Interessenpolitik – mit oder ohne Menschenrecht

Soll die Ukraine wie Belarus eine unterworfenes „Brudervolk“ werden? “Echos der Bruderländer”, eine Ausstellung und Recherche im Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 1. 3. bis 20. 5. 2024 (Screenshot: HKW)

Von Anfang an hat der Krieg des Putin-Regimes gegen die Ukraine eine russisch-imperialistische und eine global-politische Komponente. Die Wiederherstellung des Macht- und Einflussbereichs der Sowjetunion, des alten Zarenreiches, ist die eine Seite. Die andere richtet sich gegen die Staats – und Lebensform der westlichen Welt, gegen Demokratie und Rechtsstaat, gegen Freiheit und Zivilgesellschaft. Das stellte Robert Habeck zu Ostern 2024 noch einmal klar heraus. Und das ist gut so. Das ist Ausdruck politischer Überzeugung, kein Dogmatismus.

Der Krieg Russlands hat nicht im Februar 2022, sondern im März 2014 begonnen, als Russlands Armee im Glanz der Olympischen Spiele von Sotschi, zum Hohn auf den Olympischen Frieden unmittelbar darauf die Krim annektiert hat und im Osten der Ukraine, in Donezk und Luhansk putschen ließ. Dem war schon ab Dezember 2013 der Euromaidan, die „Revolution der Würde“ vorausgegangen, demokratisch legitimiert und europaorientiert, von Anfang an von Russland, aber auch von vielen in Deutschland als Putsch diffamiert. Es war der erfolgreiche Versuch, einen Präsidenten abzusetzen, der der Ukraine das Schicksal bereitet hätte, das Alexander Lukaschenko den Menschen in Belarus beschert hat. Mit seinem staatlichen Repressionsapparat und Russlands Hilfe hat der nach den gefälschten Wahlen 2020/2021 jede Opposition niedergemacht, das Land „befriedet“. Will das denn niemand wahrhaben? Ist das der „Frieden,gegen Land“,der auch in der Ukraine erreicht werden soll? Soll die Ukraine wie Belarus eine unterworfenes „Brudervolk“ werden? Da der Weg über einen russlandnahen Präsidenten gescheitert war, waren die Annexion der Krim und der Putsch in der Ostukraine durch Russland die Antwort.

Ja, es geht um Interessen

Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine als Ganzes gibt es in Deutschland eine Diskussion über die nachhaltige Unterstützung der Ukraine zu deren Erhalt und deren Verteidigung, was immer es erfordert. Der Angriffskrieg Russlands wird nicht bestritten, weil er zu offenkundig ist, aber dem Westen, der USA und der NATO wegen ihrer Osterweiterung wird in unterschiedlichen Varianten eine Mitschuld, vielleicht sogar Hauptschuld an diesem Krieg gegeben. Das ist der Punkt, der mich fassungslos macht, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen: Die NATO mit den USA als Führungsmacht ist seit fast 80 Jahren eine entscheidende Grundlage der Entfaltung unseres politischen Systems, unserer gesellschaftlichen Verfassung, unserer Lebensweise. Zum anderen: Was ist nach 45 Jahren imperialistischer Unterdrückung durch die Sowjetunion verwerflich, wenn die osteuropäischen Staaten mit dem Mehrheitswillen der Bevölkerung einem Machtbereich beitreten, der politische Demokratie und gesellschaftliche Freiheit ermöglicht? Welche Selbstverzwergung führt immer wieder dazu, dass Menschen im Zuwachs dieses Machtbereichs eine Gefahr sehen, eine Rechtfertigung für den brutalen Angriffskrieg Russlands und nicht eine Ermöglichung von Freiheit und Gleichheit, von Gerechtigkeit und Wohlstand für Millionen von Menschen?

