerstörung als auf die vom materialistischen Standpunkt leicht erkennbare Verschiebung des gesellschaftlichen Sachverhalts ins Subjektive zurückzuführen, ins Symbolische, Aufgeklärte, kurz, ins Geistige. Von der „lebendigen Demokratie“ bleibt bei solcher Betrachtung nicht viel mehr übrig, als was man den Leerlauf ihres Funktionierens nennen könnte. Für Sinnstiftung taugt sie daher wenig, es sei denn, das Individuum würde das Gelernte auf sich anwenden: Remedur machen, sich neu erfinden. Den Mythos seiner Entstehung, demzufolge es organisch auf die Demokratie zu- und in die Freiheit hineinwächst, müsste es als Erstes opfern, er könnte nicht länger fortgesponnen, er müsste als (Entstehungs-)Märchen identifiziert werden: „Wie der Einzelne zum Individuum wurde“ oder „zum Demokraten“. Dazu muss es aufhören, sich in einem herbeifantasierten Gegenüber, einem konstruierten Außerhalb zu verorten, kurz, es unterlassen zu projizieren.
Dieser Schritt fällt nicht leicht, wenn die Rezeptoren Stummelschwänzchen sind und der fehlende Bezug durch übersprunghafte Vereinigung, ein manisches „Seid umschlungen, Millionen“ und „Alles webt in allem“ überdeckt beziehungsweise durch das nihilistische Urteil des Negativismus noch eigens beglaubigt wird. Sich zu vertiefen wird unter diesen Umständen zwar beeindrucken, aber eher noch belustigen, die Hingabe an einen Sachverhalt jedenfalls nicht ohne Selbstaufgabe vorgestellt werden können. Die spiegelt sich in den Verhältnissen, die dem Subjekt als ein ihm fremdes Äußeres begegnen. Zutiefst erschreckt, fokussiert es sich auf den Hiat in seinem Inneren, der ihn zum sprichwörtlichen „Mensch in seinem Widerspruch“ erhebt.
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Wie also umgehen mit der Demokratie? So, dass man sie nicht ontologisiert und auf diese Weise zu ihrem Totengräber wird, ist sie doch bloß ein Drehgelenk, an dem die Politik baumelt, oder eine Aufhängung. Die Instabilität der Demokratie, die mit der Natur der von ihr Repräsentierten begründet wird, aus denen einfach keine verlässlichen Demokraten zu formen, die allenfalls zu bändigen sind, hat lediglich mit dem „Baumeln“ zu tun. Um den Drehpunkt kann man sich so oder andersherum drehen. Wer die Mechanik nicht erkennt, für den hat die Realität selbst die Seite gewechselt.
Das schränkt auch die These von der „Agentin der Herrschenden“ ein. Zwar ist die Demokratie schon aus logischen Gründen ein Ausdruck der herrschenden Verhältnisse. Aber um Agentin zu sein, müsste sie nach dem Modell der Individuen, nicht nach dem der Verhältnisse geschneidert sein. So ist sie für die Ersteren ein ständiger Frust, aber eine Einschränkung auch für die Letzteren, deren Teil sie sind. Ist es für die Individuen unmöglich, den Verhältnissen das Moment von Selbstbestimmtheit zuzubilligen, das sie sich selbst konzedieren, dann können die davon nicht unberührt bleiben. Etwas an ihnen stimmt doch mit ihnen nicht überein. Möglicherweise entspricht das heutige Bild einer zugespitzten Entkoppelung und Entfesselung der Welt weniger der Realität als unserem Zugang zu ihr. Übernimmt der Balken im Auge die eigentliche Sehfunktion, dann wird der Gegenstand unkenntlich.
Anstatt den Eifer zu verstärken, die Verhältnisse in den Griff zu kriegen, könnten wir versuchen, uns in sie hinein- und zurückzudenken. Es geht, wie Tolstoi es im Angesicht des napoleonischen Rückzugs lakonisch formuliert, um „den Kern der Sache“, um das, was „der Wirklichkeit [nahekommt]“1, nicht um das Richtige also, sondern um das Wirkliche, wobei das Erstere aufgrund seiner Dynamik recht eigentlich der Antagonist des Letzteren ist.
