Bitterer Waffenstillstand oder Krieg bis zu einem Sieg?

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Das von vielen als zögerlich kritisierte Ziel des deutschen Bundeskanzlers, die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren und Russland dürfe ihn nicht gewinnen, war damals und ist heute das Beste, was die Ukraine zu erreichen hoffen kann. Die Hoffnung, dass das Putin Regime angesichts umfassender Wirtschaftssanktionen, robuster militärischer und ziviler Unterstützung des Westens und ukrainischer Erfolge an der Front, den verlustreichen Krieg durch Rückzug beenden werde, hat sich nicht bewahrheitet. Was heißt aber, nicht gewinnen und nicht verlieren?

Nicht gewinnen heißt für Russland, dass es trotz gewisser Gebietseroberungen die freie Ukraine nicht zu einem Vasallenstaat machen kann, die 300 Milliarden beschlagnahmten russischen Vermögenswerte eingefroren bleiben, die Sanktionen fortbestehen. Es also einen fortgesetzten hohen Preis für den Überfall auf die Ukraine zahlt und trotz gewisser Landgewinne aus den russischen Großmachtträumen mit dem Ausschluss aus Europa und der Abhängigkeit von China erwacht.

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Was heißt nicht verlieren für die Ukraine? Es gelingt der Ukraine, den russischen Vormarsch zu stoppen und aus dem Stellungskrieg heraus einen Waffenstillstand zu erreichen. Die selbstständige Ukraine – wenn auch nicht in den Grenzen von 2013 – ist fest verankert in den wirtschaftlichen, politischen und sicherheitspolitischen Strukturen der EU und der Nato.

Dabei ist die Frage, ob die Ukraine ‘lediglich‘ ihre nationale Unabhängigkeit oder tatsächlich unsere Werte verteidigt für die zentrale Herausforderung, die aggressive russische Außenpolitik zu stoppen, vergleichsweise unerheblich. Unabhängig von der inneren Verfasstheit der Ukraine, je weiter die Konfrontationslinie mit Russland im Osten liegt, desto besser für das demokratische Europa. Zumindest solange bis sich in Russland eine Politik durchsetzt, die statt auf Einflusszonen und imperialen Hinterhof auf Nachbarschaft und Kooperation setzt.

Waffenlieferungen – entschlossene Unterstützung unter Berücksichtigung der Eskalationsgefahr

 Ob eine schnellere Lieferung von noch mehr Waffen Russland besiegt oder schwere weltgefährdende eskalierende Gegenschläge ausgelöst hätte, kann niemand ernsthaft beantworten. Unter rationalen Gesichtspunkten war der russische Angriff auf die Ukraine ein offensichtlicher Fehler. Bei jemandem wie Putin, der ohne Not solche kolossalen Fehler begeht, konnten und können daher auch, insbesondere wenn die eigene Situation ausweglos erscheint, wahnwitzige militärische Schritte nicht als irrational ausgeschlossen werden.

Für eine Diskussion, was heute getan werden kann, erübrigt sich die Frage ohnehin, ob 2022 oder 23 kriegsentscheidende militärische Erfolge der Ukraine möglich gewesen wären. Die Wahrheit ist, es gibt sie nicht und sie sind in der überschaubaren Zukunft nicht zu erwarten. Ebenso ist die öffentliche Debatte über eine jeweils gerade nicht gelieferte vermeintlich kriegsentscheidende Waffe (Patriot, Leopard, F16, Tauris) illusionär und überdeckt die entscheidendere Frage des Gesamtvolumens der militärischen Unterstützung.

Der Umfang westlicher Militärhilfe – auch wenn mehr immer möglich ist – ist beispiellos. Bei den insgesamt 247 Milliarden an militärischer, finanzieller und humanitärer Hilfe, die zwischen Januar 2022 und Oktober 2023 geleistet wurde, sind die USA mit 75 Milliarden und Deutschland mit 40 Milliarden (einschließlich des deutschen Anteils an den EU Hilfen) die mit Abstand wichtigsten Unterstützer. Bei Deutschland kommen noch weitere ca. 13 Milliarden Kosten für die über 1 Mio. Geflüchteten hinzu.

