#1 Seit über einem Jahr stellt jeder Monat einen weltweiten Temperaturrekord auf; so war es auch im Juni. Ein Experte vom Copernicus-Klimawandeldienst wird hier mit den Worten zitiert, »das ist mehr als nur eine Seltsamkeit der Statistik«. Und es hat Folgen, eine eher drollige ist, dass die Tage länger werden. Das lässt sich aushalten, was man von Hitzewellen immer weniger sagen kann. Joachim Müller-Jung hat hier neue Studien dazu vorgestellt, was die Erhitzung für die Ernährungsbasis bedeutet – sie wird verheizt. Bei dem derzeit als realistisch geltenden »mittleren« Klimaszenario würde die globale Produktion der dreißig wichtigsten Agrarprodukte – gemessen am Jahr 2020 – bis 2050 um sechs Prozent weltweit sinken. Das hieße für rund 500 Millionen Menschen zusätzlich: bisher nicht gekannte Unsicherheiten in der Nahrungsversorgung.
Und in der Studie sind Risiken wie Überflutungen als Faktor noch nicht einmal mit modelliert. Trockenheit, Schädlinge und Wetterkapriolen setzen den Agrarfrüchten immer stärker zu, was auch auf deren Preis Auswirkungen hat. Alina Schäfer hat das hier unter anderem am Weizen und Kakao durchdekliniert. Und: »Der Klimawandel wird zum Inflationstreiber. Bis zu 3,2 Prozent könnten die Preise für Lebensmittel bis 2050 jährlich steigen – allein aufgrund von Wetterextremen.« Auch die FT hat die zugrundeliegende Studie aufgegriffen und denkt darüber nach, was das für die Politik der Zentralbanken bedeutet. Über den routinierten Tellerrand hinaus nimmt sich Isabella Weber mit anderen der Frage an – und plädiert für den Aufbau von nationalen, regionalen und globalen öffentlichen Nahrungsmittelspeichern, die zur Preisstabilisierung auf den globalen Agrarmärkten und zur Begrenzung der Inflation beitragen könnten. Unter anderem der »Spiegel« hat darüber berichtet. Weitere Fakten zu Klimakrise und Ernährung finden sich unter anderem hier und hier.
„Romantischer Konsumismus“ als Bremsklotz
#2 Ideen wie diese Nahrungsmittelspeicher sind etwas, das dem Plädoyer zum Beispiel Jens Beckerts entsprechen würde, sich mindestens so engagiert um Anpassung und den Aufbau von Resilienzressourcen zu kümmern, wie um die Verhinderung einer Eskalation der biophysikalischen Krise. Man wird schwerlich sagen wollen, dass an beiden Fronten ausreichend schnell vorangekommen wird. Beckert hat seine Grundüberlegungen jetzt noch einmal hier zusammengefasst. Er rät dazu, »sozialen Ausgleich voranzustellen, eine urbane Lebensstilüberheblichkeit zu vermeiden, für den Ausbau kollektiver Infrastrukturen zum Schutz der Bevölkerung vor den Folgen des Klimawandels zu werben und die lokale Beteiligung der Bürger zu stärken«. Der Seitenhieb auf die »Lebensstilüberheblichkeit« gehört inzwischen zum »guten Ton« der klimapolitischen Debatte, und es mag ja etwas daran sein. Solange aber die individuelle Konsum-Dimension ängstlich umschlichen wird, wird man auch zu einer »realistischen Klimapolitik« (Beckert) nicht kommen. Denn so richtig es ja ist, strukturelle Ursachen anzugehen, nach der gesellschaftlichen Ermöglichung von Lebensweisen innerhalb planetarer Grenzen zu fragen und zunächst einmal klimapolitische Ungleichheitsdimension zu beackern – aber wir werden alle eben auch über das Weniger sprechen müssen.
