Russland sei bereit zu „Friedensverhandlungen auf dem Boden der Realität“ lässt Vladimir Putin verkünden, um dann sogleich realitätsferne Maximalziele zu nennen. Der Westen und die Ukraine haben Putins Forderung nach weiteren Gebietsabtretungen, Regimewechsel in Kiew, Demilitarisierung, Aufhebung der Sanktionen und Ausschluss einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft unmittelbar zurückgewiesen. Putins Maximalforderungen sind nicht nur völkerrechtswidrig und kompromisslos, sie haben nichts mit der Realität zu tun. Was ist die Realität am Boden?
- 1. Die Ukraine ist inzwischen ein enger Partner der NATO. Um es klar auszusprechen: sie ist ein de facto Mitglied.
- 2. Über die Regierung in der Ukraine bestimmt das ukrainische Volk. Putin hat in der Realität keine Möglichkeit zu beeinflussen oder gar zu entscheiden, wer in Kiew regiert.
- 3. Russland hat keine Möglichkeiten den Westen zur Aufhebung der Sanktionen zu zwingen und hat keinen Zugriff auf 300 Milliarden russisches Auslandsvermögen. Die Vermögenswerte sind in den Händen des Westen. Sie sind für Russland verloren. Ausgehend von dieser Realität stehen diese Mittel für den Wiederaufbau der Ukraine zur Verfügung.
- 4. Russland hält einen Teil der Ukraine besetzt, aber keineswegs das gesamte Territorium jener vier Oblaste, die es auf dem Papier annektiert hat.
Ein Waffenstillstand auf der Grundlage der Realität würde also einerseits bedeuten: Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, demokratische Wahlen in der Ukraine und Verwendung der russischen 300 Milliarden für den Wiederaufbau und Fortbestand der Sanktionen solange Russland keinen Friedensvertrag mit der Ukraine unterzeichnet. Andererseits würde Russland weiterhin völkerrechtwidrig die eroberten und von russischen Bomben schwer verwüsteten Teile im Osten der Ukraine besetzt halten. Was die Russen zerbombt haben, müssten sie dort selbst wiederaufbauen. Wie viele Ukrainer und Ukrainerinnen allerdings dann dort unter russischer Besatzung noch leben wollen oder sich lieber in die freie Ukraine aufmachen, ist eine offene Frage.
Siegen durch friedlichen Wiederaufbau
Die Ukraine kann den Krieg gegen Russland nicht gewinnen, aber sie hat alle Chancen, sobald die Waffen schweigen, im Frieden zu siegen. Das von Putin in 25 Jahren herabgewirtschaftete Russland hat sich als unfähig erwiesen, seinen Bürgern ein gutes Leben zu ermöglichen und das Land zu entwickeln. Der Krieg mag das Putinregime stabilisieren, aber im Frieden wird seine Unzulänglichkeit zur Unzufriedenheit führen. Eine sich mit westlicher Hilfe erholende und entwickelnde Ukraine hat dagegen das Potential, ein überzeugendes demokratisches Gegenmodell zu werden: vergleichbar der Überlegenheit Westdeutschlands gegenüber der DDR oder Südkoreas gegenüber dem Norden. Im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wettkampf mit der russischen Klepto-Diktatur kann die Ukraine siegen, wenn es ihr gelingt, der eigenen Korruption Herr zu werden, und der Westen bereit ist, eine industriepolitische Wiederaufbaustrategie der ukrainischen Volkswirtschaft zu unterstützen.
Selenskyjs Zehn-Punkte-Friedensplan ist moralisch unbestreitbar gerechtfertigt, aber nicht realitätstüchtiger als Putins Vorstellungen. Im Gegensatz zur zunehmend illusionären Lösung durch jahrelangen Krieg die vollständige Befreiung des ukrainischen Territoriums erreichen zu wollen, wäre ein Waffenstillstand auf der Basis der oben genannten Realitäten nicht nur ein Weg, das tausendfache Sterben zu beenden und die militärische Eskalationsgefahr zu stoppen, sondern auch die beste Chance durch den friedlichen Wiederaufbau letztendlich zu siegen.
Bleibt die Frage, wie kann es gelingen, Putin auf den Boden der Realität zu bringen. Eine klare Antwort darauf hat niemand, aber anders als auf dem Bürgenstock könnte wohl kaum eine Regierung dieser Welt einem solch weitreichendem Friedenszugeständnis der Ukraine die Unterstützung versagen. Eine Bereitschaft der Ukraine, den Landraub zwar in keiner Weise anzuerkennen, aber auf das Ziel der militärischen Rückeroberung zu verzichten, hätte das Potential, Russland international zu isolieren. China, Indien und andere, die sich bisher in dem Konflikt prorussisch oder neutral verhalten haben, wären gefordert, auf Russland einzuwirken, das Schießen einzustellen. Parallel zu einem solchen Vorschlag müsste Putin signalisiert werden, dass Russland sich im Falle der Ablehnung auf eine noch weitergehende, massivere und entschlossenere militärische Unterstützung der Ukraine einstellen muss.
Es besteht zweifellos die Gefahr, dass Putin sich in seiner aggressiven Außenpolitik bestärkt fühlt, wenn er einen beträchtlichen Teil der Ukraine unter seiner Gewalt behält, aber genauso besteht die Gefahr, dass ein aus den besetzen Gebieten militärisch vertriebenes Russland mit aller Kraft an einer Revanche arbeiten wird. So wie im Frieden von Versailles ein deutscher Revanchekrieg bereits angelegt war.