Weder die NATO noch die USA oder andere Mitgliedsstaaten sind frei von schweren Fehlern. Aber wir können die Fehler benennen, kritisieren, dagegen demonstrieren und vielleicht die Fehler beseitigen, um ein besseres Leben zu ermöglichen. Das ist in keinem anderen System auch nur annähernd möglich. Es ist so absurd, auf der Basis der sogenannten Interessenpolitik dieses System politisch gleichzusetzen mit dem heutigen Russland und seinen „Verbündeten“, dem Syriens Assads, dem Iran eines Ajatollah Khamenei, dem Nordkorea des Kim Jong-un oder dem China unter der Herrschaft von Xi Jinping. Ja, es geht um Interessen, um meine Interessen und die Millionen anderer Menschen, so leben zu wollen, wie wir es tun und nicht in totalitärer Herrschaft ohne Opposition, ohne Freiheitsrechte, in einer autoritären Gesellschaft, die Gewalt durchsetzt ist, Minderheiten unterdrückt und sämtliche bürgerlichen Freiheitsrechte außer Kraft setzt. Ja, es sind Interessen, aber Interessen, verknüpft mit Menschenrechten, die am Beginn der Epoche nach dem 2. Weltkrieg von allen feierlich formuliert und mitgetragen worden sind.

Verwüstung und Zerstörung der Ukraine, Sterben und Elend von hunderttausenden Menschen müssen so rasch wie möglich beendet werden. Ein Zurückweichen vor Putin führt sicher nicht dazu. Alle Verhandlungsinitiativen – Brasilien, die Türkei, Südafrika, Indien, China, auch Papst Franziskus wurden genannt – sind bis heute offenkundig nicht wirksam geworden. Im Gegenteil, die Intensität des Krieges wurde von Seiten Russlands ständig gesteigert.

Bild: DangrafArt auf Pixabay

Was für eine merkwürdige Verkehrung

Seit 2022 gibt es immer neue Varianten von Vorschlägen, die meist von einer Mitschuld des Westens ausgehen und auch praktisch ausschließlich an den Westen und die Regierung der Ukraine adressiert sind. Fast alle sehen faktisch eine Verkleinerung der Ukraine mit eingeschränkter Souveränität und eine Übereignung der Krim und des Ostens der Ukraine an Russland als „Angebot“ zu Verhandlungsbeginn und gleichzeitig als Verhandlungsergebnis vor. (Auch ein „Einfrieren“ des Krieges bedeutet ja, dass Russland das behält, was es schon annektiert und okkupiert hat.) Von keinem derer, die diese Vorschläge machen, ist zu hören, was für mich selbstverständlich wäre, an Putin zu adressieren: „Stoppen Sie die Zerstörung und Verwüstung der Ukraine, beenden Sie Sterben und Verelendung der Menschen.“ Damit werde ich sicher der Naivität bezichtigt. Aber was ist denn das für eine merkwürdige Verkehrung, wenn die Aufforderung zur Beendigung der Kriegsgräuel an den, der dieses Elend begonnen hat, als naiv gilt, aber Lösungsvorschläge, die die Erfüllung der kurzfristigen Ziele Putins zum Ausgangspunkt haben, als klug.

Die Staaten, die die Ukraine unterstützen, haben die militärische und ökomische Macht, einen Sieg Russlands zu verhindern. Mit weiteren wirtschaftlichen Sanktionen, mit wirksameren Flugabwehrsystemen und ausreichender Munition. Wenn die militärische Unterstützung der Ukraine durch Staaten, die in der NATO sind, nicht fortgesetzt, ausgeweitet und verbessert wird, weil eine massive Reaktion Putins befürchtet wird, die auch die Drohung des Einsatzes von Atomwaffen einschließt, dann ist für Russland ein wirksames Instrument geschmiedet, das immer wieder einsetzbar ist. Zum Beispiel, wenn sich Russland im antinazistischen Kampf die Restukraine einverleiben, die Russen in Moldawien und den baltischen Staaten befreien will und eines Tages auch einen Korridor zwischen Belarus und Kaliningrad für notwendig hält. Wenn heute der Osten und Südosten der Ukraine sowie die Krim als Teil der Ukraine nicht der nachhaltigen Verteidigung durch die westlichen Bündnispartner der Ukraine wert sind, warum sollten es dann morgen Transnistrien oder Georgien, Teile des Baltikums oder der kleine Zipfel um Suwalki im Nordosten Polens sein?