Deutschlands Waffenhilfe für die Ukraine ist mit 17,1 Milliarden nur geringfügig niedriger als die 18,3 Milliarden aller anderen EU Staaten zusammen. Frankreich hat sich bisher mit 0,5 Milliarden beteiligt. Bei diesen Ausgaben wird es nicht bleiben und es ist davon auszugehen, dass die USA von Europa in der Zukunft unabhängig vom Wahlausgang auf jeden Fall einen größeren Anteil an Unterstützungsleistungen erwarten werden.

Im Interesse der deutschen Sicherheit richtet der Bundeskanzler sich bei den Waffenlieferungen offensichtlich an der Eskalationsbereitschaft der USA aus. Deutschland hat bisher Waffen geliefert, die oder deren Äquivalente auch von den USA bereitgestellt wurden. Scholz lässt sich hier möglicherweise von der nicht abwegigen Überlegung leiten, dass nur das Abschreckungspotential der USA einen glaubwürdigen Schutz gegen russische Eskalationsreaktionen auf westliche Waffenlieferungen bietet und daher Deutschland keine Waffen liefern sollte, die Russland und russisches Territorium stärker attackieren können als bereits gelieferte amerikanische Waffen.

Mensch und Material im Abnutzungskrieg.

In einem Abnutzungskrieg nehmen die Bedeutung von Kriegskunst und Kampfmoral im Vergleich zur Überlegenheit an Mensch und Material ab. Letztendlich entscheidet nicht Klugheit und Mut, sondern die Anzahl von Granaten, Raketen, Panzern und Soldaten.

Die westliche Industriekapazität übersteigt die russische um ein Vielfaches. Wäre Russland auf sich allein gestellt, bliebe es eine vorstellbare Option, dass irgendwann im Laufe des Jahres 2024 oder 25 eine ukrainische Materialüberlegung erlangt werden könnte. Diese Hoffnung wird sich wohl nicht erfüllen, da neben Waffenlieferungen aus dem Iran und Nord Korea insbesondere China seine Exporte von Industriegütern, die sowohl für militärische als auch zivile Zwecke genutzt werden können, massiv ausgeweitet hat. China macht damit deutlich, dass eine russische Niederlage nicht in seinem Interesse ist, und es ist nicht davon auszugehen, dass China einen Zusammenbruch der russischen Militärmaschine wegen Materialmangels zulassen wird.

Der Westen hat sich mit seiner bisherigen Unterstützung so klar festgelegt, dass ein Zurückfahren der Hilfe einer eigenen Niederlage gleich käme. Beiden Seiten werden daher, trotz gewisser aktueller Verzögerungen bei westlichen Waffenlieferungen, die Waffen nicht ausgehen.

So oder so werden die Rüstungsausgaben steigen

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Die Unterstützung der Ukraine ist teuer. Sollten sich jedoch wider Erwarten die radikal isolationistischen Republikaner durchsetzen und es wegen fehlender amerikanischer Waffenlieferungen zu einem russischen Sieg kommen, dürften danach die Rüstungskosten eher schneller als langsamer steigen, da eine glaubwürdige Abschreckung Russlands dann erst recht ohne massive Aufrüstung nicht zu haben wäre. Der Westen und vor allem die Europäer werden also so oder so viel Geld für Waffen ausgeben müssen. Trotz des Störfeuers der Republikaner in den USA und der Widerstände in der Europäischen Union wird der Westen schon aus Eigeninteresse die Ukraine weiter mit Waffen und finanziell unterstützen. Das wird sich bei aller Empörung und Sorge über einen eventuellen Präsidenten Trump weniger radikal ändern als befürchtet. Zu seiner MAGA Ideologie (Make America Great Again) passt es eher, nicht das Ende der Nato einzuläuten, sondern schneller als unter Joe Biden die Europäer erheblich mehr für den Nato-Schutz und die Verteidigung der Ukraine zahlen zu lassen.

Sollte sich in den USA tatsächlich keine Mehrheit zur Bereitstellung von Haushaltsmitteln finden, wäre ein „russisches Darlehen“ immer noch eine Option. Der Westen könnte der Ukraine aus den eingefrorenen russischen 300 Milliarden zins- und tilgungsfrei Mittel für den Kauf von Waffen bereitstellen. Gleichzeitig würde, um deutlich zu machen, dass es sich um keine Konfiskation handelt, festgehalten, dass dieser Kredit in keiner Weise die russischen Eigentumsrechte beeinträchtigt, sondern nur bis zum Abschluss eines ukrainisch/russischen Friedensvertrags gewährt wird.

