Gewaltlos revolutionär, zivilgesellschaftlich ungehorsam, prophetisch unbequem – das wäre eine Weihnachtsbotschaft

Bild: stux auf Pixabay

Kirchen rangieren heute am unteren Ende der gesellschaftlichen Vertrauensskala. Das jüdische Flüchtlingskind in der Krippe und die damit verbundene Botschaft der Bibel lassen zwangsläufig daran denken, in welchem Gegensatz die feudal, hierarchisch und abgehoben verfassten und präsentierten Kirchen dazu stehen. Befreit könnten die Kirchen unbeschwert Mächtige in Politik und Wirtschaft kritisieren, gerechte Besteuerung verlangen, Reichen Hilfe abtrotzen und deren Unterstützung für die Armen fordern, Obdachlosen Wohnung geben, auch in kirchlichen Hütten und Palästen, Hungernde nähren, Durstende tränken.

1. Magnificat

„Die Weihnachtstexte in der Bibelkatechese“, war mein erstes gedrucktes Werk, Diplomarbeit in katholischer Theologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn1. Seitdem ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen und meine Glaubens- und Kirchenbindung hat sich aufgelöst. Aber die Weihnachtsgeschichte als der Ursprung der biblischen Botschaft und das in den Evangelien beschriebene Wirken des biblischen Jesus üben auf mich immer noch ihre Faszination aus, sind nach wie beeindruckende Texte und Bilder als Orientierung für politisches und soziales Handeln.

Das Magnifikat, Lobpreis Marias, der Mutter des jüdischen Kindes in der armseligen Futterkrippe, gibt den Ton an. Die Botschaft ist so klar, dass sie durch keine Interpretation beseitigt werden kann: „…Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten. Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ 2 Diese Aussagen stehen nicht alleine, inhaltliche Parallelen finden sich an vielen Stellen der Evangelien. Etwa die Seligpreisungen, die Hunger und Durst nach Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ins Zentrum stellen3. Schließlich das „Gerichtsgleichnis“ mit der doppelten Aussage, dass das Heil nicht durch Gebet und Frömmigkeit erworben wird, sondern durch Handeln – indem man Hungernde sättigt, Durstige tränkt, Fremde beherbergt, Nackte bekleidet, Kranke besucht und sich um Gefangene kümmert, eine radikale Botschaft der Nächstenliebe und Zuwendung 4 – und durch Unterlassen verwirkt wird. Viele Ereignisse und Gleichnisse vermitteln immer dieselbe Botschaft: Nicht Rituale und Gebete sind wichtig, sondern tatkräftige Zuwendung. Der selbstverständliche Umgang des biblischen Jesus mit den verfemten Zöllnern, den unberührbaren Aussätzigen, den verachteten Sünderinnen zeigt die Parteinahme für die Armen, Ausgegrenzten und Entrechteten. Das zu formulieren war zumindest der Wille der Evangelisten.

Screenshot: ARD Mediathek

Diese Botschaften stehen in Gegensatz zu dem, was Weihnachten geworden ist. Wie kein anderes Fest, das dem Christentum zugerechnet wird, wurde Weihnachten in einen Feier- und Konsum-Event verwandelt. Weihnachtsmärkte, bei denen Bier und Brezel, Glühwein und Geschenkbuden, Kerzen und Klimbim im Mittelpunkt stehen, haben sich im Zentrum der Städte, meist vor den Kirchen, breit gemacht. Und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, zumindest bei der ARD, wird das noch mit einer „Weihnachtssendung“ von besonderer Geschmacklosigkeit überboten5. Jedem seien solches Vergnügen gegönnt – nur mit der biblischen Botschaft hat das alles überhaupt nichts zu tun. Dieses Event-Weihnachten führt auch niemandem zu mehr sozialem Verhalten, zu Barmherzigkeit und Nächstenliebe hin. Die christlichen Kirchen fördern oder dulden dies Treiben unkritisch. Manchmal wird warnend der Finger erhoben, ob der „Kommerzialisierung“ des Festes. Die Kraft des biblischen Jesus fehlt völlig, der die Andenkenhändler und Devotionalienverkäufer wegen Kommerzialisierung und Säkularisierung des heiligen Ortes aus dem Tempel vertrieben hat6. Die Hoffnung, durch Stillschweigen oder Zustimmung zu gnadenloser „Verweltlichung“ mehr Kirchenbesucher zu halten, scheint zu groß.