»Einkommensstarke Haushalte verursachen mehr Treibhausgasemissionen«, berichtete unlängst das DIW und sorgte damit überall für wohlfeiles Nicken. Durch die verteilungspolitische Brille betrachtet ging eine Pointe der Datenaufbereitung etwas unter: In allen Einkommensdezilen hierzulande liegen die derzeitigen Werte »deutlich über den maximal ein bis drei Tonnen pro Person und Jahr, die je nach Berechnung, von Klimaexpert:innen und dem Umweltbundesamt als klimaverträglich eingestuft werden«. Selbst im einkommensärmsten Dezil überschreitet der durchschnittliche Fußabdruck die planetare Grenze um bis zu über 4 Tonnen CO2-Äquivalenten im Jahr. Auch hier gilt: Klar, soziale Position ist mit Freiheitsoptionen verbunden, sich »planetar verhalten« zu können oder eben nicht. Nur: Ohne eine Debatte über das, was Philipp Lepenies gerade »Douce Consommation« genannt hat, wird man das Brett nicht bohren können. Uwe Krüger und Juliane Pfeiffer haben schon vor ein paar Jahren »romantischen Konsumismus« als einen der ideologischen Bremsklötze einer »Großen Transformation« kritisiert. Lepenies rückt diese Debatte in die politisch bewirtschafteten Aufgeregtheiten dieser Tage ein:
Unsere Zeit ist die einer Ich-Zentrierung, des Glaubens daran, Konsumentscheidungen ohne jede Form der Rechtfertigung und Einschränkung immer und überall treffen zu dürfen. Es ist auch die Zeit der maximalen Empörung, sobald sich Eingriffe in dieser Konsumentscheidung abzeichnen. Diese Empörung verhindert notwendige Debatten über überfällige Transformationsschritte im Lichte des Klimawandels. Die Veränderung unseres Konsumverhaltens ist dabei nur ein Baustein. Es ist aber auch der Bereich, der den stärksten und emotionalsten Widerstand hervorruft. Mit der rhetorischen Keule der Verbotspolitik wird jede Sachdebatte im Keim erstickt.
Erhalt und Pflege des eigenen Wohlbefindens
#3 Lepenies meint, »es wäre ein guter erster Schritt, Debatten über notwendige Nachhaltigkeitstransformationen, die auch Konsumeinschränkungen bedeuten können, zuzulassen und nicht sofort als vermeintlich ideologisierte Freiheitsberaubung abzuschmettern oder auf einer teilweise doch recht kleinkindlichen ›Ich will, ich darf und mir kann keiner‹-Haltung zu bestehen.« Diese solle man nennen, was sie ist: Dezivilisierung. Dass solche Haltungen heute starke Verbreitung haben, ist aber auch Ergebnis einer falschen Zurückhaltung durch die Politik und einer Deformation dessen, was als Politik angesehen wird. Letzteres hat Emanuel Richter so formuliert: »Kaum jemand bringt mehr ein klares Verständnis darüber zum Ausdruck, was Politik eigentlich ist, was sie leisten kann und wie sie ihre Aufgaben bewerkstelligen soll… Nachdrücklicher denn je muss die einfache Zielbestimmung verdeutlicht werden, dass Politik der Lebensbewältigung in einer Gruppe von Menschen dient, die ihr Zusammenleben zustande bringen müssen. Politik verweist darauf, dass wir alle, in unterschiedlicher Reichweite und Tiefe, in einen wechselseitigen Bezug aufeinander eingewoben sind und damit gemeinschaftliche Lösungen für die Herausforderungen und Probleme dieses Miteinanders hervorzubringen haben… Politik erlangt für jeden von uns Bedeutsamkeit und fordert dazu auf, sich der eigenen Einbindung in die kollektiven Problemzusammenhänge und Lösungsansätze bewusst zu werden.«
