Ein deutliches antidemokratisches Basisrauschen

Prof. Dr. Berthold Vogel, Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI)

Was folgt auf den Protest gegen den Rechtsradikalismus und gegen die AFD? Wen erreichen die Aufrufe für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt und für eine Verteidigung der Demokratie überhaupt (noch)? Seit drei Jahren forschen Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen an elf Instituten und Universitäten in einem Großprojekt über den Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Am Standort Göttingen blicken Berthold Vogel und sein Team auf den ländlichen Raum, vor allem auch in Ostdeutschland, wo die Rechtsextremen stark und die zivilgesellschaftlichen Strukturen eher schwach sind. Jutta Roitsch sprach mit Berthold Vogel.

Jutta Roitsch: Seit Wochen gehen in Deutschland Menschen auf die Straße und demonstrieren gegen rechtsextreme Vorstellungen von „Umsiedlung“ und „Vertreibung“ „nichtdeutscher“ Menschen, gegen offenen Rassismus in Parteien wie der AFD. Von Hanau bis zum Fontane-Dorf Ribbeck im Havelland wird der gesellschaftliche Zusammenhalt beschworen. Wie sehr er bedroht ist, zeigt sich jetzt auch an Gewaltattacken im Europa-Wahlkampf.
Sie sind seit über drei Jahren mit dem Sofi Göttingen an dem bundesweiten Forschungsprojekt zur Frage des Zusammenhalts unserer Gesellschaft beteiligt. In diesem Jahr sollen Sie dem Bundesbildungs-ministerium den Abschlussbericht vorlegen. Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang den plötzlichen Ruck in der deutschen Gesellschaft, der Hundertausende auf die Straße treibt?

Berthold Vogel: Zunächst – wir hoffen auf Fortsetzung unserer Forschungen und sind dem BMBF sehr dankbar, dass es weitere Jahre für die sozialwissenschaftliche Zusammenhaltsforschung in Aussicht stellt. Doch um auf Ihre Frage zu kommen: Mich überrascht dieser Ruck nicht, es brauchte wohl eine Initialzündung. Denn wir sehen in unserer Forschung seit vielen Jahren zwar wachsende autoritäre Neigungen und extremistisches Wahlverhalten gerade im ländlichen und kleinstädtischen Raum Ostdeutschlands. Man kann dort geradezu von einer rechtsextremen Kultur sprechen, die sich stabilisiert hat und deren Wurzeln bis weit in die Zeiten der DDR zurückreichen, in denen sich daher keineswegs nur Nachwendeerfahrungen spiegeln.
Aber wir sehen in unserer Forschung zu Sozialen Orten und gesellschaftlichem Zusammenhalt auch, wie viele von der Öffentlichkeit unbemerkte Neuerer und demokratisch Aktive es gibt – auch und gerade in Thüringen oder Sachsen. Insofern ist es ein positives Signal, dass im ländlichen Raum nun endlich diejenigen sichtbar werden, die die Demokratie vor Ort verteidigen, oft im Stillen und in der Regel von den Medien unbemerkt. Denn auch die Wissenschaft schenkt eher denen Aufmerksamkeit, die durch Radikalität und Menschenfeindlichkeit auffallen. Aber es gibt eben die Mehrheit derjenigen, die darum wissen, dass Demokratie und Freiheit zu bewahrende Güter sind. Und dieses Bewahren beginnt nicht in Berlin, sondern vor Ort, in Rudolstadt, in Zittau, auf dem Dorf im Thüringer Schiefergebirge. Wir könnten auch sagen: die Demokratie wird auf dem Land und in der Kleinstadt verteidigt.

„Wer sich für Demokratie engagiert, darf nicht zum Freiwild für Extremisten werden“

Jutta Roitsch: Was müsste in der Öffentlichkeit geschehen, wenn die Proteste mehr sein sollen als eine erregte Empörung über ein öffentlich gewordenes Treffen von Rechtsextremen in einem Brandenburger Hotel?

Berthold Vogel: Ich denke, drei Dinge sind wichtig: Die demokratischen Netzwerke, die oftmals nur zarte Pflanzen sind, müssen gestärkt werden. Es bedarf daher erstens der Kooperation vor Ort, von Verbänden, Kirchen, Gewerkschaften, Verwaltung, Betrieben, Vereinen. Die demokratisch Gesinnten, diejenigen, die die Freiheit und die Vielfalt schätzen, bedürfen öffentlicher Wertschätzung und konkreter Förderung vor Ort. Weiterhin gilt es zweitens, die politische Bildungsarbeit zu stärken, d.h. eine demokratische Kultur zu entwickeln, die widerstandsfähig ist gegen extremistische Anfeindungen. Zudem müssen in diesem Zusammenhang konkret Kommunalpolitiker geschützt werden, die bedroht und gepiesackt werden. Wer sich für Demokratie engagiert, darf nicht zum Freiwild für Extremisten werden. Hier muss der Rechtsstaat wehrhaft sein, das ist auch von Polizei und Staatsanwaltschaften zu erwarten. Und ein dritter Punkt: die Wirtschaft vor Ort, die Unternehmen müsssen eingebunden werden. Betriebe sind wichtige Lern- und Erfahrungsorte. Unternehmer und Selbständige haben eine gewichtige Rolle vor Ort. Sie sollen keine parteipolitischen Bekenntnisse ablegen, aber wenn sie sich positiv für das Gemeinwesen vor Ort engagieren, dann hat das Gewicht.