2. Christianisierung der römischen Welt – Staatskirche als Preis

Nichts ist schneller und nachdrücklicher hinweggefegt worden als die zentrale Botschaft des biblischen Jesus. Mit der christlichen Zeitendwende, der konstantinischen Wende7, ist aus einer herrschaftskritischen und sozial engagierten Glaubensgemeinschaft, der eher Menschen aus sozial benachteiligten Schichten und Sklaven angehörten, eine Herrschaftskirche geworden, eine Staatsreligion im ost- und weströmischen Reich. Der säkulare Siegeszug des Christentums durch diese Wende brachte gleichzeitig die Dominanz der bis dahin säkularen Strukturen in die Glaubensgemeinschaft, die zur Staatsreligion wurde. Für mich war das immer ein Ärgernis, Gegenstand meiner theologischen Kritik. Die eingangs zitierte radikal-soziale biblische Botschaft ist in allen Phasen der Kirchengeschichte nur ein dünnes Rinnsal geblieben. Durchgesetzt hat sich die „ecclesia triumphans“, Herrschaft stützend, ein- und angepasst in das feudal-hierarchische System der beiden römischen Kaiserreiche und mit eigener herrschaftlicher Hierarchie.


Peter Paul Rubens  (1577–1640):  The Triumph of the Church
(Collection Museo del Prado auf wikimedia commons)

Ob die fürstliche-bischöfliche Hierarchie im Mittelalter, die Renaissance-Päpste, die katholischen und evangelischen Staatskirchen des habsburgischen oder preußischen Kaiserreichs: Das Bündnis von Thron und Alter war fest gegründet. In irgendeiner Form sind alle christlichen Kirchen in Europa, vielleicht bis auf Frankreich, letztlich bis heute herrschaftliche und herrschaftsstützende Staatskirchen oder staats- und obrigkeitsnahe Kirchen geblieben. Das ist mehr als alles andere der grundlegende Skandal des Christentums. Praxis und Gehabe der Kirchen stehen seit nahezu 17 Jahrhunderten in eklatantem Widerspruch zu der biblischen Weihnachtsbotschaft. Byzantismus und Feudalismus mit ihren Riten und Gebräuchen, Gebärden und Gehabe, Liturgie und Kleidung, Kollar und Bäffchen, Ring-Kuss und Kniefall vor Exzellenzen und Eminenzen, prägen ja heute noch, sicher in unterschiedlicher Intensität, von den orthodoxen bis hin zu den evangelischen, Auftreten und Erscheinungsbild der Kirchen.

3. Wie hältst du´s mit der Kirche?

Kein Wunder, dass die christlichen Religionsgemeinschaften, in vieler Hinsicht in vergangenen Jahrhunderten verhaftet, immer noch ständisch und feudal organisiert und repräsentiert, andererseits verzweifelt um Modernisierung bemüht, oft wankelmütig und orientierungslos, immer mehr Mitglieder verlieren und Religiosität in der Gesellschaft rapide zurückgeht. Die Gleichzeitigkeit von Weihnachtsmärkten und Weihnachtsmetten mit den dazugehörigen Besucherzahlen macht das deutlich: Über 160 Millionen Besucher*innen8 werden am dem 25. Dezember 2023 die Weihnachtsmärkte, knapp 10 Millionen eine Weihnachtsmesse besucht haben9.

Unter dem Titel „Wie hältst du´s mit der Kirche?“ wurden im November 2023 die ersten Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) veröffentlicht10. Die christlichen Kirchen und Religionsgemeinschaften sind dabei, die Mehrheit der Menschen in Deutschland zu verlieren. Noch gehören 52% der Bevölkerung zu christlichen Kirchen oder Religionsgemeinschaften, Tendenz rapide sinkend, 5% sehen sich dem Islam zugehörig, 43% bezeichnen sich als konfessionslos. Schon 2024 wird die Mitgliederzahl der christlichen Religionsgemeinschaften unter 50% der Bevölkerung liegen11. Noch deutlicher ist der Trend bei der Religiosität: Nur 13% bezeichnen sich als kirchlich-religiös, 25% religiös-distanziert und schon insgesamt 56% als säkular12. Auch dieser Trend verschärft sich. Die noch hohen Mitgliederzahlen gibt es nur, weil die großen Kirchen an der willenlosen „Babytaufe“ festhalten (siehe unten) und damit die Kirchenmitgliedschaft begründen. Schon heute zeigt sich, dass mit jeder Generation die Religiosität generell, die kirchennahe Religiosität besonders stark abnimmt, bei den heute 14- bis 29-Jährigen ist sie noch ein Drittel geringer ist als bei den über 70jährigen13. Die Folgen dieser Entwicklung, weiter drastisch fallende Mitgliederzahlen, Rückgang der Babytaufe und verschwindende Religiosität, sind absehbar.