Es fehlen nicht nur Geld und Waffen, sondern auch Soldaten

In den dreißig Jahren vor dem Februar 2022 hat die Ukraine 20 % ihrer Bevölkerung verloren. Von 1991 bis 2021 sank die Bevölkerung von 52 Mio. auf 44 Millionen, von denen 5 – 6 Millionen in den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten leben. Seit dem Februar 22 hat die Ukraine durch russische Besetzung (1,5 Millionen) und Flucht (7 Mio.) weitere 8,5 Millionen Menschen verloren. Im Januar 2023 lebten noch ca 31 Millionen Menschen in dem von der Regierung kontrollierten Gebiet der Ukraine. Inzwischen dürfte die Bevölkerungszahl sich auf 30 Millionen zu bewegen. Dies ist ein geschichtlich einmaliger Bevölkerungsrückgang, der sich aufgrund des Krieges und einer extrem niedrigen Geburtenrate noch weiter drastisch verschärfen wird.

Die großzügige Bereitschaft Europas, seine Grenzen für Kriegsflüchtlinge bedingungslos zu öffnen, war ein beindruckendes Zeichen der Solidarität, das die demographischen Probleme der Ukraine kurz-, mittel und langfristig dramatisch verschärft.

Die in Deutschland sofort angebotenen Integrationskurse für ukrainische Geflüchtete legen einen Interessenkonflikt zwischen der mit massivem Bevölkerungsverlust konfrontierten Ukraine und den an (ukrainischen) Fachkräften interessierten europäischen Ländern offen. Je länger der Krieg dauert, desto größer wird auch der potentielle Interessenkonflikt zwischen den Ukrainer:innen und der Ukraine. Je besser Ukrainer:innen integriert sind, desto mehr dürfte ihr persönliches Interesse zunehmen, lieber in der EU zu verbleiben als in eine zerstörte und verarmet Ukraine zurückzukehren. Diesem persönlichen Interesse, die eigenen Lebenssituation verbessern zu wollen, steht das ukrainischen Staatsinteresse entgegen, den Bevölkerungsexodus stoppen und umkehren zu müssen.

Die Rückkehrbereitschaft wird zudem dadurch vermindert, dass die Heimat eines Teils der Geflüchteten von Russland besetzt ist, also zwar eine Rückkehr in die Ukraine, aber nicht in jedem Fall in die eigenen Heimatstädte und -dörfer möglich ist. Gleichzeitig wird es mit zunehmender Dauer des Krieges und der fortschreitenden Integration in den Aufnahmeländern für Männer attraktiver, ihren Frauen und Kindern in den Westen zu folgen, als für die Frauen, in die Ukraine zurückzukehren. Inzwischen leben bereits 600.000 Männer zwischen 18 und 60 Jahren in der EU. Und eine Ende der Abwanderung ist nicht in Sicht. Im vergangenen Jahr haben trotz eines weitgehend stabilen Frontverlauf nahezu 500.000 weitere Menschen die Ukraine verlassen.

Zwar ist eine Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung laut Meinungsumfragen weiter dafür, an den maximalen Kriegszielen festzuhalten, aber die Bereitschaft dafür sein Leben zu riskieren, hat abgenommen. Oder genauer, diejenigen, die bereit sind, dafür ihr Leben zu riskieren, sind bereits seit zwei Jahren an der Front. Das Durchschnittsalter ukrainischer Soldaten ist mit 43 Jahren bereits sehr hoch und die Mobilisierung von 500.000 zusätzlichen Soldaten wird auf freiwilliger Basis nicht gelingen. Sollte sich die Ukraine zu einer massiven Zwangsrekrutierung gezwungen sehen, wird die Absatzbewegung nach Europa weiter zunehmen. Europa wird sich entscheiden müssen, ob es Ukrainer, die verständliche Angst vor dem Krieg haben und das Kämpfen den anderen überlassen wollen, weiterhin großzügig aufnehmen will.

