Für die „Schrotter“ in Espenhain südlich von Leipzig war es ein bitterer Tag. Nach dem bisher längsten Streik der Industriegewerkschaft Metall in Sachsen verkündete Steffen Reißig, Erster Bevollmächtigter der IG Metall in Leipzig, am 13. Mai das Ende eines Arbeitskampfes in dem Schrott- und Recycling Betrieb SRW metalfloat. Seit dem 8. November 2023 streikten die rund 180 Beschäftigten für einen Tarifvertrag in ihrem Betrieb: Für acht Prozent mehr Lohn, eine Prämie von je 1500 Euro für den Urlaub und zu Weihnachten und für eine 38-Stunden-Woche. Aber die Sonne, mit der die IG Metall vor genau vierzig Jahren in Westdeutschland für die 35-Stunden-Woche und damit eine andere Verteilung von Lebens- und Arbeitszeit auf die Straße ging, ist in Espenhain untergegangen – und es wird auch in der aktuellen Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie bei Sonnenfinsternis bleiben. Christiane Benner und Nadine Boguslawski, die Erste Vorsitzende und die Tarif-Vorständin der IG Metall, informieren am 17. Juni 2024, also heute, in einer Online-Pressekonferenz über die Empfehlung für die Tarifforderungen:7 Prozent mehr Geld. “Begleitet werden sollen die Geldverhandlungen im Herbst von einer Debatte über das Thema Arbeitszeit.”
Zurück nach Espenhain. Nach einem halben Jahr Streik, einer bisher im Osten einmaligen Aktion von Aussperrung durch den Arbeitgeber und einer Urabstimmung ist das Ergebnis für die Gewerkschaft eine Niederlage der besonders harten Art: In dieser industriearmen Region im Gebiet des ehemaligen Braunkohlentagebaus steht sie mit leeren Händen vor ihren Mitgliedern. Es gibt keinen Tarifvertrag und keine Verkürzung der Arbeitszeit in diesem Betrieb, in dem in drei Schichten gearbeitet und knapp über dem Mindestlohn bezahlt wird.
Von den Beschäftigten streikte am Ende nur noch die Hälfte; der im Mutterkonzern in Essingen (Baden-Württemberg) für den Osten zuständige Betriebsrat schlug sich auf die Seite der Arbeitgeber und begnügte sich schließlich mit einer Vereinbarung über 200 Euro zusätzlich sowie einem Weihnachts- und Urlaubsgeld von jeweils 1000 Euro: SRW gehört zur Scholz-Gruppe mit über 1000 Beschäftigten, dieses Recycling-Unternehmen wiederum ist Teil des weltweiten chinesischen Schrott-Konzerns Chiho in Hongkong (200 Standorte und rund 225 000 Beschäftigte). Noch im Januar erinnerte der Gewerkschaftsvorstand in Frankfurt das Unternehmen an dessen eigene Leitlinien, in denen es heißt: „Wir kennen das Lohnniveau für existenzsichernde Löhne in den Ländern … und verpflichten uns zur Zahlung dieser.“
Frostiges am Tag des Eisheiligen
Der Gewerkschaft aber verweigerte der Konzern darüber einen Vertrag, denn ihr ginge es um „durchsichtige Manöver“ (so Daniel Fischer, der Finanzchef für Deutschland, im MDR), um ihren Einflussbereich auszudehnen. Welch eine Herablassung äußert da ein Manager für eine Organisation, die nach dem Grundgesetz für die Förderung der Arbeitsbedingungen zuständig ist. Für den Metaller Steffen Reißig waren daher diese 180 Tage ein „Kulturkampf“: „Wenn sich ein Arbeitgeber so unnachgiebig gegen Gewerkschaften, Mitbestimmung und Rechtssicherheit stellt, ist kein Weg für eine verantwortungsvolle, sozialpartnerschaftliche Lösung offen.“ Welch eine frostig-nüchterne Erkenntnis an diesem 13. Mai, dem Tag des Eisheiligen Servatius.