4. Vergebliche Reformanstrengungen

Die letzten 50 Jahre sind in den christlichen Kirchen, insbesondere in der katholischen Kirche, von Reformbestrebungen „von unten“ bestimmt. Sie alle sind als „die Täuschung“ entlarvt, wie Norbert Lüdecke das drastisch beschrieben hat14. Waren sie in den 1970 Jahren auch noch von politischen Inhalten bestimmt, standen danach kirchliche Amts- und Strukturfragen im Zentrum. Der Skandal sexuellen Mißbrauchs und der Versuch der Täuschung und seiner Vertuschung haben „Reform“-Vorhaben beschleunigt. Reformbestrebungen der katholischen Kirche stehen auch heute in doppelter Hinsicht vor dem Scheitern. So müssen Bischöfe und Laien, die auf dem „Synodalen Weg“ sind, sich die sarkastische Feststellung durch Papst Franziskus gefallen lassen, „Es gibt eine sehr gute evangelische Kirche in Deutschland. Wir brauchen nicht zwei.“ 15

Solidaritätspostkarte für die linkskatholische, 1973 aufgelöste KDSE (Katholische Deutsche Studenten-Einigung): von den Bischöfen niedergewalzt, mit der Jakobsleiter gerettet (Bild aus dem Archiv des Autors, der damals KDSE-Vorsitzender war und auf der Karte die KDSE verkörpert)

Andere Beobachter fragen: „Hat der Vatikan im Verein mit der Bischofskonferenz nicht viele Voten der `Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland` in Würzburg (1972-1975) ignoriert, allen voran die Forderungen, das Amt des Diakons für Frauen zu öffnen und verheiratete Männer zu Priestern zu weihen? Hatte das ZdK16 seit den neunziger Jahren nicht immer wieder darauf gedrungen, auch andere Getaufte als nur Kleriker an der Bestellung der Bischöfe mitwirken zu lassen? Das schikanöse kirchliche Arbeitsrecht zu reformieren? Und war es nicht höchste Zeit, die Stigmatisierung von Lebensformen zu beenden, die mit den Maßgaben der lehramtlichen Biopolitik nicht zu vereinbaren waren.“ 17 Damit ist auch ein aktueller Schwachpunkt der Reformbemühungen offengelegt: Sie betreffen Organisationsstrukturen, die Stellung der Frauen und der Priester, beides verbunden mit dem Zölibat, die Mitbestimmung der Laien in der klerikalen Ständegesellschaft – aber nicht die dogmatischen Inhalte und die lehramtlichen Moralvorstellungen.

Darum führt auch die Reform des kirchlichen Arbeitsrechts in der katholischen Kirche vom November 2022 in neue Verlogenheit18. Damit wird die strukturelle Doppelmoral fortgeführt, weil die sündigen Menschen als „Mitglieder der Dienstgemeinschaft“ in allen kirchlichen Einrichtungen bereit sein müssen „an der Verwirklichung eines Stückes Auftrag der Kirche im Geist katholischer Religiosität, im Einklang mit dem Bekenntnis der katholischen Kirche und in Verbindung mit den Amtsträgerinnen und Amtsträgern der katholischen Kirche mitzuwirken.“19

Die neue Erlaubnis des Papstes, homosexuelle Paare segnen zu können, verfolgt dasselbe Muster: Zum einen ist eine „Segnung“, etwas völlig anderes als eine Ehe. Gesegnet werden in der katholischen Kirche nicht nur Menschen, sondern auch Motorräder, Häuser und Tiere, um sie unter den besonderen Schutz Gottes zu stelle. Die Verbindung mit einer Messe ist verboten, Ringe dürfen nicht getauscht werden, zeitliche oder räumliche Nähe zum standesamtlichen Akt ist verboten. Und zu guter Letzt: Die für ein gesegnetes Paar wohl selbstverständliche geschlechtliche Liebe, bleibt Sünde. Denn sie ist unverändert nur in der kirchlichen Ehe erlaubt! (Festgelegt in der Erklärung „Fiducia supplicans, katholisch.de vom 18.12.2023.) Was bleibt ist ein diskriminierender, kein würdiger Akt.