Will die Ukraine weitere Hunderttausende Soldaten mobilisieren, muss nicht nur der weitere Exodus gestoppt werden, sondern Millionen Frauen müssen motiviert werden zurückzukehren, um an der Heimatfront möglichst viele männliche Arbeitskräfte ersetzen zu können. In diesem Zusammenhang wäre es für Ukrainer:innen hart, aber für die Ukraine vorteilhaft, den besonderen Aufenthaltsstatus für Ukrainer:innen in EU Ländern im März 2025 auslaufen zu lassen und statt hier Bürgergeld zu zahlen, dort Wohnungen dort zu bauen.

Waffenstillstand – ein hoher Preis, aber was sonst?

Putin darf mit seinem Landraub nicht durchkommen, sagen diejenigen, die für den Kampf bis zum ukrainischen Sieg eintreten. Wenn er die Beute behalten kann, wird ihn dies nur ermutigen, nach einer Atempause den Krieg gegen die Ukraine fortzusetzen und danach wird er weitere Länder Europas bedrohen, bedrängen und möglicherweise überfallen. Die Vertreter dieser Maximalposition bleiben allerdings die Antwort schuldig, was zu tun ist, wenn sich das Wünschenswerte als unerreichbar herausstellt. Insbesondere weil niemand auf westlicher Seite bisher Bereitschaft signalisiert hat, der Ukraine nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Soldaten beizustehen. Angesicht der Erschöpfung der ukrainischen Truppen und des begrenzten Reservoirs an wehr- und kampffähigen Männer, wäre dies aber, wenn es denn um einen Sieg über Russland gehen soll, wohl geboten. Dies wäre dann eine direkte Nato-Russland Konfrontation. Ein solcher Vorschlag wurde bisher noch nicht einmal von Frau Strack-Zimmermann gemacht, der lautstärksten Befürworterin massivster militärischer Unterstützung für die Ukraine in Deutschland, und selbst Vertreter der osteuropäischen Nato-Mitgliedstaaten wollen soweit nicht gehen.

Wenn aber die gesamte Ukraine angesichts der Kräfteverhältnisse nicht befreit werden kann, wenn in einem jahrelangen Stellungskrieg weitere unzählige Menschen zu sterben drohen und die Ukraine weiter zerstört und ausgelaugt werden wird, scheint es unausweichlich und strategisch geboten, über das Risiko, den Preis und die Möglichkeit eines Einfrieren des Konfliktes zu sprechen.

Russische Bomben auf Mariupol (Foto, März 2022: Innenministerium der Ukraine auf wikimedia commons)

Wenn, so die Befürchtung, Russland nicht besiegt wird, droht der Überfall auf weitere Länder und eventuell sogar auf Nato-Staaten. Angesichts der Schwächen der russischen Armee während der vergangenen zwei Kriegsjahre und der massiven russischen Verluste an Mensch und Material , sollte das Risiko eines unmittelbaren russischen Angriffs auf weitere Ländern nicht überdramatisiert werden. Nicht weil Putin es nicht wollen würde, sondern weil Russland auf Jahre dafür nicht die notwendige militärische Kraft hat.

Die Ukraine müsste als Preis für einen Waffenstillstand östliche Teile des Landes auf absehbare Zeit nicht de jure aber de facto verloren geben. Der Gebietsverlust ist bitter, völkerrechtswidrig und sollte auf keine Fall diplomatisch anerkannt werden. Er bedeutet aber auf der anderen Seite – auch wenn dies auszusprechen in den Ohren vieler Ukrainern und Ukrainerinnen berechtigterweise empörend und zynisch klingt – das eine erschöpfte Ukraine nicht auch noch den kostspieligen Wiederaufbau verwüsteter Gebiete und eine schwierige Reintegration eines Teils der in den besetzten Gebieten und insbesondere auf der Krim lebenden Bevölkerung stemmen müsste. Wie sich dabei das Verhältnis von Befreier und Befreiten gestalten wird, ist schwer zu sagen. Neben denen, die sich jeden Tag nach der Befreiung von der russischen Fremdherrschaft sehnen und den Geflüchteten, die zurückkehren möchten, gibt es auch jene, die sich mit der russischen Besatzungsmacht arrangiert haben, mit ihnen zum Teil kollaboriert oder sie sogar begrüßt haben. Am schwierigsten dürfte eine friedliche Wiedervereinigung mit den Ostukrainern sein, die mit den russischen Truppen gegen die ukrainische Armee gekämpft haben.