Die Ereignisse von Espenhain, die überregionalen Medien kaum eine Zeile oder gar einen Kommentar wert waren, und die aktuelle Absage aus Frankfurt erinnern an den anderen „Kulturkampf“, der im Mai und Juni vor vierzig Jahren eskalierte: Nach jahrelangen Diskussionen auf Gewerkschaftstagen beschlossen die Drucker und Metaller den Ausstieg aus dem Acht-Stunden-Tag und der 40-Stunden-Woche. Durch eine Umverteilung der Arbeit sollte die Sonne der IG Metall aufgehen für die damalige hohe Zahl an Arbeitslosen und die Rationalisierungsverlierer der neuen, schönen Computerwelt, die in der Druckindustrie und den Medien begonnen hatte: Gefordert wurde eine 35-Stunden-Woche, eine Verkürzung der täglichen Arbeitszeit und eine andere Gewichtung von Leben und Arbeit. Die Zeit schien reif zu sein für diese Auseinandersetzung. Und die breite Unterstützung aus Wissenschaft, Kultur und Zivilgesellschaft schien ebenso sicher zu sein: Udo Lindenberg, Joan Baez und die legendären Rodgau Monotones gaben im Januar 1984 in der völlig überfüllten Frankfurter Festhalle ein Gewerkschaftskonzert für die 35-Stunden-Woche. Doch es sollte der letzte große gesellschaftliche Konflikt in der westdeutschen Bundesrepublik sein, den die Gewerkschaften angestoßen haben.
“Absurd, dumm und töricht”
Mit der Härte und der Unnachgiebigkeit der Arbeitgeber hatten weder die IG Druck und Papier noch die IG Metall gerechnet, auch nicht mit der massiven Einmischung der Politik unter dem neuen Bundeskanzler Helmut Kohl, der durch einen Koalitionswechsel der FDP an die Macht gekommen war. „Absurd, dumm und töricht“ nannte der Kanzler die Forderungen der beiden im Gewerkschaftsspektrum der damaligen Zeit linken Gewerkschaften. Mit seinem Arbeitsminister Norbert Blüm (IG Metaller) startete er die politische Gegenoffensive: eine großzügige gesetzliche Vorruhestandsregelung mit 58 Jahren. Sie sollte den DGB spalten und tat es auch, schließlich spielte die Forderung nach einer „Tarifrente“ in Gewerkschaften wie der IG Chemie oder Textil oder Bau, aber auch selbst in der IG Metall eine zentrale Rolle.
Die Spaltung in die angeblichen Pragmatiker (vor allem um den IG Chemie-Chef Hermann Rappe), die mit der Forderung nach einem Vorruhestand näher an den Wünschen ihrer Mitglieder seien, und die Ideologen einer antikapitalistischen „Gegenmacht“ (Hans Mayr, Franz Steinkühler in der IG Metall, Erwin Ferlebach und Detlef Hensche in der IG Druck), diese Spaltung schürten nicht nur Politiker und Arbeitgebervertreter, sondern in einem kaum vorstellbaren Ausmaß die Medien und schließlich als weiterer Mitspieler die Bundesanstalt für Arbeit unter dem Christdemokraten Heinrich Franke. Am 18. Mai 1984 wies Franke in einem Erlass die Arbeitsämter an, außerhalb des umkämpften Tarifgebiets (Nordbaden/Nordwürttemberg und Hessen) indirekt Betroffenen oder „kalt Ausgesperrten“ (zum Beispiel in Zulieferbetrieben der Automobilindustrie) kein Kurzarbeitergeld zu bezahlen.
Der Erlass mit seinen weitreichenden Folgewirkungen für die gewerkschaftliche Streikfähigkeit ging in Frankfurt zunächst unter: Vom 17. bis 19. Mai streikten am Main die Drucker zum ersten Mal und verhinderten das Erscheinen der beiden Zeitungen FAZ und Frankfurter Rundschau. Nach diesem Warnstreik der Drucker begann in der hessischen Metallindustrie der unbefristete Streik der IG Metall. Um den Franke-Erlass zu umgehen, wurden eher kleine Betriebe ohne Zulieferer ausgewählt. Wochen später rief die IG Druck und Papier zum unbefristeten Streik auf: Er ging Ende Juni zu Ende, erst mit einem Abschluss der IG Metall, dann der IG Druck. Zweieinhalb Wochen lang erschienen die Frankfurter Tageszeitungen überhaupt nicht oder nur als Notausgaben. Mit spektakulären Aktionen demonstrierte die Redaktion der FAZ triumphierend die Möglichkeiten der neuen Produktionstechnik, die Drucker, Setzer und Metteure überflüssig machen sollten, und präsentierte am 21. Juni die erste voll elektronisch gemachte Zeitung. Vor dem Werkstor warfen wütende Streikposten Zeitungspakete aus den Autos und zerrissen sie.