Es ist daher kein Wunder, wenn die KMU insgesamt zu dem Schluss kommt: „Die Bemühungen der Kirche um die ‚modernen‘, nicht auf Traditionswahrung orientierten Milieus haben bisher nur wenig Wirkung gezeigt.“20 Kein Wunder, wenn die Kirchen in der Rangfolge der Institutionen, die Vertrauen erhalten, an unterster Stelle stehen.

5. Trennung von Staat und Kirche

Die gesellschaftliche Entwicklung von Kirchenbindung und Religiosität, die Diskrepanz zwischen Weihnachtsmärkten und Weihnachtsmetten, soll, ja muss Anlass sein, zu einer ärgerlichen Weihnachtsbotschaft: Die nicht vollzogene Trennung zwischen Staat und den großen christlichen Kirchen in Deutschland sollte endlich zum Abschluss gebracht werden.

Jeder Mensch kann glauben, was er will, solange sein Glaube im privaten und öffentlichen Bereich nicht zu Worten oder Taten führt, die dem Grundgesetz und den staatlichen Gesetzen, die allein unsere „Leitkultur“ sind, widersprechen. Dies gilt auch für alle Glaubens- oder Religionsgemeinschaften21. Für keine dieser Gemeinschaften, ob christlich oder muslimisch, buddhistisch oder hinduistisch, ob daoistische, animistisch oder baha`iistisch, ist eine Privilegierung außerhalb des Vereins- und Versammlungsrechtes notwendig. Keine dieser Gemeinschaften kann für ihre Glaubensüberzeugung, für ihre Dogmen oder Glaubensinhalte eine höhere Rationalität, eine höhere Geltung oder Wertigkeit beanspruchen als eine andere. Ob Himmel oder Hölle im Jenseits oder Seelenwanderung, ob Vergebung der Sünden und Fegefeuer, oder mehrstufige Wege zum vollendeten Karma, ob Jungfrauengeburt und Transsubstantiation oder der Glaube durch die Abbild-Verletzungen Personen zu schädigen, all diese Annahmen sind von Seiten des säkularen Staates und der Gesetze nicht unterschiedlich zu werten.

Für den Status von Religionsgemeinschaften genügen völlig die Artikel 4, 9 und gegebenenfalls Art. 9 des Grundgesetzes: Religionsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und Versammlungsfreiheit. Die Religionsfreiheit schließt auch die Freiheit von der Religion ein, ermöglicht die konfessions- und religionslose Gesellschaft.

Allerdings ist in Deutschland die Trennung von Staat und Kirche nicht vollendet, staatsnahe Kirche und der kirchennahe Staat sind Realität.

Rathaus und Kirche in Mannheim
(Foto, 2010: Dierk Schäfer auf wikimedia commons)

Das sind die Punkte, die der Änderung bedürfen:

