Wäre Mönchengladbach auf Sylt…

Foto: Fyrtaam auf wikimedia commons

Die Jahresberichte der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zeigen: Rund ein Drittel der Anfragen zu und der Fälle insgesamt fallen unter die Rubrik Diskriminierung wegen einer Behinderung. Das sind etwa 2000 „Fälle“, wie man sagt. Die Dunkelziffer ist nach Ansicht der Fachleute der Lebenshilfe hoch. “Euthanasie ist die Lösung” stand auf dem Stein, der auf eine Wohneinrichtung der Lebenshilfe Mönchengladbach geworfen wurde.  Anders als das blau-braune Sylt-Gegröle fand der Anschlag wenig öffentliche Aufmerksamkeit.

Bei Behinderungen geht es stets um Einschränkungen und Veränderungen physiologischer Funktionen – Bewegung, Sehen, Gehen, auch Einschränkung mentaler Fähigkeiten gehört dazu. Die Lebenshilfe hilft Menschen mit Einschränkungen ihrer mentalen Möglichkeiten. Das Bundesteilhabegesetz aus dem Jahr 2018 hält grundlegend fest: „Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“.

Das Schlüsselwort ist „gleichberechtigte Teilhabe“. An diesem Rechtsanspruch sind Vergehen und Verbrechen hier zu messen.

In der Nacht vom 26. Mai auf den 27. Mai wurde ein Anschlag auf ein Wohnhaus der Lebenshilfe in Mönchengladbach verübt. Der oder die Täter hinterließen auf einen Ziegelstein geschrieben die Botschaft: „Euthanasie ist die Lösung“. In solchen Wohnstätten leben Menschen mit einer Einschränkung von Fähigkeiten, oft Menschen mit Down Syndrom. Sie wohnen dort, sie gehen von dort zu Schule oder Ausbildung, zur Arbeit, meist zu einer Werkstätte, in der sie ihren Möglichkeiten angepasste Arbeiten verrichten, Gegenstände produzieren, Dienstleistungen erbringen. Andere leben in solchen Heimen ihren Lebensabend. Es war der zweite Anschlag auf die Mönchengladbacher Lebenshilfe innerhalb einiger Wochen.

Screenshot: Website Lebenshilfe © David Maurer

Kein Lanz, keine Gaschke, keine Miosga

Aber Mönchengladbach ist nicht Sylt. Während sich viele in Funk, Fernsehen, sozialen Medien und im Printbereich ausgiebig mit der geistig-politisch klebrigen Geschichte auf Sylt und mit dem ausländerfeindlichen Gegröle dort beschäftigten, mit der Frage ob es verwerflich und falsch sei, Täter und Täterinnen mit Namen zu nennen und wie es denen jetzt gehe, herrscht bezogen auf den Anschlag in Mönchengladbach fast eine gespenstische Stille. Die Rheinische Post hat berichtet, der WDR, Bild, einige lokal-regionale Medien. T- online fragte erstaunt: „ Nazi-Angriff auf Wohnheim der Lebenshilfe in Mönchengladbach?“ Von wem wohl sonst, lautet die Antwort. Der Geschäftsführer der Mönchengladbacher Lebenshilfe Özgur Kalkan sagte der TAZ: „Unser Bundeskanzler Olaf Scholz fand es „eklig“, was auf Sylt passiert ist. Mich würde schon interessieren, wie Herr Scholz das findet, was bei uns geschehen ist.“

Man wird sehen, ob da noch was kommt. Unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“ wird für den 6.Juni zu einer Solidaritätsbekundung in Mönchengladbach aufgerufen. Aber sonst? Kein Lanz bislang, keine Gaschke, keine Miosga, kein Regierungssprecher, eine stille Ampel und eine stille Anti-Ampel. Obgleich es Empfehlung und zu gleich Rechtfertigung von Mord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit war.

Manches ist offenbar nicht mehr so präsent

Das war in der Geschichte der Bundesrepublik selten. Freilich stand solches bereits an und in der Tür zur Demokratie der Nachkriegszeit: „Ob das Mittel, die Juden zu vergasen, das gegebene gewesen ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Vielleicht hätte es auch andere Wege gegeben, sich ihrer zu entledigen.” Sagte der Bundestagsabgeordnete der Deutschen Partei (DP), Wolfgang Hedler am 25. November 1949 im Deutschen Haus zu Einfeld in Schleswig-Holstein. Ein anwesender SPD-Parlamentarier stenografierte mit, die Frankfurter Rundschau druckte die Hedler-Rede am 12. Dezember ab. Die DP war damals im Bonner Bundestag Koalitionspartner von CDU/CSU und FDP. Der Mann wurde wegen innerparteilicher Disziplinlosigkeit aus seiner Fraktion ausgeschlossen, ein Gericht sprach ihn aus Mangel an Beweisen frei, in Revisionsverfahren wurde er verurteilt, er musste sechs Monate absitzen. Hedler wurde im März 1950 von einigen beherzten Abgeordneten der SPD aus den Räumen des Bundestages hinausgeworfen – „die schlagkräftigen Sozialdemokraten wurden daraufhin für rund eine Woche des Bundestages verwiesen“, informiert der Spiegel.

Manches ist offenbar nicht mehr so präsent. Die Nazis und deren Helfershelfer mit dem Äskulapstab im Berufsemblem haben unter der Bezeichnung Euthanasie über 100 000 Menschen umbringen lassen, weil die krank, behindert, im Sinne der NS-Ideologie nicht zu gebrauchen waren. Und wer meint, das sei ebenfalls in die Rubrik von Pony-Haus-Gegröle einzuordnen, irrt: der Anschlag in Mönchengladbach war überlegt. Statt Spontanität Kalkül. End-„lösungs“- Denken. Verachtung und Hass. Deswegen muss über solches berichtet und öffentlich geredet werden. Es muss auch daran erinnert werden, dass wir alle stolz auf die Einrichtungen der Lebenshilfe sein können.

Klaus Vater
Klaus Vater arbeitet als Kommunikationsberater und Autor. Er war stellvertretender Sprecher der Bundesregierung, zuvor Pressesprecher des Gesundheitsministeriums sowie des Arbeitsministeriums. Seinen Jugend-Kriminalroman "Sohn eines Dealers" wählte die Kinderjury des Literaturpreises "Emil" 2002 zum Kinderkrimi des Jahres.

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