Aber selbst ein solcher bitterer Waffenstillstand ist nur vorstellbar, wenn die Ukraine hinreichende Kräfte mobilisieren kann und die notwendige Unterstützung unterhält, um den momentanen Stellungskrieg weiterhin durchhalten zu können. Die Möglichkeit eines Waffenstillstandes ins Auge zu fassen, heißt also nicht, der Ukraine die militärische Unterstützung zu versagen, sondern erfordert vielmehr die klare Entschlossenheit, sie zu leisten.

Darüber hinaus sind – soll ein Waffenstillstand dauerhaft sein und nicht von Putin als Atempause für den nächsten Angriff genutzt werden – eine abschreckende Aufrüstung der Ukraine und westliche Sicherheitsgarantien zur dauerhaften Absicherung eines Waffenstillstands unabweisbar. In einem kalten Krieg aufzurüsten, um abzuschrecken, verlangt finanzielle Opfer, ist aber weiteren blutigen Kriegsjahren, in denen Hunderttausende sterben werden, unbedingt vorzuziehen.

Was könnte Russland zu einem Waffenstillstand bewegen?

Ein Waffenstillstand setzt voraus, dass Russland nicht länger glaubt, seine weitergehenden Ziele in der Ukraine mit Krieg durchsetzen zu können. Was könnte Russland zu dieser Einsicht bewegen? Hohe Verluste auf den Schlachtfeldern, fortgesetzte westliche Militärhilfe für die Ukraine, massive wirtschaftliche Kosten des Krieges, langfristige Wirkung der Sanktionen, wachsende Bevölkerungsproteste wegen der vielen Kriegsopfer, Auswanderung kriegsunwilliger Männer und die Erkenntnis, dass die russische Armee in ihrem jetzigen abgekämpften Zustand zu einem vollständigen militärischen Sieg nicht in der Lage ist, sind Faktoren, die hier eine Rolle spielen.

Darüber hinaus müssen die Sanktionen nicht nur beibehalten, sondern energischere Maßnahmen zu ihrer Fokusierung und Durchsetzung ergriffen werden. Personenbezogene Sanktionen könnten erheblich über den Kreis der bisherigen 1950 Russ:innen ausgeweitet werden. Allen wesentlichen Funktionsträgern des russischen Machtapparates sollte der Zugang nach Europa verwehrt werden.

Der Tod von Alexej Nawalny zeigt, dass die russische Regierung sich nicht im Geringsten um ihre Reputation oder internationale Normen und Gesetze schert. Aber er zeigt auch Putins Angst. Wären die offiziellen Zustimmungsraten von 70 bis 80 Prozent für ihn echt, hätte Nawalny seine Kritik nicht mit dem Leben bezahlen müssen. Trotz aller Propaganda fürchtet Putin offensichtlich, das Volk könnte sich gegen ihn wenden, sobald es eine Alternative gibt.

Deshalb sollte alles getan werden, die Opposition gegen Putin im Lande und im Exil zu unterstützen. Trotz massiver Staatspropaganda ist ein erheblicher Teil der russischen Bevölkerung für Verhandlungen und unterstützt persönlich die „militärische Spezialoperation“ nicht. Die westliche Politik sollte die Hoffnung auf und das Bemühen um wachsenden internen Widerstand gegen Putin nicht aufgeben. Hierzu gehört, auch jungen Menschen, die in diesem Krieg nicht kämpfen wollen, die Möglichkeit zu geben, nach Europa zu fliehen, auf eine Dämonisierung „der Russen“ zu verzichten sowie die Botschaft an das russische Volk, dass Europa sich wünscht, mit einem anderen Russland in Freundschaft und Frieden zu leben.

Auch wenn Russland zurzeit an der Front in der Offensive ist, befindet es sich in einer Situation struktureller Schwäche. Trotz viel Lärm und innenpolitischen Streit um die Ukrainehilfe in Washington gibt es gute Gründe anzunehmen, dass die USA zur Festigung der eigenen Weltmachtstellung einen russischen Sieg nicht zulassen werden. Das weiß man auch in Moskau. Selbst bei einer erratischen Figur wie Donald Trump sollte nicht aus dem Auge verloren werden, dass er Amerika groß und nicht gedemütigt sehen will. Zweifellos ist der Kreml auch überrascht über den deutschen Kanzler und seine Entschlossenheit, der Ukraine wirtschaftlich und militärisch mit langem Atem und massiv beizustehen. Deutsche und europäische Rüstungsausgaben steigen seit 2022 massiv und die Rüstungsproduktion wird ausgeweitet. Die Zeit ist auch hier nicht auf Russlands Seite.

