Für eine Kernsanierung des Hauses der sozialen Hilfe

Der deutsche Sozialstaat ist im internationalen Vergleich weit entwickelt. Mit einer Sozialschutzquote von 29,2 Prozent im Jahr 2022, dem Anteil der Sozialausgaben am BIP, wird Deutschland in der Europäischen Union nur von wenigen Ländern übertroffen. Rund 13.500 Euro gab Deutschland im Jahr 2022 pro Kopf der Bevölkerung für Sozialleistungen aus1. Allerdings mehren sich die Zweifel, ob der Sozialstaat in seiner jetzigen Form noch effektiv und zukunftsfähig ist. Im Laufe der Jahre wurden immer mehr soziale Leistungen eingeführt und die vorhandenen weiter ausdifferenziert. Das System wurde damit immer komplexer und intransparenter. Die Leistungen sind untereinander oft schlecht abgestimmt. Es gibt eine verwirrende Vielzahl von Zuständigkeiten und auch die Begrifflichkeiten in den verschiedenen, die Leistungen regelnden Rechtskreisen sind oft nicht kompatibel.

So ist etwa der Begriff des Einkommens im Steuerrecht anders definiert als im Sozialgesetzbuch II für das Bürgergeld und dort wiederum anders als im Wohngeldgesetz. Oft müssen Anspruchsberechtigte bei verschiedenen Behörden Anträge stellen, bei denen sie immer wieder die gleichen Angaben zu ihren persönlichen Verhältnissen machen müssen. Das entmutigt und überfordert viele. Die Komplexität des Sozialstaats trägt so auch dazu bei, dass soziale Leistungen in vielen Fällen gar nicht bei denjenigen ankommen, für die sie gedacht sind. So geht man etwa davon aus, dass die Grundsicherung im Alter nur von 40 Prozent der eigentlich leistungsberechtigten Bürger in Anspruch genommen wird2. Der Kinderzuschlag für erwerbstätige, aber bedürftige Familien wird Schätzungen zufolge nur von einem Drittel der Anspruchsberechtigten tatsächlich beantragt. Die Komplexität des Sozialstaats schafft damit zusätzliche Gerechtigkeitslücken, da vor allem die Gruppen, die aufgrund ihrer besonderen Benachteiligung durch niedrigen Bildungsstand, fehlende Kenntnisse des deutschen Behördensystems und oft auch noch schlechte Sprachkenntnisse besonders schutzbedürftig sind, mit den vielfältigen Zuständigkeiten und Antragsverfahren überfordert sind. Mittelschichtangehörige hingegen wissen sich im Dickicht der Zuständigkeiten und Antragsverfahren eher zu helfen.

Kaum noch ein Bauplan zu erkennen

Der beim Bundesjustizministerium angesiedelte Nationale Normenkontrollrat hat nun ein von ihm in Auftrag gegebenes, umfangreiches Gutachten3 veröffentlicht, das eine fundamentale Neuorganisation des Systems der sozialen Sicherung vorschlägt. In dem Gutachten wird das bestehende System mit dem Bild eines „Hauses der sozialen Hilfen“ beschrieben, in dem immer wieder an der einen oder anderen Stelle von verschiedenen Eigentümern aufgestockt, umgebaut und renoviert wurde, bei dem aber inzwischen kaum noch ein Bauplan zu erkennen ist. Die einzelnen Stockwerke und Wohneinheiten des Hauses, die verschiedenen sozialen Hilfeleistungen, sind auf vielfältige Weise durch Anrechnungs-, Ausschluss- oder Kumulationsregeln miteinander verknüpft, die in ihrer Komplexität inzwischen selbst Fachleute überfordern.

Das Gutachten der Beratungsfirma Deloitte schlägt vor, die bisher verfolgte Strategie der punktuellen Reformen einzelner Gesetze zu verlassen und das Gesamtsystem neu aufzustellen, also, um im Bild zu bleiben, nicht mehr einzelne Wohnungen zu renovieren und da und dort einen Durchbruch oder einen Anbau anzubringen, sondern eine Kernsanierung des ganzen Hauses vorzunehmen.

Die Vielzahl von Leistungen soll den Gutachtern zufolge in drei Hauptblöcke zusammengefasst werden – Leistungen für den alltäglichen Bedarf von Volljährigen, Leistungen für den alltäglichen Bedarf von Minderjährigen und den Bedarf von Haushalten, der vor allem aus den Wohnkosten besteht. Im Regelfall sollen die Leistungen pauschaliert erbracht werden. Falls es Mehrbedarf bei einzelnen Personen oder Haushalten gibt, soll der gesondert berechnet und bemessen werden. Die Deloitte-Autoren gehen davon aus, dass die Grundverfahren damit wesentlich entlastet werden können.