Gedenktafel Ingo Binsch Zossener Straße 2 Berlin-Hellersdorf
(Foto: Singlespeedfahrer auf wikimedia commons)

Jutta Roitsch: Die Proteste und die selbstgebastelten Plakate, die vor allem junge Menschen hochhalten, richten sich überwiegend gegen die AFD und ihre möglichen Wahlerfolge in den bevorstehenden Europa-und Landtagswahlen. Sind es die Erfolge dieser Rechtsextremen, die Angst machen? Oder knistert es nicht im demokratischen Fundament durch einen Vertrauensverlust in bisher tragende und prägende Institutionen dieses Staates?
Theodor Eschenburg, einer der Ahnherren der deutschen Politikwissenschaften, hatte für die Bundesrepublik den Begriff vom „Verbändestaat“ geprägt: Stabile Säulen im gesellschaftlichen Gefüge seien danach Gewerkschaften, Kirchen, Wirtschaftsverbände, Handwerkskammern, Wohlfahrtsverbände und nicht zuletzt die politischen Parteien, die nach dem Grundgesetz eine besondere Verantwortung für die politische Bildung haben. Stimmt Eschenburgs Bild überhaupt noch für dieses Deutschland über dreißig Jahre nach der Vereinigung? Das Misstrauen gegen „die da oben“, das aus DDR-Zeiten bis in die Gegenwart schwappt, scheint ebenso verbreitet wie die Verklärung des „damaligen guten Lebens im Sozialismus“. David Begrich, der Rechtsextemismusforscher in Magdeburg, hat kürzlich davon gesprochen, dass man es in manchen Regionen in Ostdeutschland „mit einer Art antidemokratischem Basisrauschen“ zu tun habe. Sind Sie bei den von Ihnen so genannten „Forschungsreisen in die Wirklichkeit“ vor allem im ländlichen Raum Thüringens diesem Basisrauschen auch begegnet?

Berthold Vogel: Ja, das bin ich – und das Basisrauschen ist laut und deutlich und nicht nur ein Hintergrundgeräusch. Da stimme ich Begrich zu. Völkische Siedler und Reichsbürger gehören vielerorts bereits zum Alltag auf dem Land. Sich zur AfD zu bekennen, ist bis weit in die Mitte der Gesellschaft nichts Ungewöhnliches mehr. Aktuelle Studien der Hans-Böckler-Stiftung zeigen, dass insbesondere zwei Wählergruppen von ihrer Parteienpräferenz besonders überzeugt sind. Das ist die Wählerschaft der Grünen und das sind die Wählerinnen und Wähler der AfD.

„Die Zeiten, dass man sagen konnte, wer AfD wählt, wählt diese Partei aus Protest, sind vorbei“

Das AfD-Wählerklientel gibt an, besonders hohes Vertrauen in diese Partei zu haben. Die Zeiten, dass man sagen konnte, wer AfD wählt, wählt diese Partei aus Protest, sind vorbei. Wer AfD wählt, der oder die tut dies aus einer starken inneren Überzeugung. Und zu dieser Überzeugung gehört die Kritik rechtsstaatlicher Institutionen. Etablierte Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, aber auch Justiz und Polizei werden als Orte der Anderen wahrgenommen, vermeintlicher Eliten, die unter einer Decke stecken und die die Pfründe untereinander verteilt haben. Verstärker dieser „alten“ Institutionen sind nach Auffassung der allermeisten AfD-Wähler die „systemkonformen“ Medien. Es wird auf diese Weise ein manichäisches Weltbild produziert und eine politisch-soziale Polarisierung der Gesellschaft behauptet. Die AfD ist eine Partei der – wie der Kollege Steffen Mau sagen würde – Polarisierungsunternehmer. Polarisierung ist ihr Treibstoff, sie bindet ihre Anhängerschaft zusammen. Wir sehen hier also einen wachsenden Teil der Bevölkerung, der fest in der sozialen Mitte verankert ist, der das Vertrauen in die demokratietragenden Institutionen verloren hat.