  • Schon die Begründung der Kirchenmitgliedschaft bedarf der Neufassung. Heute ist jedes getaufte Baby Mitglied der Kirche, mit dem ersten zu versteuernden Einkommen ist das erwachsene Baby automatisch Kirchensteuerzahler, muss dies, wenn Mensch austreten will, in einem aufwändigen Akt nach den Kirchgenaustrittsgesetzen der Länder vor den Standesämtern erklären. Wie immer die Religionsgemeinschaften ihre religiösen Aufnahmeriten regeln (die Problematik von Kindertaufe und Beschneidung einmal hintangestellt), die rechtlich wirksame Mitgliedschaft muss die Eintrittserklärung eines mündigen Menschen verlangen, die nach bestimmten Regeln den Austritt einschließen muss.
  • Kirchen müssen auch keine öffentlich-rechtlichen Körperschaften sein mit dem Privileg des Steuereinzuges, das der Staat für sie vornimmt. Auch hier reichen die Bestimmung der Vereinsfreiheit und des Vereinsrechtes. Kirchen können sich durch Mitgliedsbeiträge und Spenden finanzieren, die dort steuerlich abzugsfähig sind, wo es die Bestimmungen zur Gemeinnützigkeit hergeben.
  • Der an die Religionsgemeinschaften gebundenen Religionsunterricht in den öffentlichen und ihnen gleichgestellten Schulen, ist im säkularen Staat fehl am Platz. Die staatliche und staatlich anerkannte private Schule bedarf eines Weltanschauungs- und Religionskunde-Unterrichts als Pflichtfach, der auch die Grundlagen unseres Grundgesetzes als unserer Leitkultur allen Schüler*innen, egal welcher ethnischer, religiöser, kultureller oder sozialer Herkunft nahebringt.22 Er erfolgt durch Lehrer, die an staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschulen ausgebildet sind, ohne zusätzliche kirchliche Lehrerlaubnis.
  • Damit wären wir bei den Hochschulen: Die theologischen Fakultäten, deren Lehrende heute auch von kirchlicher Lehrerlaubnis abhängig sind (Missio canonica katholisch, Vocatio evangelisch oder Idschaza islamisch), werden in religionskundliche bzw. religions- und weltanschauungswissenschaftliche Fachbereiche umgewandelt, die auch die zuvor genannten Lehrer ausbilden. Damit ist auch geklärt, wie wir einerseits mit einer immer größeren Vielfalt von Religionen und andererseits einer immer größeren Zahl von Menschen ohne konfessionelle und religiöse Bildung umgehen, aber gleichzeitig im Schul- und Hochschulbereich weltanschauliche Bildung und ethische Orientierung erhalten.
  • Die direkten Staatszahlungen an die Kirchen aus allgemeinen Steuermitteln, die den meisten nicht bekannt sind, gehören abgeschafft. Sie waren schon in ihrer Entstehung fragwürdig und widersprechen heute jeder Vernunft. Es sind ca. 600 Millionen Euro jedes Jahr, angeblich aufgrund des Einzugs der Kirchengüter im Jahre 1803 ff, in Wirklichkeit erst durch die Weimarer Verfassung begründet23. Es handelt sich dabei weder um die vom Staat eingezogene Kirchensteuer noch um Zahlungen, die Caritas und Diakonie wie alle freien Träger im Bildungs- Sozial- und Gesundheitsbereich erhalten. Mehrere Weltkriege und Revolutionen haben die Welt verändert, Millionen Menschen wurden vertrieben und gingen ihres Besitzes und Vermögens verlustig – nur die Kirchen beharren unverändert auf diesen mehr als fragwürdigen Zahlungen. Sie werden nicht für soziale oder caritative Zwecke eingesetzt, sondern für die Gehälter von Bischöfen und Superintendenten, von Generalvikaren und Oberkirchenräten, sprich für die Gehälter der kirchlichen Hierarchie Es wäre höchste Zeit, dass die Kirchen auf diese Zahlungen verzichten oder sie durch Gesetz beendet werden.
  • Für ein kirchliches Arbeitsrecht darf im säkularen Staat kein Platz sein. Das individuelle und kollektive Arbeitsrecht ist für alle in Deutschland Beschäftigten gesetzlich geregelt, einschließlich des Rechts auf Betriebsräte und Streik. Der „Tendenzschutz“, reicht auch für die spezifischen Belange von Kirchen und Religionsgemeinschaften. Die Kirchen, insbesondere die katholische, müssten dann auch keine solchen Verrenkungen machen, wie bei der oben beschriebenen Reform des kirchlichen Arbeitsrechts vom November 2022.
  • Niemand müsste Sorge haben, dass dann die von den Kirchen getragenen Einrichtungen in den Bereichen Bildung, Soziales und Gesundheit zusammenbrechen. Die Refinanzierung dieser Leistungen aus staatlichen Mitteln, die heute wie bei allen freien Trägern gegeben ist, würde unverändert fortgeführt. Und die heute üppigen Spenden und Stiftungen an Diakonie und Caritas wären davon nicht betroffen, sie können gesteigert werden.