Wenn es einer kann, dann er
Es gibt wenig Grund, bei einem Waffenstillstand Putin zu vertrauen, und Putin wird fürchten, dass ein Waffenstillstand der Ukraine die Atempause verschafft, mit Hilfe westlicher Aufrüstung eine Rückeroberung der geraubten Gebiete zu versuchen. Gegenseitige Abschreckung und defensive Aufrüstung scheinen in einer ersten Phase unweigerlich geboten, damit die sich Misstrauenden den fragilen Waffenstillstand nicht zu brechen wagen und ein weiteres Vorrücken Russlands ausgeschlossen ist. Von da ist es ein langer Weg, um irgendwann wieder zu einer Annäherung zu kommen. Ob, wie und wann dies möglich sein kann, ist heute nicht nur Spekulation, sondern angesichts der Realitäten am Boden völlig verfrüht. Doch dass solche Wege gefunden werden können, zeigen historische Beispiele von der französisch-deutschen Aussöhnung, über das friedliche Ende des Apartheidregimes bis hin zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Vietnam und den USA.
Darf man einen solchen Vorschlag machen, der den Landraub des Diktators im Kreml als momentan nicht zu änderndes Unrecht hinnimmt? Diejenigen, die dazu empört „nein“ sagen, müssen glauben, dass der Krieg militärisch gewonnen werden kann bzw. zumindest die Ukraine ihre Position auf dem Schlachtfeld wesentlich verbessern kann, und sie müssen das Risiko einer sich immer weiterdrehenden Eskalationsspirale geringschätzen. Ich teile den Optimismus nicht, noch möchte ich mich auf Putins Vernunft verlassen müssen, dass er, auch wenn er am Verlieren ist, auf eine Eskalationen bis zur Nuklearoption verzichtet.
Kann der ukrainische Präsident nach all den Opfern einer solchen Vorschlag aussprechen, ohne dass Vertrauen seines Volkes und insbesondere der kämpfenden Männer und Frauen zu verlieren? Wenn es einer kann, dann er.
NUR DER FRIEDE IST DER LOHN DES KRIEGES
Lieber Frank,
in vielem stimme ich dir soweit zu, in manchem aber auch nicht.
Die Frage ist für mich, könnten beide Seiten aufgrund von einsichtiger Vernunft miteinander in einen Dialog treten oder könnte es dazu erst kommen, wenn gewisse Bedinungen sie dazu jeweils erst zwingen?
Ersteres halte ich derzeit für relativ unwahrscheinlich. Letzteres könnte bedeuten, dass sich das Krieg führen noch jahrelang so fortsetzen könnte, ein Schritt vor, zwei zurück, oder zwei Schritte vor, einer zurück. Solange der Waffen- und “Menschennachschub” funktioniert und anhält.
Putin machte sich völlig unglaubwürdig, wenn er jetzt in einen Verhandlungsmodus übergehen würde. Hunderttausende sind für seinen ideologischen Ukraine-Großmachtwahn gestorben, Milliarden Rubel wären für Rüstung, Kriegssold und Kriegswirtschaft verschleudert worden. Wofür?
Gibt es einen wirtschaftlichen Nutzen für Moskau in der Ost-Ukraine, was Russland nicht auch hätte?
Fakt ist: Beide Seiten können nicht “aufgeben”, ohne ihr Gescht zu verlieren.
Beide können auch nicht “gewinnen”. Russland ist Atommacht, die Ukraine faktisch
von Eskalation zu Eskalation immer mehr ein Quasi-Natomitglied. Daraus folgert ein gewisses Patt.
Die Geschichte von Anfang und Ende von Kriegen (jeder Krieg ist im Grunde ein Fünf-Krieg: militärisch, politisch, wirtschaftlich, psychologisch, ideologisch) zeigt, dass sie meist aus ideologischen und (geo-) strategischen Gründen begonnen werden und diese ihr Gewicht verlieren, je weniger sich dabei gesetzte Ziele als “realistisch” und tragfähig (durchführbar) erweisen (Erschöpfung, Abnutzung, Delegitimierung). Der Russland-Ukraine-Krieg ist ein klassischer Krieg eines Aggressors gegen einen Angegriffenen, der das (Völker-)Recht für sich hat, sich zu verteidigen – in dem Fall militärisch mit Untertsützern an der Seite.
Gleichzeitig trägt sich darüber ein scharfer neuer Ost-West-Interssengegensatz aus. D. h. man kann der Ukraine schlecht ein pazifistisches Rezept verschreiben, weil es Sache der Ukraine ist, wie sie sich verhält und wofür sich Kiew entscheidet.
Gleichwohl bleibe ich bei einer pazifistischen, Konflike gewaltfrei bearbeitenden Sichtweise des zugrunde liegenden Konflikts und bin für verhandeln, verhandeln und nochmal verhandeln (UNO u. a., ggfs. G7, BRICS) und Schweigen der Waffen. Letztlich geht es um die Rückkehr zum rechtlichen Status quo ante. Wie? Das ist der gordische Knoten.
Manchmal müssen in so einem Fall erst Jahre und Jahrzehnte mit viel Blut und Opfern vergehen, bis Vernunft heranreift.
Die Rolle der USA im Gaza-Krieg zeigt, dass gewisse Schitte möglich sein können…
D. h. es ist nach den Interessen zu fragen (siehe K. v. Dohnanyi: Nationale Interessen). Zwei Quellen halte ich für sehr wesentlich zum Verständnis:
Michail Gorbatschow: Das neue Russland. Der Umbruch und das System Putin (2015) und
Serhii PlokHy: Die Frontlinie. Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde (2022). Plokhy ist ukrainisch-amarikanischer Historiker und trägt darin die Sicht und Interessenlage der Ukraine vor.
So viel vielleicht ein paar Gedanken meinerseits, eines Kriegsdienstverweigerers unbeirrt seit 1971 dazu.
Besten herzlichen Gruß, Elmar Klink, Bremen 7.7.2024