Jutta Roitsch: Welche Möglichkeiten bieten sich gegen dieses zerstörerische Basisrauschen in den Köpfen der Menschen an? David Begrich setzt auf eine „demokratische Kultur“, eine gewisse Gelassenheit und „erprobte Konfliktfähigkeit“ (SZ vom 8.Februar 2024). Begrich, 1972 in Erfurt geborener Theologe mit DDR-Sozialisation und Wende-Erfahrung, kann das so schlicht für sich selbst einfordern. Wo aber sind im Dorf, in der Kleinstadt, in schwierigen Vierteln von Großstädten die vielen notwendigen Menschen, die all das können und aushalten, vor allem auch gewalttätige Einschüchterungsversuche und bis ins Persönliche gehende Bedrohungen? Gefragt sind stabile, mutige „Zieher“ und „Zieherinnen“, Empowerment statt Erschöpfung, Ermüdung und Gleichgültigkeit. Wie erprobt man Konfliktfähigkeit in diesen Zeiten? Was könnten Ihre Forschungen zur Ermutigung beitragen?

Berthold Vogel: Es hilft nichts, den Kopf zu verlieren und sich in dieses destruktive Basisrauschen hinein ziehen zu lassen. Wobei das für einen beobachtenden Wissenschaftler deutlich leichter zu sagen ist als für eine Ortsbürgermeisterin oder einen engagierten Pastor oder eine Lehrerin in der örtlichen Realschule. Das ist mir schon klar. Sie sind vor Ort und sehr unmittelbar mit Einschüchterung und Hassrede, mit Gleichgültigkeit und Passivität konfrontiert. Als Sozialforscher werde ich gelegentlich mit diesem Hass konfrontiert – in der Pandemie war das der Fall, aber ich kann mich dieser Destruktivität dennoch entziehen.

„Sozialforschung muss ein Sprachrohr des Engagements für demokratischen Zusammenhalt sein“

Erscheint Mitte Juni 2024

Zu Ihrer Frage nach der Ermutigung: Ja, wir sind fähig, den Drang ins Autoritäre, in das Ressentiment, in das Menschenfeindliche zu begrenzen, ihm Einhalt zu gebieten. Hierzu braucht es starke Kommunen, ich sprach das Thema schon an, und eine offensive Bildungsarbeit, insbesondere in den Schulen, die ein Bewusstsein dafür schafft, dass Demokratie, Gemeinwohl und Zusammenhalt von jeder Generation wieder neu erarbeitet werden müssen. Wen wundert es, dass die jungen Leute zu extremen Parteien tendieren, wenn in der Schule der Gesellschaftskundeunterricht zusammen gekürzt und wenig geschätzt wird, und wenn auch die öffentlich-rechtlichen Medien Demokratiefeinden Woche für Woche eine Bühne bieten. Eine freie und offene Gesellschaft kennt in politischer Hinsicht keine Ewigkeitswerte. Vielmehr muss sie mit den Herausforderungen, die die Zeit ihr vor die Füße wirft, umgehen können. Demographischer und digitaler Wandel, Krieg und Klimakrise stellen neue Fragen, auf die nicht mit alten Rezepten zu reagieren ist.
Wir sehen in unserer Forschung zu Sozialen Orten, zu lokalem Zusammenhalt und zu kommunalen Initiativen, dass viele Aktive nach Antworten suchen, die auf der Höhe der Zeit sind. Sozialforschung muss in Zeiten wachsender sozialer Fliehkräfte ein Sprachrohr des Engagements für demokratischen Zusammenhalt sein. Denn sie hat im besten Fall die Kraft, konstruktiven Wandel sichtbar zu machen. Wir dürfen dem Spektakel des Ressentiments nicht nachgeben, sondern wir müssen die ruhige Kraft der demokratischen Gestaltung sichtbar machen. Dem dient unser Konzept der Sozialen Orte, ein Forschungskonzept, das auch ermutigen soll.

Jutta Roitsch
Jutta Roitsch, Diplom-Politologin und freie Autorin, von 1968 bis 2002 leitende Redakteurin der Frankfurter Rundschau, verantwortlich für die Seiten »Aus Schule und Hochschule« und »Dokumentation«, seit 2002 als Bildungsexpertin tätig, Engagement in der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union, vereinigt mit der Gustav-Heinemann-Initiative (GHI), Autorin der "Blätter für deutsche und internationale Politik", der "Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik".

1 Kommentar

  1. Ich finde diese Überlegungen zum „Basisrauschen“ von dem „von mir sehr geschätzten“ Professor Vogel außerdentlich wichtig und ich hoffe, es wird dazu noch weitere differenzierte Ergebnisse und Erkenntnisse geben.
    Allerdings sollte man dabei nicht übersehen, dass es auch ein durchaus lauten demokratische Basisrauschen gibt, dass man nicht überhören, sondern stärken sollte, wo immer es erklingt.
    Das könnte ruhig noch etwas mehr Platz bekommen. Vielleicht berührt Wissenschaft dann auch noch mehr die Basis!
    Thomas Kleinspehn

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