Die zahlreichen Nachrufe auf Oskar Negt, der Anfang Februar 2024 im Alter von 89 Jahren starb, haben die Facetten eines Intellektuellen kenntlich gemacht, der durch die Schule der kritischen Theorie ging, zu einem Sprecher der Studenten-, Schüler- und Lehrlingsbewegung wurde, die Chance reformfreudiger Zeiten nutzte, um dem gewerkschaftlichen Bildungswesen einen Aufbruchsgeist einzublasen, den Pflichten eines Hochschullehrers unter der Bedingung einer technokratischen Institution nachkam und der ein lesenswertes Buch nach dem anderen publizierte. Keines bot polittechnisches Wissen nach Art heutiger Spin Doctors, alle waren sie dem Zweck verpflichtet, gesellschaftlichen Akteuren den Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu eröffnen.
Kants Wort von der Selbstverschuldung nahm er für die Beschreibung einer Gesellschaft, die sich das Bewusstsein ihres emanzipatorischen Potentials nicht aneignet. Dieses Potential ermessen zu lernen, sah Negt als die Aufgabe gewerkschaftlicher Bildungsprozesse an. Er prägte dafür den Begriff der objektiven Möglichkeit. Der im Zerfall begriffenen Neuen Linken riet er an, die Begeisterung fürs Proletariat, damals noch die Mehrheitsgesellschaft, weder zu übertreiben, noch seine vorfindliche Organisation links liegen zu lassen.
Wer Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Erstveröffentlichung erneut liest, entdeckt natürlich nicht nur taufrisch gebliebene Passagen. Welches Buch (außerhalb des Kanons der großen literarischen Werke) könnte das von sich behaupten? Die der sozialen Sprache und ihrer Stereotypen gewidmeten Passagen sind jedoch aktuell geblieben. Welche Erfahrungen Individuen und sozialen Gruppen zugänglich sind, hängt entscheidend von ihrem Sprachvermögen ab. Negt verwendet den Begriff des sozialen Topos, eines seiner stets geschliffen gehandhabten Werkzeuge. Die sozialen Topoi machen das Universum der Erfahrung weit oder eng. Der den abhängig Beschäftigten zur Verfügung stehende sprachliche Vorrat entscheidet mit, ob die Gegenwartsprobleme einer wirklichen Lösung zugeführt werden oder im unbearbeiteten Zustand verbleiben. Ist letzteres der Fall, haben die konservativen Topoi eine Haltung des Einigelns nahegelegt. Oder den Fetischen des Warenkonsums ist es gelungen, politische und soziale Begriffe zu kapern und gleichsam konsumierbar zu machen. Dann gehört Freiheit zum Ausstattungsmerkmal eines gehobenen Automobils und Gleichheit bedeutet, dass auch der kleine Mann auf große Fahrt mit der AIDA gehen darf.
Kritiker von rechts und links
Den entfalteten Industriegesellschaften sei es gelungen, den Erfahrungshorizont ihrer Mitglieder aufs Eindimensionale zu verengen, so die kritische Theorie. Der Eindimensionale Mensch gehörte einmal zu den meistgelesenen Büchern. Negt hat aus dieser Diagnose den Protest herausgelesen, nicht die Resignation. Wer die gesellschaftlichen Verhältnisse als monolithischen Block ausgibt, erstarrt dagegen vor ihrer Erscheinungsform. Gegen diese Erstarrung war die soziologische Phantasie gesetzt. Wer sie in Lernprozessen erworben hat, lässt sich nicht einreden, eine Welt ohne repressiven Zwang, soziale Verelendung und ökonomisch vermittelte Macht sei schlechterdings unmöglich. Dem fallen alle plausiblen Argumente für eine globale Wirtschaftsweise ein, die den Hunger abschafft und den gesellschaftlichen Reichtum gerecht verteilt.
Negts damalige Kritiker von rechts hielten ihm vor, er rede einer Selbstverwaltung der Produzenten das Wort; er klage die wirtschaftsdemokratische Verfügungsgewalt über die Ökonomie ein, wo diese Sphäre doch der demokratischen Regelung prinzipiell entzogen bleiben müsse. Die Kritiker vom pädagogischen Fach bemängelten, seine Idee der Erwachsenenbildung sei wissenschaftsfremd. Wo doch Negts Begriff der objektiven Möglichkeit gerade gegen den festbetonierten status quo gerichtet war.
Die Kritiker von links taten seine Theorie der Arbeiterbildung als reformistisch ab. Bewusstseinsbildung im institutionellen Rahmen von Gewerkschaftsschulen: wie langweilig. Wo bleibt da die systemsprengende Radikalität? Die es mit ihr hielten, waren bald nach 1968 entweder völlig resigniert ins Privatleben, oder in den Nihilismus terroristischer Aktionen geflüchtet. Negt hielt an seiner Doppelstrategie fest: Sich nicht pragmatisch bloß auf Tarif- und Tagespolitik konzentrieren, und das Wesentliche nicht aus den Augen verlieren. Das Wesentliche, die Produktionssphäre. Solange sie dem Einfluss der Gesellschaftsmitglieder entzogen bleibt, ist die formale Demokratie gegen ihre Transformation in eine substantielle abgeschottet.