Quelle: Nationaler Normenkontrollrat/Deloitte

Sie schlagen zudem vor, die Zuständigkeit auf Bundesebene auf ein Ministerium zu konzentrieren, statt sie wie bisher auf Familienministerium (Kinderzuschuss), Bauministerium (Wohngeld), Arbeitsministerium (Bürgergeld) usw. zu verteilen. Zentral und möglichst digitalisiert sollten zudem alle standardisierten sozialen Leistungen verwaltet werden. Die Bearbeitung in den Verwaltungen solle so weit möglich automatisiert erfolgen.

Das muss den Gutachtern zufolge nicht unbedingt auf eine zentralisierte Bundesverwaltung hinauslaufen. Da hat man ja mit der Bundesagentur für Arbeit nicht immer die besten Erfahrungen gemacht. Vorstellbar seien auch im föderalen System verteilte Zuständigkeiten, so lange nur die Verwaltungsverfahren durchgehend digitalisiert und miteinander kompatibel sind, so dass für die Bürger der schon im Online-Zugangsgesetz (OZG) aus dem Jahr 2017 festgehalten „once-only“-Grundsatz eingehalten wird. Persönliche Daten von Antragstellern sollen danach nur einmal erhoben und dann immer wieder genutzt werden, auch wenn es um andere staatliche Leistungen als die zunächst beantragte geht. Das Zauberwort für eine solches integriertes System ist „government as a platform“, d. h. der Staat gibt Standards für Datentransfer und Schnittstellen vor, so dass eine digitale Plattform entsteht, an die unterschiedliche Fachverfahren für verschiedene Zwecke andocken können.

Einleuchtende Vorschläge

Während für die standardisierte Massenverwaltung eine starke Zentralisierung angestrebt wird, soll die Beratung der Bürgerinnen und Bürger vor Ort erfolgen. Die Deloitte-Autoren schlagen vor, diese Dienstleistung bei den bestehenden Jobcentern anzusiedeln, die unter den örtlichen Verwaltungsstrukturen bisher schon den höchsten Grad von Professionalität aufwiesen und gerade in der ganzheitlichen Einzelfallberatung noch ein großes Entwicklungspotential haben.

Als Referenzprojekt für einen solchen Umbau der gesamten sozialen Leistungssystem bezieht sich das Gutachten des Normenkontrollrats interessanterweise auf den sehr umstrittenen Vorschlag zur Einführung einer Kindergrundsicherung. Richtig und wegweisend daran finden die Autoren den Ansatz, vier soziale Leistungen für Kinder, nämlich Bürgergeld, Kindergeld, Kinderzuschuss und Leistungen für Bildung und Teilhabe, in einer neuen Leistung zu bündeln. Kritisch sehen sie jedoch die Absicht von Familienministerin Lisa Paus, für die Kindergrundsicherung mit dem „Familienservice“ eine neue Behörde zu schaffen. Besser sei, die Beratung vor Ort und die Berechnung von Mehrbedarfen im Einzelfall den Jobcentern anzuvertrauen, ein sinnvoller Vorschlag, der sich mit Empfehlungen von Praktikern in der Diskussion um die Kindergrundsicherung deckt.

Das Gutachten für den Normenkontrollrat bietet eine sehr konzise Darstellung der Probleme des überkomplexen Systems der sozialen Leistungen und macht einleuchtende Vorschläge zu einer grundlegenden Reform. Es wäre in der Tat eine „Kernsanierung“ des „Hauses der sozialen Hilfen“, deren Umsetzung überaus anspruchsvoll wäre, die in Interessen und gewachsene Wohlfahrtskulturen eingreifen und die bisherigen Haltungen der Akteure im Sozialbereich massiv infrage stellen würde. Eine solch fundamentale Reform setzt eine wesentlich stärkere Digitalisierung von Verwaltungsabläufen, eine ganz neue Systemarchitektur der digitalen Infrastruktur, vor allem aber einen starken politischen Willen voraus. Dabei müsste man sicher auch neu definieren, wie weit ein sinnvoller Datenschutz gehen kann, an dem bisher der Informationsaustausch zwischen Behörden oft scheitert.

