Aufrüstung macht Reiche reicher und Arme zahlreicher

Die Linke stellt ihren Kandidaten Christoph Butterwegge (Mitte) für die Bundespräsidentenwahl 2017 vor. (Foto: © Uwe Steinert auf wikimedia commons)

Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler und einst Präsidentschaftskandidat der Linkspartei, hat aktuell zwei Bücher publiziert unter den Titeln „Deutschland im Krisenmodus“ sowie „Umverteilung des Reichtums“. Thomas Gesterkamp sprach mit ihm über die „sozialpolitische Zeitenwende“, vor der Butterwegge warnt. Das Interview wurde vor der Einigung der Ampelkoalition auf Eckpunkte des Bundeshaushalts 2025 geführt.

Thomas Gesterkamp: Herr Butterwegge, Sie warnen vor einer „sozialpolitischen Zeitenwende“. Was ist damit gemeint?

Christoph Butterwegge: Falls die Bundesregierung den Rüstungshaushalt so drastisch anhebt, wie es sich abzeichnet, bleibt der Sozialstaat, wie wir ihn kennen, auf der Strecke. Die Auseinandersetzungen um die Kindergrundsicherung können als Vorboten gelten. Für das „Sondervermögen Bundeswehr“ waren über Nacht 100 Milliarden Euro auf Pump verfügbar, für die Bekämpfung der auf einen historischen Höchststand gestiegenen Kinderarmut sind vielleicht nicht einmal jene 2,4 Milliarden Euro jährliche Mehrkosten da, die die Ampel nach monatelangem Streit dafür eingeplant hatte. Obwohl dieses sozialpolitische Renommierprojekt der Koalition zu einer Reformruine geschrumpft ist, steht es auf der Kippe und hat die höchste Hürde, die Unionsmehrheit im Bundesrat, noch vor sich.

Was nützen uns neue Radwege, wenn wir uns nicht verteidigen können, spitzt SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius zu.

Christoph Butterwegge: Man erzeugt eine Vorkriegsstimmung und tut so, als könnte die russische Armee, deren Verluste in der Ukraine dramatisch sind, nach einer kurzen Verschnaufpause vor Berlin stehen. Dieses Bedrohungsszenario ist absurd. Der US-Rüstungshaushalt ist nach SIPRI-Angaben mehr als zehn Mal so hoch wie der russische, allein die Militärausgaben der europäischen NATO-Staaten übersteigen bereits den russischen Gesamtetat. Völlig unsinnig ist es, die geplante Aufrüstung am Wachstum der Wirtschaft, also an der Höhe des Bruttoinlandsprodukts festzumachen, wie es die NATO mit ihrem Zwei-Prozent-Ziel tut.

Die Glaubwürdigkeit des Boris Pistorius

Warum ist ein Minister laut Umfragen beliebtester Politiker, der die Wehrpflicht wieder einführen will? Der das größte Aufrüstungsprogramm seit Gründung der Bundeswehr verantwortet und die Deutschen wieder „kriegstüchtig“ machen will?

Christoph Butterwegge: Boris Pistorius ist ein rechter Sozialdemokrat und ein militärischer Hardliner, gibt sich aber volkstümlich und bodenständig. Was man Politikern unterstellt, dass sie abgehoben, elitär und arrogant seien, gilt für ihn nicht. Glaubwürdigkeit ist ein hohes Gut für Regierungsmitglieder, Pistorius vermittelt den Eindruck, ein Mensch wie du und ich zu sein. Außerdem deckt sich die von ihm gepredigte Abschreckungslogik, obwohl intellektuell eher schlicht, mit Alltagserfahrungen: Wenn mich jemand bedroht, schaffe ich mir einen Knüppel an. Besorgt er sich daraufhin einen größeren Knüppel, hole ich mir einen noch größeren. Diese Doktrin zu Ende gedacht. führt zwangsläufig zum Wettrüsten und zu größerer Kriegsgefahr.

In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich noch einmal mit der Corona-Krise. Im „Großen und Ganzen“ seien die „Schutzmaßnahmen“ notwendig gewesen, schreiben Sie. Kann man erst applaudieren und später „soziale Verwerfungen“ anprangern?