Der russische Angriffskrieg in den zwei Stufen 2014 und 2022 ist der erste Krieg im Zentrum Europas mit dem Ziel, die Ordnung, die sich nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums und des Warschauer Paks langsam herausgebildet hat, grundlegend zu verändern. Eine Ordnung mit vielen Schwächen und Brüchen, aber besser als der waffenstarrende kalte Krieg zuvor und mit Freiheitsgewinn für Millionen Menschen, mit einem größer gewordenen „Machtbereich“, in dem Demokratie, Freiheitsrechte und Gewaltenteilung gelten. Sie hätte sich weiter konsolidieren und auch Russland mit einbeziehen können. Das hat Russland jäh zunichte gemacht. Heute muss man sagen, die Staaten des Westens hätten schon 2008 der Ukraine den Weg in die NATO öffnen und 2014 auf die Annexion der Krim härter reagieren müssen. Jetzt ist es höchste Zeit, der Expansion Russlands Einhalt zu gebieten.

Katastrophale Rüstungsspirale

Bild: Vilkasss, KI generiert auf Pixabay

Die Verkleinerung und Teilung der Ukraine wäre eine nachhaltige Niederlage des Westens – militärisch, politisch und moralisch, verbunden mit weltweitem Verlust von Macht und Ansehen, auf jeden Fall für Europa. Sie wäre ein Zeichen militärischer Schwäche, politischer Ohnmacht und moralischer Unzuverlässigkeit, der Bruch eines Versprechens zur Sicherung von Völkerrecht und Menschenrechten. Diese Niederlage würde die Ukraine nicht befrieden. Staatsterror und Widerstandskämpfe würden das Gebiet über Jahre hinaus prägen. Diese Niederlage wäre für die nächsten Jahrzehnte für Europa und darüber hinaus bestimmend.

Die Angst vor der Expansion Russlands und der Macht der mit ihm verbündeten Staaten, wird sich nicht verringern, sondern vergrößern. Die Rüstungsspirale, die nach dem Angriffskrieg Russlands begonnen hat und zu Recht angesichts der gewaltigen Aufgaben, die sonst global anstehen, als katastrophal gilt, wird weiter in ungeahnter Weise nach oben schnellen. Uns stehen Jahrzehnte eines neuen kalten Krieges, eines neuen Gleichgewichts des Schreckens bevor. Mit der atomaren Drohung als wirksamster Waffe.

Meines Erachtens muss die Ukraine weiter unterstützt werden. Militärisch, ökonomisch und politisch. Es ist beruhigend, dass allen Zweifel zum Trotz, über 70% der Bevölkerung zustimmen, dass die Ukraine weiter und zu über 40% mehr als bisher unterstützt werden muss (ZDF-Politbarometer vom 12. April). Es geht nicht darum, Russland zu besiegen oder zu vernichten (in diesem Zusammenhang den faschistischen Begriff „Endsieg“ zu verwenden ist völlig unangemessen), sondern darum, den Bombenterror Russlands und den Vormarsch seiner Truppen zu stoppen sowie der Ukraine erkennbar die Chance zu geben, verlorene Gebiete zurückzuerobern. Erst auf dieser Grundlage, die für Russland spürbar sein müsste, könnten der Beginn von Verhandlungen, die wirklich auf Augenhöhe geführt werden, in Angriff genommen werden.

Print Friendly, PDF & Email
Klaus Lang
Dr. Klaus Lang studierte Katholische Theologie, Psychologie und Politik. Er war zunächst Pressesprecher des Vorstandes der IG Metall, 1981 wurde er Leiter der Abteilung Tarifpolitik, später leitete er die Abteilung des 1. Vorsitzenden und war Geschäftsführer der Otto-Brenner-Stiftung, 2003 wurde er Arbeitsdirektor der Georgsmarienhütte Holding GmbH. Er ist Mitglied im Rat der Stiftung Menschenrechte, der Förderstiftung von Amnesty International und im Sozialethischen Arbeitskreis Kirchen und Gewerkschaften.

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

bruchstücke