Nötigung und Beschönigung
Auf eine eigenartige Weise repräsentiert in der Demokratie das Volk die Wirklichkeit, weiß doch jedes Kind, dass es keinesfalls die Summe der Individuen, vielmehr etwas geheimnisvoll oder unheimlich anderes ist, an dem das aufklärerische Bemühen sich vergeblich abarbeitet. „Mehr Demokratie wagen“, so lautete die spektakuläre Ermunterung Willy Brandts, die die Furcht vor den unkontrollierbar vielen mit der Hoffnung verband, dass sie das Richtige wollen würden. In der Demokratie ist das Volk nicht nur das, wovon man ausgeht, auch das, worum man nicht herumkommt, was einerseits den Sinn vorgibt, diesem Sinn andererseits Grenzen setzt und den Übergang einer sang- und klanglos wirklichen in eine begrifflich geadelte Demokratie letztlich verhindert. Nicht nur ist das Volk für die Demokratie durch seine vorgängige Andersheit, verstanden als Abwendung, diskreditiert, auch umgekehrt die Demokratie für das Volk, paaren sich auf seltsame Weise in ihr doch Nötigung und Beschönigung. Nicht einen Moment kann die Demokratie das Volk so sein lassen, wie es ist, es sei denn, sie hörte auf, Demokratie zu sein.
Gerade in dem Augenblick droht sie zu kippen, in dem sie ihre Versprechungen einlöst, substanziell wird, wo sie doch nur formal funktioniert, und die Herrschaft des Volkes für die Aneignung und Auslegung freigibt. So steht sie mit jeder ihrer „Amtshandlungen“ am Scheideweg, sprich vor dem Abgrund, und als Zufall im kantischen Sinn kann es bezeichnet werden, wenn im Kampf ums vermeintlich Wirkliche der Demokratie der Sinn fürs Formale sich unwillkürlich kräftigt.
1 Lew Tolstoi, Krieg und Frieden, übersetzt und kommentiert von Barbara Conrad, München 2010, zweiter Band, S. 712. Um der Wirklichkeit den ihr gebührenden Platz einzuräumen sei die Abschweifung erlaubt: In der Übersetzung von Werner Bergengruen von 1958 heißt es: „…weil er [Napoleons Feldzugsplan] zur Wirklichkeit in gar keinem Verhältnis stand“ (München 1990, dtv, S. 1329), in der Übersetzung von Erich Böhme in der Ausgabe des Verlags Volk und Welt, Berlin 1947: „…weil er nichts mit der Wirklichkeit gemein hatte“ (2. Band, S. 451). Der Grund für meine Odyssee durch etliche Ausgaben: Beim nächtlichen Hörerlebnis der „Komplettlesung“ von 2009 auf seinerzeit 54 CDs im Audio hatte ich mir, vielleicht aus verschiedenen Stellen zusammengefügt, vielleicht in meinem Bewusstsein umgeschrieben, „Berührungspunkte mit der Wirklichkeit“ gemerkt, hatte die Formulierung im Gedruckten nicht gefunden und die Wiederbegegnung mit dem Gehörten gescheut.
Ich frage mich, welch ein Verständnis von Demokratie hinter diesem mit marxistschen, psychanalytischen adornohaften Pamphlet steht?
Ilse Bindseil schreibt zu Beginn, knapp zusammengefasst: Wer AfD wähle, wähle bewusst die AfD, wähle sie also nicht als Instrument, um Protest gegen andere Parteien und ihre Politik auszudrücken. Hätte die Öffentlichkeit bisher diesen Wahlakt nicht als Protest fehlinterpretiert, dann wäre sie schon früher schlauer gewesen oder so ähnlich.
Das ist die Voraussetzung für ihre meist unnötig schwer verständliche Argumentation und ihre eigene (Fehl-)Interpretation, die Wahl der AfD sei quasi ein Protest vor allem der Ostdeutschen gegen die Demokratie und eine Stimme für den Führerstaat, eben weil vor allem die ostdeutsche Wählerschaft die Demokratie inzwischen bewusst und lange genug kennengelernt habe, um aus Überzeugung gegen sie zu sein.
Damit setzt sie jedoch etwas voraus, was nach meinem angelesenen Wissen aus zwei Gründen sein kann, aber nicht sein muss.