Natürlich sind mir die verfassungsmäßigen Hürden dieser notwendigen Trennung von Staat und Kirche bekannt. Aber angesichts der geschilderten gesellschaftlichen Entwicklung ist es höchste Zeit, die öffentliche und politische Auseinandersetzung darüber mit Nachdruck zu forcieren. Ein erster Schritt wäre schon die Änderung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Hier ist maßgeblich der Artikel 137 der Weimarer Verfassung, der ins GG übernommen wurde24.
Weder ist in Stein gemeißelt, dass die Kirchen selbst umfassend definieren können, was „ihre“ Angelegenheiten sind, die sie selbstständig ordnen und verwalten dürfen. Noch ist die sehr zurückhaltende Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit dem Halbsatz „innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze“ berechtigt. Das kirchliche Arbeitsrecht z.B. liegt eben nicht innerhalb dieser Schranken. In anderen Bereichen vollzieht die Rechtsprechung des obersten Gerichts den gesellschaftlichen Wandel nach oder treibt ihn sogar voran. Dies muss auch bei den Kirchenrechtsartikeln endlich ein erster Schritt auf dem Weg zu einem neuen Verhältnis von Staat und Kirche sein, das der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung trägt. Für den zweiten Schritt, der Änderung des gesamten § 140 des GG bedarf es wohl noch nach 1918 und 1989 einer dritten deutschen Revolution.

6. Säkularer Staat – befreite Kirchen?

Solche Weihnachtsgedanken mögen nicht jedem gefallen. Aber gerade das jüdische Flüchtlingskind in der Krippe, die damit verbundene Botschaft der Bibel, lässt doch zwangsläufig daran denken, in welchem Gegensatz die feudal, hierarchisch und abgehoben verfassten und präsentierten Kirchen dazu stehen. Der Staat muss angesichts der grundlegenden Änderung weltanschaulicher Mehrheitsverhältnisse ein hohes Interesse haben, das auch in der gesetzlichen und grundgesetzlichen Entwicklung zum Ausdruck zu bringen. Änderungen in diesen Bereichen sind gelinde gesagt mindestens ebenso wichtig wie die Schuldenbremse, die zulässigen Sondervermögen oder die Entwicklungen im Bereich von Partnerschaft und Ehe.

Aber es sollte auch ein Interesse der Kirchen sein, diesen Wandel voranzutreiben. Sie rangieren heute am unteren Ende der gesellschaftlichen Vertrauensskala, Diakonie und Caritas noch etwas besser als die Kirchen selbst (zwischen denen im Allgemeinverständnis, anders als in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, durchaus unterschieden wird)25.

Befreit könnten die Kirchen unbeschwert Mächtige in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft kritisieren, gerechte Besteuerung verlangen, Reichen Hilfe abtrotzen und deren Unterstützung für die Armen fordern, Obdachlosen Wohnung geben, auch in kirchlichen Hütten und Palästen, Hungernde nähren, Durstende tränken, mit anderen Worten „Tafeln“ betreiben, Witwen und Waisen trösten, Ungerechtigkeiten anprangern.

Ich komme zurück auf den Anfang: Auf die im Kind in der Krippe begründete biblische Botschaft, die gewaltlos revolutionär, zivilgesellschaftlich ungehorsam und prophetisch unbequem sein kann bzw. ist. Diese Botschaft könnten christliche Kirchen heute vertreten, zahlenmäßig kleiner, aber enorm glaubwürdiger.