“Entscheidungskampf oder Hängepartie”
Der Kompromiss, mit dem der ehemalige Gewerkschaftsvorsitzende der IG Bau und ehemalige Verteidigungsminister Georg Leber schließlich als Schlichter der letzten Minute diesen Konflikt beendete, brachte zwar den Einstieg in die 38,5-Stunden-Woche, aber auch den Einstieg in die betriebliche Flexibilisierung, die die Arbeitgeber von Gesamtmetall von Anbeginn in dieser Auseinandersetzung zum Ziel hatten. So fiel in den gewerkschaftlichen Gremien die Zustimmung knapp aus: Dokumentarfilme der IG Metall belegen, dass die Vorsitzenden mit fast drohender Macht für eine Annahme werben mussten.
Spätestens im November war die Euphorie des Sommers, der die Streikenden trotz der großen politischen und medialen Widerstände getragen hatte, vorbei. In den Gewerkschaftlichen Monatsheften, die es damals noch gab, zogen Hans Mayr für die Metaller und Erwin Ferlemann für die Drucker Bilanz; Hans-Jürgen Arlt aus der Pressestelle des DGB analysierte in die „Ansichten des gewöhnlichen Journalismus“ die Medienkampagne gegen die Gewerkschaften: „Wären sie den hohen Priestern der öffentlichen Meinung, den Kommentatoren in Presse, Funk und Fernsehen gefolgt, hätten sie die Verkürzung der Wochenarbeitszeit gar nicht erst auf die Tagesordnung der Tarifpolitik setzen, zumindest aber keinen Streik riskieren dürfen“. Der bayerische DGB-Mitarbeiter Gerd Elvers ergänzte die ernüchternde erste Bilanz mit Überlegungen zu „Entscheidungskampf oder Hängepartie?“. Es sind wichtige historische Dokumente geworden, die einen Einblick geben in die Erwartungen und Enttäuschungen, in die völligen Fehleinschätzungen der Politik und der Arbeitgeberseite.
Und doch haben sie einen positiven Ausblick enthalten, auch wenn darin viel Zweifel anklingt. So schreibt Hans Mayr (oder ließ schreiben): „Entscheidendes Kriterium für die IG Metall bei der Umsetzung des Tarifvertrages wird sein, daß der erwartete Beschäftigungseffekt verwirklicht und kontrolliert wird, daß die Gefahr der Leistungsverdichtung möglichst wirkungsvoll abgewehrt wird und daß ein möglichst spürbarer Gewinn an Freizeit für den einzelnen Arbeitnehmer herauskommt, der seinen Bedürfnissen entspricht.“ Mit der praktischen Umsetzung brachen in den Unternehmen für die Betriebsräte schwierige, langwierige und konfliktreiche Zeiten an, in denen häufig genug die Sonne der IG Metall untergegangen ist.
Arbeitszeitverkürzung als Grundbedingung
Dennoch: Die eigentliche gesellschaftspolitische Diskussion über die von den Gewerkschaften angestoßenen Fragen von Arbeit und Leben, von Familie und Beruf, von Technikentwicklung und Technikgestaltung begann nach dieser harten Tarifauseinandersetzung. An ihr beteiligten sich Wissenschaftler wie die Soziologen Oskar Negt und Claus Offe, Horst Kern und Michael Schumann, aber auch der französische Sozialphilosoph André Gorz oder der Theologe und Kirchentagspräsident Wolfgang Huber (mit einer fulminanten Rede auf einem IG Metall-Kongress). Claus Offe begründete die Forderung nach einem Grundgehalt als Bürgerrecht. Aber zum Kultbuch der in diesen Jahren wachsenden linken ökologischen Bewegung wurden André Gorz’ „Wege ins Paradies“ (Thesen zur Krise, Automation und Zukunft der Arbeit, 1984). Seinem Vorschlag für ein Grundeinkommen und für freiwillige gemeinnützige Tätigkeiten setzte Oskar Negt, der für weite Teile der Gewerkschaften wohl wichtigste und einflussreichste Wissenschaftler, sein Buch „Lebendige Arbeit, enteignete Zeit“ (Politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit, 1984) entgegen: Arbeitszeitverkürzung, so schrieb er, „ist die Grundbedingung für alle möglichen Erweiterungen des Betätigungsspielraums lebendiger Arbeitskraft“.
Es ginge aber nicht nur um die gerechtere Verteilung vorhandener Arbeitsplätze, sondern um „eine tiefgreifende Neuorganisation des ganzen Systems gesellschaftlicher Arbeit“ (S. 78/79). Unter feministischen Wissenschaftlerinnen mischte sich Ingrid Kurz-Scherf in die Auseinandersetzungen um Arbeitszeitverkürzung mit und ohne Lohnausgleich ein, mit und ohne Anteile für gesellschaftliche Arbeit (durch zum Beispiel eine 32-Stunden-Woche mit bezahlter Arbeit und einer dreistündigen, unbezahlten Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit). Politisch griff Oskar Lafontaine, damals Ministerpräsident im Saarland, mit seinem „Lied vom Teilen“ (Die Debatte über Arbeit und politischer Neubeginn, 1989) ein, forderte den IG Metall-Vorsitzenden Franz Steinkühler zur Streitdebatte heraus und profilierte sich auf Parteitagen seiner Sozialdemokraten mit Thesen zu längeren Maschinenlaufzeiten und einer Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich. Politisch brachten ihm diese Auftritte 1989 die Kanzlerkandidatur ein.