Eine prosperierende, demokratische Gesellschaft…

Bei den nicht-öffentlichen Kontakten, die trotz des Krieges bestehen, wird es darum gehen müssen, Moskau klar zu sagen, was der Westen entschlossen ist zu tun, wenn Russland weiter Krieg führen will, aber wohl auch wieviel Unrecht man gemeinsam mit der Ukraine bereit ist nolens volens zu dulden, wenn dafür die Waffen schweigen. So wie die Lage im Moment erscheint, können weder Russland noch die Ukraine einen Sieg erzwingen. Die Frage ist daher, wieviel Menschen noch sterben müssen, bevor aus der Erkenntnis der Pattsituation die Bereitschaft entsteht, den Konflikt einzufrieren.

Mit Feinden verhandeln ist schwer. Lieber sähe man sie besiegt. Aber was bleibt, wenn es keinen Sieger gibt? Für die Ukraine wäre ein solcher Waffenstillstand nach all den Opfern bitter und nur zu rechtfertigen, wenn gleichzeitig vom Westen alles getan wird, damit sie den Frieden gewinnen kann. Nur wenn ein Wiederaufbau gelingt, werden die Menschen in der Ukraine bleiben bzw. zurückkehren. Nur dann kann die Ukraine mit westlicher Hilfe hinreichend militärische, wirtschaftliche, politische und demographische Stärke entwickeln, um ein Bollwerk gegen russische Aggression zu bleiben. Eine starke und demokratische Ukraine ist der Garant dafür, dass Putin den Waffenstillstand nicht nutzen kann, um die Machtbalance zu seinen Gunsten zu verschieben.

Eine prosperierende, demokratische Gesellschaft im freien Teil der Ukraine, geschützt durch robuste westliche Sicherheitsgarantien, wäre das positive Gegenbeispiel zur Herrschaft Putins, der im letzten Vierteljahrhundert vollständig versagt hat, Russland zu entwickeln. Die Ukraine ist in den vergangenen 30 Jahren meistens schlecht regiert worden, geplagt von Korruption, Oligarchenkapitalismus, Massenarmut. Nicht ohne Grund hatten schon vor dem Überfall 2014 auf die Krim Millionen Menschen ihrer Heimat wegen der schlechten Lebensbedingungen den Rücken gekehrt. Den Frieden zu gewinnen, wird nach dem Waffenstillstand die zweite Herkulesaufgabe des ukrainischen Volkes. Den Ukrainer:innnen nicht nur in ihrem Verteidigungskrieg zur Seite zu stehen, sondern ihnen jenseits eigener Wirtschaftsinteressen schon jetzt beim Wiederaufbau des Landes zu helfen, ist das Gebot europäischer Solidarität und Sicherheitspolitik.

Frank Hoffer
Dr. Frank Hoffer ist ehemaliger Mitarbeiter der Internationalen Arbeitsorganisation ILO und Associate Fellow an der Global Labour University Online Academy. Zuvor war er als Sozialreferent in der Deutschen Botschaft in Moskau und Minsk sowie als Geschäftsführer der Initiative ACT tätig, die sich für existenzsichernde Löhne in der Textilindustrie einsetzt.

3 Kommentare

  1. Hoffer stellt die Fragen, die in der dominierenden Berichterstattung ausgeblendet werden. Gut gefällt mir auch, dass er nicht von einem Extrem ins andere fällt, sondern weiter für eine militärische Unterstützung der Ukraine ist. Aber eine nicht für den unwahrscheinlichen Sieg, sondern für einen schmerzlichen Kompromiss! – Für einen solchen könnten vielleicht auch Länder wie Brasilien und Indien gewonnen werden können – und vielleicht auch als Mächte, die in einer Pufferzone als Garantiemächte mit UNO-Truppen das Risiko eines erneuten Angriffs reduzieren könnten.

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