Denn erstens: Das Wissen, dass unverändert etwa 50 Prozent der AfD-WählerInnen diese Partei aus Protest und nicht wegen ihrer inhaltlichen Positionen wählen, dieses Wissen hat die Öffentlichkeit ja nicht willkürlich in die Wahlergebnisse hineininterpretiert, das weiß die Öffentlichkeit anhaltend aufgrund von mehreren seriösen Umfragen, nach denen die befragten AfD-WählerInnen zur Hälfte sagen, ich wähle die AfD aus Protest. Das ist also keine (Fehl-)Interpretation der Öffentlichkeit. Sondern dieses Wissen basiert auf der Eigen-Interpretation der entsprechenden Wählerschaft.
Nun kann es ja sein: Die Befragten lügen, die Umfragen sind gefälscht, sie sind unseriös, sie sind nicht repräsentativ etc. etc. . Das alles kann sein. Aber wenn Bindseil dieses Wissen als definitiv widerlegt und als haltlose, also als nicht empirisch belegte Fehl-Interpretation ansieht, sollte sie wenigstens darlegen, warum sie das als widerlegt ansieht, warum dieses mit Umfragen immer wieder belegte Wissen qua ihrer eigenständigen Behauptung nun als widerlegt anzusehen ist.
Und zweitens nimmt die Autorin selbst als Grundlage und Anlass für ihren Text eine Interpretation vor, die stimmen, die aber auch an den Haaren herbeigezogen sein kann. Denn sie interpretiert die Wahl der AfD eigenständig als Wahl gegen die Demokratie und für den Führerstaat. Dass es viele BürgerInnen gibt, die den Führer-Staat schätzen und die Demokratie nicht, dass ist seit den Sinus-Umfragen aus den 1970er Jahren bekannt. Hier interessiert jedoch die Frage: Ist die Wahl der AfD eine Wahl gegen die Demokratie und für ihr Gegenteil, eben den Führerstaat? Einen Beleg habe ich nicht gefunden in dem langen Text.
Gut, dass Sarah Wagenknecht ihre neue Partei gründet, der alles nachgesagt werden kann, nur nicht, dass mit deren Wahl gegen die Demokratie gestimmt wird. So weiß man bald: Wandert die Hälfte der bisherigen AfD-Wählerschaft zur Wagenknecht-Partei, dann fehlt den obigen Ausführungen von Bindseil die Basis. Kommt die AfD ungeschoren davon, tja, dann sollte noch einmal neu analysiert werden.
Ich empfinde diesen Text als selbstgefällige Zumutung den Lesenden gegenüber. Wenn dahinter ein ernsthaftes dringendes Anliegen stünde, hätte die Autorin sich nicht in einer solchen Spielerei verloren.
Der Protestwähler: Er ist in meiner Perspektive eine klassische Wunschfigur. Noch in der Ablehnung ist er auf die Demokratie, und mehr sogar als andere, bezogen. Mich interessierte das Moment von Andersheit, das in der gefestigten Ablehnung steckt, nicht weil es besonders bösartig wäre, sondern weil ich, um es wahrzunehmen – und von ihm aus einen Blick auf das Eigene zu werfen −, darauf angewiesen bin.
Sarah Wagenknecht: Insofern bei ihr Populismus eine wichtige Rolle spielt, ist ihre Erwähnung ein Hinweis darauf, dass die Sache komplizierter ist. Denn es ist doch erstaunlich, dass populus, das Volk, ständig im Zaum gehalten werden muss, damit es der Demokratie nicht den Garaus macht, wo es, wenn nicht das Subjekt, so doch der Zweck der Demokratie, die Demokratie also sein Zweck ist. So spielt das Geschehen, ob man will oder nicht, sich auf zwei Ebenen ab: Auf der einen ist Populismus innerhalb der Demokratie einfach eine Richtung unter anderen, auf der anderen stellt er die Demokratie infrage. Man könnte sagen: Er prüft sie ständig. Auch die, übrigens, die darüber nachdenken.
PS: Mit blankem Neid las ich auf der Sportseite der FAZ vom 5. Dezember 2023: „An der Szene lassen sich die komplexen Zusammenhänge im durchleuchteten Gegenwartsfußball zeigen“. Im Artikel zeigt Daniel Theweleit, der Autor, sie, die „komplexen Zusammenhänge“, und ich habe es jedenfalls nicht gehört, das Grummeln und Murren: „Hör auf zu …. Tore wollen wir sehen!“ Aber wie gesagt: Vielleicht habe ich es bloß nicht gehört.