KI könnte helfen

Mit ein wenig Skepsis ist der Vorschlag zu einer weitgehenden Pauschalisierung von sozialen Hilfen zu sehen. Dabei ist zu bedenken, dass eine solche Pauschalierung in Widerspruch zu dem vom Bundesverfassungsgericht sehr hoch gehaltenen Bedarfsdeckungsprinzip geraten kann, wenn die Pauschalen zu niedrig angesetzt sind. Es würden dann sehr viele Einzelfälle mit Mehrbedarfen erzeugt, was die Einsparung an Verwaltungsaufwand wieder zunichtemachte. Wenn man die Pauschalen dagegen so hoch ansetzt, dass sie die große Mehrzahl von Fallkonstellationen abdecken, wird es für den Staat sehr teuer, ganz abgesehen davon, dass dann viele Fälle „überversorgt“ würden, was wiederum neue Gerechtigkeitsfragen aufwerfen könnte. Allerdings kann man sich durchaus vorstellen, dass eine automatisierte Bearbeitung auch bei einen geringen Pauschalierungsgrad möglich ist. Künstliche Intelligenz wird heute schon in vielen Bereichen der Wirtschaft eingesetzt, um auch sehr stark individualisierte Vorgänge, etwa die Schadensmeldungen bei Versicherungen, automatisiert zu bearbeiten. Die Beantragung von sozialen Leistungen unterscheidet sich davon nur graduell.

Wenn die Jobcenter mit dem Konzept des Gutachtens zu örtlichen Zentren für soziale Sicherung ausgebaut würden, die die Vor-Ort-Aufgaben der bisherigen Sozialämter, der Unterhaltszuschussstellen der Jugendämter, der Wohngeldstellen, der Bafög-Ämter und der Familienkassen übernehmen, müsste man übrigens auch das Grundgesetz in Artikel 91e ändern. Drei Viertel der Jobcenter sind ja gemeinsame Einrichtungen von Bundesagentur für Arbeit und Kommunen. Damit man diese trotz des allgemeinen Kooperationsverbotes der Verfassung im Verhältnis Bund-Länder errichten konnte, wurde im Jahr 2010 eigens eine Ausnahmeklausel ins Grundgesetz aufgenommen, die sich aber ausdrücklich auf die „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ bezieht und nicht auf andere soziale Leistungen wie Kindergrundsicherung oder gar das neue integrierte Gesamtsystem, das dem Normenkontrollrat vorschwebt.

Insgesamt aber weisen die Vorschläge des Normenkontrollrates in die richtige Richtung. Es wäre zu wünschen, dass die Politik sie beherzt aufgreift und umsetzt.


1  Daten: Eurostat
2  Buslei, Hermann / Johannes Geyer / Peter Haan / Michelle Harnisch: Starke Nichtinanspruchnahme von Grundsicherung deutet auf hohe verdeckte Altersarmut, DIW Wochenbericht 49/2019; Zukunftsforum Familie e.V. / DGB / Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege: Barrieren für die Inanspruchnahme des Kinderzuschlags abbauen! Berlin 2022
3  Nationaler Normenkontrollrat/Deloitte: Wege aus der Komplexitätsfalle. Vereinfachung und Automatisierung von Sozialleistungen, 15. März 2024. Herunterladbar unter: www.normenkontrollrat.bund.de

Matthias Schulze-Böing
Dr. Matthias Schulze-Böing studierte in Frankfurt am Main und Berlin Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie. Er arbeitete in der Sozialforschung, schrieb Schulfunksendungen und lehrte in der Erwachsenenbildung. Bis Ende 2020 war er Leiter des Amtes für Arbeitsförderung, Statistik und Integration der Stadt Offenbach am Main, zur Zeit arbeitet er als Berater für die Stadt Offenbach und ist Vorsitzender der Gesellschaft für Wirtschaft, Arbeit und Kultur e. V. (GEWAK), Frankfurt am Main, in der er zusammen mit der Goethe-Universität Frankfurt Forschungsprojekte und Projekte zum Wissenschaftstransfer im Bereich der Arbeitsmarktpolitik umsetzt. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Arbeitsmarkt, zur Sozialpolitik, zur Verwaltungsreform, zur Stadtentwicklung und zu Themen der Migration.

1 Kommentar

  1. Ein sehr guter ubd wichtiger Beitrag! Diese Kernsanierung ist dringend notwendig, denn auch für die steuerzahlenden Bürger*innen wird dieses Missverhältnis von Aufwand und Ergebnis immer mehr zum Ärgernis. Es schürt Politikverdrossenheit und wirkt auf die Dauer demokratiegefährdend, weil sowohl die möglichen Leistungsempfänger wegen der bürokratischen Hürden und unverständlichen Regelungen ebenso zunehmend frustriert sind wie die Leistungszahlenden. (Wäre) eigentlich ein ideales Projekt für die Fortschrittskoalition (gewesen): Bürokratieabbau, Digitalisierung/ KI-Nutzung, Zielgenauigkeit sozialer Hilfe und Kostenersparnis in einem! Deutschland ist auch eine Sozialstaatsdemokratie. Das ist eigentlich auch im Grundgesetz grundgelegt. Effektiver Sozialstaat sichert Demokratie, seine mangelnde Effizienz schadet ihr.

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