Christoph Butterwegge: Applaudiert habe ich nie. Dass die politisch Verantwortlichen, die in einer auch für sie ungewohnten Situation voller Ungewissheit handeln mussten, schwere Fehler gemacht haben, ist bekannt. Mir geht es darum, wie sich Finanzhilfen und „Rettungsschirme“ ausgewirkt haben. Besonders kapitalkräftige Kreise sind privilegiert und materiell schlechtergestellte Bevölkerungsschichten diskriminiert worden. So legte die Bundesregierung schon kurz nach Beginn der Pandemie den Wirtschaftsstabilisierungsfonds mit einem Volumen von 600 Milliarden Euro auf. Dieser stellte dem österreichischen Multimilliardär René Benko 680 Millionen Euro für die Sanierung von Galeria Karstadt Kaufhof zur Verfügung, während Hartz-IV-Bezieher:innen erst 14 Monate später mit einer Einmalzahlung von 150 Euro abgefunden wurden. Und das, obwohl sie Mehrkosten für Desinfektionsmittel, Schutzmasken und Tests hatten und auch die ersten Preissteigerungen im Nahrungsmittel- und Energiebereich schultern mussten.

Geschlossene Schulen und Spielplätze, „Verweilverbote“ für Jugendliche im öffentlichen Raum: Denken Sie als jemand, der sich viel mit Kinderarmut beschäftigt, heute anders darüber?

Christoph Butterwegge: Die ausgedehnten Kita- und Schulschließungen habe ich nie befürwortet. Kinder und Jugendliche mussten ausbaden, was dort an Vorsorge versäumt wurde. Nie zeigten sich die Unterfinanzierung, die Ausstattungsmängel und die Personalnot dieser Einrichtungen deutlicher als während der Pandemie. Das habe ich auch beim eigenen Nachwuchs beobachtet: Mein Sohn verlor in der Kita seine beste Freundin, die wegen einer Vorerkrankung aus der Gruppe genommen und regelrecht aus seinem Alltag gerissen wurde. Sein Lieblingsspielplatz war plötzlich abgesperrt, kein Nachbarskind kam ihn mehr besuchen. Angst-, Ess- und Schlafstörungen hatten viele Kinder, erst recht solche, die es wegen beengter Wohnverhältnisse, fehlender digitaler Endgeräte und finanzieller Sorgen der Eltern erheblich schwerer hatten als meine beiden.

Hätte man die Corona-Politik mehr von links kritisieren müssen?

Christoph Butterwegge: Bei den Gemeinschaftsappellen und dem Applaus für die „systemrelevanten“ Berufe war sicher viel Heuchelei im Spiel. Ich widerspreche aber der Gleichsetzung von Infektionsschutzmaßnahmen und der derzeitigen Aufrüstungspolitik. Pointiert ausgedrückt: In der Pandemie habe ich damals eine reale Gefahr für Leib und Leben der hiesigen Bevölkerung gesehen, in Wladimir Putin und der russischen Armee heute nicht. Politisch ausgenutzt wurden Pandemie und Krieg jedoch in beiden Fällen, denn Krisen erweisen sich nun mal als ideal für Wirtschaftslobbyisten und Rechtspopulisten, weil sie nie leichter Ängste schüren und die Sorgen vieler Menschen instrumentalisieren können.

Die Sozialdemagogie des Friedrich Merz

Geflüchtete aus der Ukraine werden anders behandelt als solche aus Afrika oder Asien: sofortige Arbeitserlaubnis, keine Kontrolle ausländischer Konten, keine Abschiebungen. Zweierlei Maß?

Christoph Butterwegge: Dass Deutschland eine Million ukrainische Kriegsflüchtlinge aufgenommen hat, geboten die humanitäre Verpflichtung aufgrund des NS-Völkermordes, das verfassungsmäßige Grundrecht auf Asyl und die Genfer Flüchtlingskonvention. Aber dass ihnen die Regierung einen direkten Zugang zum Arbeitsmarkt und in die sozialen Sicherungssysteme gewährt, den sie anderen, häufig ebenso schutzbedürftigen Asylsuchenden verweigert, ist eine durch nichts zu rechtfertigende Ungleichbehandlung. Unsäglich war allerdings auch die Behauptung des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, dass „eine größere Zahl“ ukrainischer Geflüchteter „Sozialtourismus“ betrieben, indem sie zwischen ihrer Heimat und Deutschland hin- und herpendelten, um Transferleistungen abzugreifen. Damit schürte Merz rassistische Ressentiments.

Sie warnen aber auch davor, dass der soziale Frieden in Deutschland durch die Politik der Ampel gefährdet sei.

Christoph Butterwegge: Der soziale Frieden ist gefährdet, wenn wegen des größten Rüstungsprogramms seit 1945 die finanziellen Mittel für wichtige Aufgaben des Staates fehlen. Das Geld wird dringend benötigt, um drängende Probleme zu lösen, so haben sich etwa die Verelendungstendenzen im Obdachlosenmilieu während der jüngsten Krisenkaskade verschärft. Zwar hat Scholz auf dem SPD-Parteitag im Dezember 2023 unter lautem Beifall der Delegierten versprochen, dass es keinen Abbau des Sozialstaates geben werde. Gleichwohl folgt der außen-, energie- und militärpolitischen Zeitenwende, die er zu Beginn des Ukraine-Krieges ausgerufen hat, jetzt mit Verzögerung eine wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Zeitenwende.