1  K. Lang, Die Weihnachtstexte in der Bibelkatechese. Aktuelle Schriften zur Religionspädagogik, Verlag Herder Freiburg 1967
2  Evangelium nach Lukas 1, 51-54
3  „Selig, die arm sind vor Gott; / denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Trauernden; / denn sie werden getröstet werden. Selig die Sanftmütigen; / denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; / denn sie werden gesättigt werden. Selig die Barmherzigen; / denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die rein sind im Herzen; / denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frieden stiften; / denn sie werden Kinder Gottes genannt werden. Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; / denn ihnen gehört das Himmelreich.“ (Evangelium nach Matthäus 5, 3-12)
4 „Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, empfangt das Reich als Erbe, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist! 35 Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen; 36 ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. 37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben oder durstig und dir zu trinken gegeben? 38 Und wann haben wir dich fremd gesehen und aufgenommen oder nackt und dir Kleidung gegeben? 39 Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? 40 Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Evangelium nach Matth 25, 38-41).
5  „Verstehen sie Spaß?“ vom 16.12.2023
6  Matth 21,12 ff; Markus 11,15 ff., Lukas 19,45 ff.
7  In der Mailänder Vereinbarung von 313 einigten sich der oströmische Kaiser Licinius und Konstantin, Kaiser des weströmischen Reiches auf die Gewährung von Religionsfreiheit. Nach heutigen Schätzungen waren damals im oströmischen Reich 15%, im weströmischen erst 5% Christen. www.g-geschichte,de Konstantins Wende
8  Fortgeschrieben von 2022 nach den Angaben Deutscher Schausteller-Verband
9   über 62 % der Deutschen planten 2023 einen Besuch am Weihnachtsmarkt, 14 % einen Kirchenbesuch. Ergebnis einer Repräsentativbefragung vom 5. November 2023, Hochschule der Bundeswehr München.
10  Wie hältst du´s mit der Kirche? Erste Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, veröffentlich November 2023, EVA Leipzig 2023, S. 8 (im Folgenden als KMU zitiert)
11  KMU S. 9
12  Ebd. S. 19
13  KMU S. 76
14  Siehe Norbert Lüdecke, Die Täuschung. Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen? wbgTheiss Darmstadt 2021
15  Vatican News, www.vaticannews.va, 14. Juni 2022
16  ZdK: Zentralkomitee der deutschen Katholiken, oberstes Vertretungsorgan der katholischen Laien mit Vertretern aus katholischen Verbänden und Diözesanräten.
17  D.Deckers, Gehorsam und Gewissen. Eine erste Bilanz des Synodalen Weges, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Kirche in Deutschland, 39/2023, S. 35.
18  Jetzt werden die „Loyalitätsverstöße“, die zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen bis hin zur Entlassung aus dem kirchlichen Dienst in Einrichtungen der Caritas und Diakonie, in katholischen Schulen und Krankenhäusern führen können, zwar eingeschränkt, die private Lebensführung soll arbeitsrechtlich keine Rolle mehr spielen, aber die moralische Wertung bleibt unverändert. Der Katechismus der Katholischen Kirche, der am 7. Dezember 1992 von Papst Johannes Paul II. vorgestellt wurde, hält fest, dass homosexuelle Handlungen “in sich nicht in Ordnung” sind. Homosexuellen “durch die Tugend der Selbstbeherrschung” sowie “durch das Gebet und die sakramentale Gnade Schritt um Schritt, aber entschieden der christlichen Vollkommenheit annähern“ ( www.katholisch.de vom 09.12.2022). Auch Papst Franziskus formuliert im Januar 2023, dass homosexuelle Handlungen Sünde sind: „Es ist Sünde, wie jede sexuelle Handlung außerhalb der Ehe.“ (www.katholisch.de vom 28.01.2023)
19  Bischöfliche Erläuterungen zum kirchlichen Dienst vom 22. November 2022, Abschnitt III Ziff. 2
20  Wie hältst du du`s mit der Kirche, aaO. S. 85
21  Oder „Religionsgesellschaften“, wie sie in den durch Art. 140 des Grundgesetzes übernommenen Verfassungsbestimmungen der Weimarer Reichsverfassung genannt werden.
22  Nach der KMU wird schon heute ein Religionsunterricht, der konfessionsungebunden ausgerichtet ist, begrüßt, 30% der ältesten und 70% der jüngsten Befragtengruppe lehnen eine kirchliche Mitwirkung am Religionsunterricht ab.
23  Mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wurden zur Entschädigung weltlicher Fürsten für an Frankreich abgetretene linksrheinische Gebiete, rechtsrheinisch Bistümer Abteien und Klöster weltlicher Herrschaft zugeschlagen. Er die Weimarer Reichsverfassung von 1919 hat festgelegt, dass dafür eine einmalige Entschädigungssumme zu zahlen sei, die nie zustande gekommen ist.
24 Artikel 137 (3) Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde. (Weimarer Reichsverfassung)
25  KMU, S. 40 f.

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Klaus Lang
Dr. Klaus Lang studierte Katholische Theologie, Psychologie und Politik. Er war zunächst Pressesprecher des Vorstandes der IG Metall, 1981 wurde er Leiter der Abteilung Tarifpolitik, später leitete er die Abteilung des 1. Vorsitzenden und war Geschäftsführer der Otto-Brenner-Stiftung, 2003 wurde er Arbeitsdirektor der Georgsmarienhütte Holding GmbH. Er ist Mitglied im Rat der Stiftung Menschenrechte, der Förderstiftung von Amnesty International und im Sozialethischen Arbeitskreis Kirchen und Gewerkschaften.

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