Mit Hilfe der Sozialpsychologie
Will man sichten, was in Negts damaligem Buch zu den bleibenden Einsichten gehört, stößt man auf sein Verständnis der Sozialpsychologie. Sie sei im Curriculum der gewerkschaftlichen Bildung unterzubringen. Das ist bis heute ein frommer Wunsch geblieben, wobei die Not bedeutend größer geworden ist. Nicht mehr ganz junge männliche Arbeiter in kriselnden Industrien kann die AfD, ausweislich der empirischen Sozialforschung, zu ihren Stammwählern zählen. Als Negts Bändchen erschien, war die NPD gerade an der Fünf-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl gescheitert; in den sieben Landesparlamenten kamen die Neonazis nie über zehn Prozent hinaus. Negt sah die Sozialpsychologie als eine Wissenschaft an, deren Hilfe nötig ist, um dem Eindringen völkischer Ideologie in die Köpfe zu wehren.
Wäre das Handeln der Individuen nur von Rationalität bestimmt, bräuchte es die von Negt herausgestellten psychologischen Kategorien nicht. Die Prozesse der Selbstaufklärung anstoßende Pädagogik kann solche Kategorien nicht entbehren, gehört es doch zur Erfahrung des 20. Jahrhunderts, dass Individuen keineswegs bloß ihren rationalen Interessen folgen. Den an der Humanisierung der Gesellschaft arbeitenden Kräften hat diese Einsicht die faschistische Erfahrung aufgeherrscht.
Eine diffuse Ängste erzeugende gesellschaftliche Situation verstärkt die Neigung, vermeintlich Schuldige auszumachen. Hetze gegen Minderheiten schafft es immer wieder, zum gruppenkonformen Verhalten zu werden, denn solche Verhetzung dockt an die unzivilisierten, in einem schlummernden Triebkräfte an. Über die unbewusste Triebnatur klärt Freuds Psychoanalyse auf. Sie ist keine therapeutische Spezialwissenschaft in Negts Verständnis, sondern ihre Erkenntnisse helfen, den hartnäckigen Widerstand verfestigter Vorurteile bearbeitbar zu machen.
Wie stellt Negt sich dies vor? Er folgt dem klassischen Aufklärungsgedanken, wonach Wissen gegen Vorurteilsbildung wie ein Säurebad wirkt. Wer weiß, welche seelischen Seiten die verhetzenden Demagogen zum Schwingen bringen, hat sich gegen demagogische Einflüsterung einen Reizschutz erworben. Die Triebstruktur als Wut- und Angstverstärker zu nutzen, ist der von den Propagandisten angewandte Trick. Ihre sozialen Topoi und Stereotypen sind nicht zahlreich, und in jeder ihrer öffentlichen Äußerung lassen sie sich finden. Die Fremden nehmen dir dein Eigenes weg, ist eine solche Einflüsterung; die da oben leben in Saus und Braus, eine weitere. Die rechten Frontmänner und -frauen stilisieren sich stets als Rebellen, die sich auszusprechen trauen, was zu sagen verboten sei. Auch präsentieren sie ständig die Namen vermeintlich Schuldiger. Die Herausforderung einer Gesellschaft im völligen Umbruch ihrer industriellen Prozesse und konfrontiert mit einer massenhaften Migration, die partout um das reiche Land keinen Umweg macht, schrumpft so zum Unwillen des politischen Personals, die Ärmel aufzukrempeln und ordentlich aufzuräumen. In der Literatur, auf die sich Negt bezieht, ist von dem Personalisierungs-, dem Rebellen-, dem Schafe- und Böcke-Trick die Rede.
Den Altvorderen standen die Nackenhaare hoch
Negt macht auf den Umstand aufmerksam, dass die Ansprechbarkeit für rechte Parolen dem Unbewussten entstammt, und ein Argumentieren auf der Ebene von Rationalität und Sachargument demnach nicht hinreicht. Gelingt es der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit aber, den psychologischen Zusammenhang zu verdeutlichen, und den von ihr Geschulten gelingt dies in der betrieblichen Öffentlichkeit ebenso, kann man den Hassverkäufern ihr Geschäft deutlich erschweren.
Das von Oskar Negt formulierte theoretische Anspruchsniveau war hoch gewesen. Was er dem in den Gewerkschaftsschulen tätigen Personal damals abverlangte, ist in der Gegenwart allen pädagogischen Institutionen abverlangt. Sein exemplarisches Lernen traf im Apparat auf wenig Gegenliebe. Eine Gewerkschaft war damals eine völlig hierarchisch organisierte Institution, und als Hans Matthöfer, der spätere Wirtschaftsminister, der über Negt seine Hand hielt, sich Richtung Bonn verabschiedete, war dessen Bleiben in der IG Metall nicht länger. Antiautoritäre Arbeiterbildung, informelle Basisgruppen – da standen den Altvorderen die Nackenhaare hoch. Man muss es im Nachhinein auch verstehen. Das Überleben der aus der Emigration oder den Konzentrationslagern Zurückgekehrten hing einmal von der striktesten Disziplin einer streng hierarchisch strukturierten Organisation ab. Ihnen war es habituell schlicht unmöglich, solchen Ideen nahezutreten.
Unter dem Titel „Soziologische Phantasie“ erschien der Nachruf zuerst auf Glanz&Elend.