Alle Bundesministerien sollen sparen, die Verteidigung nicht.

Christoph Butterwegge: Aufrüstung macht die Reichen reicher und die Armen zahlreicher. Das soziale Klima wird rauer, die sich vertiefende Kluft zu schließen, wäre Aufgabe der Regierung. Um mehr für Rüstung ausgeben zu können, kürzt sie jedoch beim Wohlfahrtsstaat, in der Arbeitsmarktpolitik und bei der Bildung, also auf den für sozial Benachteiligte zentralen Politikfeldern. „Rüstungs- oder Sozialstaat?“ lautet die Alternative, vor der wir heute stehen. Durch die exorbitant steigenden Militärausgaben spitzen sich die Verteilungskonflikte zu.

Wie könnte Gegenwehr organisiert werden?

Christoph Butterwegge: Die soziale Frage muss mit der Friedensfrage verbunden, der außerparlamentarische Druck durch gemeinsame Aktionen von Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Globalisierungskritiker:innen sowie Klima- und Friedensbewegung erhöht werden. Die Zahl derjenigen, die „den Gürtel enger schnallen“ müssen, dürfte gewaltig ansteigen. Die Einbußen treffen Millionen Menschen über die Transferleistungsbezieher:innen hinaus. Arme versetzt das in einen Ausnahmezustand, und auch die Mittelschicht gerät unter Druck.

Unter dem Titel „Das soziale Klima wird rauer“ erschien das Interview zuerst im Freitag.

Thomas Gesterkamp
Dr. Thomas Gesterkamp ist Politikwissenschaftler, Journalist und Buchautor. Einen Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die Geschlechter- und Männerpolitik, zudem berichtet er über wirtschafts-, sozial-, bildungs- und kulturpolitische Themen. Er schrieb fünf Sachbücher und veröffentlichte rund 4000 Beiträge im Hörfunk, in Tages- und Wochenzeitungen sowie in Sammelbänden und Fachzeitschriften. Website: https://thomasgesterkamp.com/

1 Kommentar

  1. Wer Christoph Butterwegges Antworten auf Thomas Gesterkamps Fragen aufmerksam nachliest, der hört förmlich den neunzehn-achtundzwanziger Protestgesang der SPD in der Opposition: Kinderspeisung statt Panzerkreuzer. Die Zeiten haben sich jedoch geändert – ja, fundamental geändert. Ich will dies an einem Beispiel demonstrieren: Auf dem „Tag der Industrie“ kürzlich in Berlin hat die erste Vorsitzende der Industriegewerkschaft Metall, Christiane Benner anlässlich einer Diskussion ausgebreitet, um was es in der mit der Ökonomie eng verbundenen Sozial- und Gesellschaftspolitik/Mitbestimmung heute geht: Um den Erhalt und die Sicherung wettbewerbsfähiger Betriebe durch hohe Produktivität von mehr und fortwährend besser ausgebildeten Beschäftigten. Wenn hier weniger fachlich hoch qualifizierte Arbeit benötigt werde, müsse die Transformation in Betriebe dort organisiert werden, die mehr bräuchten. Was heute bereits in Einzelfällen geschehe. Auf derselben Tagung hat der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz gefordert, die Sozialpolitik als eine Art Unterabteilung der Wirtschaftspolitik zuzuordnen, was zwischen 2002 und 2005 mit der Arbeitsmarktpolitik bereits praktiziert worden war. Zum Toben hat Merz die Arbeitgeber nicht gebracht. Der Professor Emeritus Butterwegge baut aber genau wie Merz alte „Frontstellungen“ wieder auf. „Falls die Bundesregierung den Rüstungshaushalt so drastisch anhebt, wie es sich abzeichnet, bleibt der Sozialstaat, wie wir ihn kennen, auf der Strecke“, behauptete er. „Für das „Sondervermögen Bundeswehr“ waren über Nacht 100 Milliarden Euro auf Pump verfügbar, für die Bekämpfung der auf einen historischen Höchststand gestiegenen Kinderarmut sind vielleicht nicht einmal jene 2,4 Milliarden Euro jährliche Mehrkosten…“. Es interessiert den Armutsforscher offenkundig nicht, dass ein demokratisches Land mit seiner Bevölkerung unter das Joch Putins käme, wenn ihm militärisch nicht mit viel Geld und Ausrüstung geholfen werde. Putin stellt für Butterwegge ja auch keine reale Bedrohung dar. Merz und Butterwegge laufen beide unter einem etwas veränderten Slogan von Erich, dem Dachdecker: Vorwärts- muss nicht sein. Rückwärts – aber gern!

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