So aufgeklärt wie nötig, so fromm wie möglich oder – umgekehrt?

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Der bürgerliche Staat1 hat ein Versäumnis gutzumachen. Die Erwartungen der Ankommenden, denen seine Existenz eine Perspektive für ihre eigene liefert, könnten ihn über dieses Versäumnis belehren. Sie denken, ja, was denken sie eigentlich? Dass er ein frommer Staat ist? Er ist aber kein frommer Staat. Er, der die unterschiedlichsten Glaubensrichtungen toleriert, hütet nicht das, was allen Glaubensrichtungen gemeinsam ist, das Fromme, und er verlangt es auch nicht. Er verlangt, dass man weniger glaubt. Weniger heißt, maßvoll, mit weniger Inbrunst. Steht über dem Eingang zur danteschen Hölle, „Lass alle Hoffnung fahren“, so sollte über dem Eingang zum Staat stehen: „Sei weniger gläubig!“ Höchst verwunderlich für die, die religiöser Verfolgung entkommen sind. Kamen sie nicht, um ohne Furcht gläubig zu sein? Sind sie etwa vom Regen in die Traufe gekommen?

Und der Staat? Er hätte sich gewünscht, dass, wer zu ihm kommt, es aus Gründen tut, die mit ihm zu tun haben, samt und sonders solche, die mit weniger Glauben zu tun haben. Dass, wenn sie ihren Glauben praktizieren und er ihn schützt, sie beide im Grunde das gleiche wollen, ist ja eine Illusion. Wenn schon Erwartung im Spiel ist, sagt sich der Staat, dann wäre es doch schön, wenn sie nicht nur auf einem Missverständnis beruhte.

So lamentiert er, wenn er sich gesellschaftlichen Verkehrsformen gegenübersieht, die auf eigentümliche Weise auf sein Gebiet hinüberreichen und von denen er nicht weiß, ob er sie als Sitten oder Unsitten verbuchen soll. Noch nicht entschieden hat er sich, ob er es schlimmer finden soll, wenn sie ihm unter dem Signum der Religion oder der Kultur angetragen werden. Kultur, schwant ihm, könnte schlimmer sein als Religion, sie hat Zukunft. Aber darüber denkt er nicht gern nach, könnte doch sein, dass sich ihm alles entfremdet, auch das Eigene, hier Gewachsene, immer schon Dagewesene, die Umzüge, die Verkleidungen, das Gegröle und das Handgreifliche, schließlich sogar die Eckkneipe. Auch alles Kultur.

Ratio – Insel im Meer des Glaubens?

Zu besonderer Klarheit neigt der hiesige Staat nicht, zur Klarheit müsste er sich, bevor er Ankömmlingen gegenüber Ansagen macht, erst einmal durchringen. Vielleicht ist in seiner Position einfach nicht gut nachdenken. Pinchas Goldschmidt, Vorsitzender der europäischen Rabbinerkonferenz, macht in Le Monde vom 1. März 2024 klare Ansagen. Europa sei »influencée par le christianisme et les Lumières«. Es sei von Christentum und Aufklärung, ich sage mal: geprägt. Deshalb werde die Freiheit der Religion mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit häufig verwechselt, »la liberté de religion […] souvent confondue avec la liberté de conscience et de croyance.« Da »le judaisme n’est pas seulement une question de principes, de dogmes et de croyance«, eine Frage nicht nur von Prinzipien, Dogmen und Glauben ist, »mais aussi, c’est essentiel, une question de pratiques«, gerät er ernsthaft in die Enge. Soll ich verraten, was Larousse als Synonym für pratiques vorschlägt? Agissement, conduite, coutume, habitude, moeurs, procédé, rite, rituel, technique, tradition. (dictionnaire des synonymes: pratique – Larousse, https://www.larousse.fr) Verstehe ich Goldschmidt richtig, dann ist man gut beraten, wenn man nicht nur rite und rituel, sondern das mögliche Ganze des Begriffs auf den Judaismus bezieht.

Foto: Ilse Bindseil

Aber schon vor dem Nachschlagen ergeben sich Fragen. Europa, geprägt von Christentum und Aufklärung? Entweder das eine oder das andere, denkt der restlos aufgeklärte Europäer, sieht er die ratio doch eher als eine Insel in einem Meer von tumbem Glauben. Religionsfreiheit und Gewissensfreiheit, zwei Paar Schuhe? Das ist ihm zu hoch. Und mit Praktiken, wie gesagt, kommt er gar nicht klar. Da muss er erst einmal ein anderes Wort für finden, damit er nicht an Unanständigkeiten denkt, geschäftliche und andere.