Diese Diskussionen, die in den Bildungsstätten, den Akademien, in Zeitungsspalten, in den politischen Parteien stattfanden, brachen Ende der 1980er Jahre durch zwei einschneidende Ereignisse jäh ab: In den Gewerkschaften überlagerte der Zusammenbruch der Neuen Heimat und die Skandale, die damit verbunden waren, sowie das abrupte Ende des gewerkschaftlichen Genossenschaftswesens (Coop, Bank für Gemeinwirtschaft, Volksfürsorge) alle Überlegungen, wie es denn nach der Tarifauseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche weitergehen sollte. Der damalige DGB-Vorsitzende Ernst Breit hatte alle Mühe, „den Laden zusammenzuhalten“.
Nur noch Traumziele?
Und der zweite Einschnitt: Der Fall der Mauer und der schnelle Beitritt der DDR nach dem Grundgesetz mit all den überstürzten, weitgehend planlosen Entscheidungen von der Treuhand bis zu den riesigen Beschäftigungsgesellschaften und immer neuen Maßnahmen für die „Gummistiefelbrigaden“ (so die Arbeitsministerin Regine Hildebrandt in Brandenburg) beendeten schlagartig alle politischen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen: Die Gewerkschaften verloren nicht nur Millionen Mitglieder, sondern kämpfen in weiten Teilen Ostdeutschlands um ihre Tariffähigkeit, wie das Beispiel in Espenhain gezeigt hat. Neue „Wege ins Paradies“ oder „Lebendige Arbeit“ scheinen Traumziele geworden zu sein.
Und dennoch: Die Erinnerung daran könnte vierzig Jahre danach wichtig sein, auch wenn die damaligen Vordenker Oskar Negt und André Gorz nicht mehr leben. Und heutige Soziologinnen und Soziologen lieber von Gender, Postkolonialismus, Inklusion, Teilhabe, Selbstbestimmung und Mitwirkung sprechen und nicht von gewerkschaftlicher Mitbestimmung oder kollektiver Tarifpolitik in Zeiten tiefgreifender Umbrüche. Von einer gesellschaftlichen „Gegenmacht“ mit einem arbeiterbewegten Pathos sind die Gewerkschaften weit entfernt, denn selbst die Arbeiterschaft und erst recht die Schicht der Angestellten sind heute in sehr unterschiedliche Milieus mit sehr unterschiedlichen Lebensentwürfen und politischen Orientierungen zerfallen.
Überraschend aber belegen jüngste Studien, dass sich fast jeder zweite 18- bis 49jährige (47 Prozent) einer „Arbeiterklasse“ zurechnet, aber nur 18 Prozent Mitglied einer Gewerkschaft sind. Dennoch halten sie 60 Prozent der Befragten in der Studie der Friedrich Ebert-Stiftung „Wieviel Klasse steckt in der Mitte?“ (FES diskurs, April 2024) für „unerlässlich“. Erwartet wird von den Organisationen, in dem globalen und ökologischen Strukturwandel tarifpolitische Lösungen auszuhandeln, die nicht nur ihren Mitgliedern die Angst vor der Zukunft und Einschnitten in ihr tägliches (Arbeits-)Leben nehmen: Ihnen geht es vor allem um mehr private Zeit, um einen sicheren Arbeitsplatz und ein angemessenes Einkommen. Eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit steht weniger im Vordergrund, schon eher die viel diskutierte 4-Tage-Woche (bei vollem Lohnausgleich): Sie befürworten im Durchschnitt 54 Prozent der Befragten, in den Dienstleistungsberufen aber 65 Prozent. Ob die Zeit reif ist für einen solchen gesellschaftlichen Aufbruch, angestoßen von einer Gewerkschaft wie verdi? Zweifel sind erlaubt. Es sei denn, es gelänge, die bezahlte „lebendige Arbeit“ an vier Tagen mit (unbezahlter) gesellschaftlicher Arbeit zu verknüpfen. „Wege ins Paradies“ öffneten sich so nicht, aber vielleicht Wege in eine solidarischere Gesellschaft. Ob das eine Vision für Gewerkschaften wäre?