Stattdessen aber erschöpfe sich die Wahrnehmung des politischen Geschehens meist »in der Taxierung, was dieses für die persönliche Lebensgestaltung bedeutet. An die Stelle eines ausgeprägten Bewusstseins über die gemeinsamen Belange tritt der selbsteingenommene Rückschluss von den Auswirkungen politischer Regulierung auf den Erhalt und die Pflege des eigenen Wohlbefindens.« Darauf hat »die Politik« im Rahmen eines ängstlichen, dem medialen Dauerfeuer der Verbotsvorwürfe ausweichenden Rückzugs reagiert: Lieber nicht drüber reden, lieber mit einer Bratwurst ablichten lassen! Oliver Georgi hat die »egozentrische Gesellschaft« als eine beschrieben, in der der Staat »möglichst schmerzlos multiple Krisen bewältigen, epochale Umbrüche organisieren, die Bevölkerung vor Kriegen schützen und dabei maximale individuelle Freiheit gewährleisten, sich aber davor hüten« solle, »im Gegenzug Ansprüche oder Zumutungen zu formulieren«. Müssen wir uns darauf einstellen, dass staatlicher Zwang im Interesse des Gemeinwohls künftig zunimmt?, wird hier auch gleich der Rechtsphilosoph Christoph Möllers gefragt. Seine Antwort:
Das sind die Fragen, für deren Aushandlung man die Demokratie erfunden hat… Alles tut uns mehr weh, als es vielleicht vorherigen Generationen wehgetan hätte. Aber wir haben Probleme, die man nicht einfach durch guten Willen oder individuelle Handlungsorientierung lösen kann. Man soll Verbote nicht schönreden, aber sie vermitteln eben, wo die Grenzen der Gemeinwohlverträglichkeit liegen. Die Klimakrise schafft jedoch eine völlig neue Qualität des Problems: Wenn alltägliches legales Handeln klimaschädliches CO2 produziert, gefährdet das den Kern des liberalen Konstitutionalismus, der voraussetzt, dass es einen weiten Bereich geben muss, in dem man bedenkenlos handeln kann, ohne andere zu schädigen.
Was müssten wir?
#4 Damit wären ein paar Punkte skizziert, um die sich die derzeit meist noch im Stadium der Selbstaufforderung befindlichen Debatte dreht, in der es um eine positive Möglichkeit, um eine machbare alternative Zukunft gehen soll. »Wer Menschen zum Handeln anregen möchte, braucht keine Dogmen und keine Utopien, aber doch eine hoffnungsvolle Erzählung und einen zu gestaltenden Möglichkeitsraum«, so hat das jetzt Christoph David Piorkowski formuliert. Oder nehmen wir Georg Diez, der gerade auch noch einmal ein ausführliches »Wir müssten doch jetzt mal…« vorgelegt hat. Was müssten wir? Es bleibe »die Aufgabe der Linken«, inhaltlich Antworten »zu finden, auf ein Vakuum zu reagieren, das auch ein Vakuum der Ideen ist, der Geschichten, der Bilder und Selbstbilder.« Wie wäre es damit: »Wir wollen weder ein Armutsideal noch eine Rückkehr zu archaischen Lebensformen vorschlagen, sondern eine neue Art und Weise, auf die Bedürfnisse des Einzelnen und der Gemeinschaft einzugehen, wobei wir jede Form der Verzerrung des Konsums und der Vergeudung von Ressourcen bekämpfen«, so heiß es 1977 im »Kommunistischen Vorschlag« des PCI – der damit eine Debatte über »linke Austerität« anstoßen wollte. Ok, den Begriff mögen wir heute nicht mehr. Aber in den Diskussionen, wie sie nun etwa in der endkriselnden Linkspartei geführt werden, ist von vielem die Rede, nur selten aber von den zentralen Punkten jener »Politischen Physik«, die heute neben die Politische Ökonomie gestellt gehört: also von Ideen für eine andere Welt, in der es, wie Markus Metz und Georg Seeßlen bei Gramsci gelesen haben, nicht ums Wachsen, sondern ums Werden geht.
#5 Mit »Neue Zukunft« ist ein Online-Magazin über die Klimabewegung in Österreich, der Schweiz und Deutschland gestartet. Wie geht es mit der Szene weiter? Das ist die Leitfrage der ersten Sendung – und zu der geht es hier.
Der Beitrag erschien zuerst als Klimanotizen 53 auf linksdings.