Der Religion bleibt: Stell es dir bloß vor

Dann wenigstens Aufklärung! Aber in einem aufgeklärten Staat leben und aufgeklärt sein, das ist nicht das gleiche. Es liegen Welten dazwischen. Im Staat Friedrichs II., und auch das wird sich als prägend erweisen, gehört aufgeklärt sein auf die Seite des Befehlens, glauben auf die Seite des Gehorchens. Wie sollen Aufklärung und Religion sich von dieser Zuweisung jemals erholen! Der hinterhältige Witz bei der Sache ist nämlich der: Aufgeklärt zu sein passt zum Befehlen wie das Gehorchen zum Glauben.

Fangen die Probleme also an, wenn der Staat wie in Frankreich seinen eigenen Formalismus überwinden, von einer bloß demonstrierten zu einer substantiellen Aufklärung fortschreiten, wenn er ein vollständig aufgeklärter Staat werden will? Unmöglich, hier nicht an die „Dialektik der Aufklärung“ zu denken! In solch einem Staat würde jegliche Religion, die sich der Transformation in eine bloß symbolische Ordnung widersetzt, dem Verdikt zum Opfer fallen. In ihm gilt: Tu‘s einfach (Steuern bezahlen, das Kind zur Schule schicken, dich in der Kaserne einfinden). Für die Religion bleibt: Stell es dir bloß vor. Hier ist jener Sprung vom Wirklichen ins Symbolische gemeint, für den das von Goldschmidt herangezogene Christentum steht, wenn es den Wein als das Blut, die Hostie als den Leib Christi benennt.

Unter dem Druck einer lückenlosen Durchsetzung der Schlachtverordnung, die den Anlass für Goldschmidts Klarstellungen gibt, da sie die »citoyens juifs« hindert, »de vivre pleinement en accord avec leur foi«, in vollständiger Übereinstimmung mit ihrem Glauben, zu leben, spricht der Vorsitzende der Rabbinerkonferenz aus – für mich, übrigens, unendlich viel klarer, als ich mir dies im Deutschen als Sprache und Milieu vorstellen kann −, dass für das Abendland das Bewusstsein im Zweifelsfall wichtiger als das je konkrete Anliegen, um es herauszusagen, der Gedanke wichtiger als die Menschen ist. Auch wenn man diese recht verzweifelte These nicht mitmacht, kann man erkennen, welche Sprengkraft in der Religion gewahrt wird, wenn gegenüber dem besonderen Glauben dieses allgemeine Bewusstsein in Anschlag gebracht werden muss. Bedenkt man, dass es dabei um die Tierproduktion wohl mehr als um die Tiere, das heißt, um ein hoch vermitteltes, abstraktes, ein in letzter Instanz menschliches Wohl geht, dann wird das Ausmaß der Kränkung für die Religion deutlich: Ins Residuale – aus dem die Tiere errettet werden sollen −, wird sie zurückgestoßen. Wem der aufgeklärte Staat am Herzen liegt, der könnte hier noch einmal ins Nachdenken kommen.

1 Für einmal lasse ich offen, ob es sich um den Staat handelt, in dem ich lebe, oder um jenen aus meinen Träumereien, in dem ich das Sagen habe. Vgl. »In meinem Staat. Eine Träumerei.« In: prinzessinnenreporter (07.02.2020). www.prinzessinnenreporter.de/in-meinem-staat. »In meinem Staat – Update. Aktualisierung (aus gewissen Thüringer Anlässen) der Träumerei.« In: prinzessinnenreporter (28.02.2020). www.prinzessinnenreporter.de/in-meinem-staat-update. »Mein Staat II.« In: prinzessinnenreporter (24.03.2020). www.prinzessinnenreporter.de/mein-staat-ii.

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Ilse Bindseil
Ilse Bindseil ist Autorin und Redakteurin, sie war Lehrerin für Deutsch, Französisch und Philosophie an der Sophie-Scholl-Oberschule in Berlin-Schöneberg. Seit Ende der sechziger Jahre Veröffentlichungen im gesellschaftstheoretischen Bereich von Philosophie, Politik, Psychoanalyse, seit Ende der siebziger Jahre dazu im Bereich der schönen Literatur. Seit Ende der neunziger Jahre Redakteurin der Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation.

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