Pragmatische Kommunen, panische Debatten

Boris Kühn ist wissenschaftlicher Leiter des Projekts GENIUS in der Forschungsgruppe Migrationspolitik an der Universität Hildesheim. Gemeinsam mit dem Mediendienst Integration hat er knapp 800 Kommunen zum Stand der Flüchtlingsaufnahme befragt. Zu den Befunden gehört, dass der Anteil an Kommunen, die sich bei der Unterbringung von Migrant:innen überfordert sehen, “im Osten deutlich geringer ist als im Westen. Wir gehen davon aus, dass das im Wesentlichen auf einen entspannteren Wohnungsmarkt zurückzuführen ist.” Im Interview mit Wolfgang Storz erläutert Kühn seine Forschungsergebnisse. Er sieht viel kommunalpolitische Pragmatik, wenig von der massenmedialen Panik.

Wolfgang Storz: Herr Kühn, Sie werden es über Medien, Politiker-Interviews, von AfD über CDU bis SPD und FDP, mitbekommen haben: Die Kommunen werden von den „Strömen“ an Geflüchteten finanziell, personell und organisatorisch buchstäblich niedergerungen. Deshalb Abschiebungen, Grenzkontrollen undsoweiter. Nun arbeiten Sie seit Jahren wissenschaftlich auch zu diesem Thema: Belastung der Kommunen wegen Geflüchteten und Integration. Wie sind Ihre aktuellen Befunde?

Boris Kühn: Gemischt. Wie stark die kommunale Belastung ist, hängt vom Bereich ab, auf den man schaut, von den Rahmenbedingungen vor Ort und nicht zuletzt davon, wer aus einer Kommune eine Einschätzung abgibt, „Kommunale Belastung“ — diese Last an sich ist kaum objektiv messbar, die Antwort beinhaltet immer auch ein subjektives Element.

Entgegen der geradezu panischen öffentlichen Debatten lauten Ihre Befunde ja: in der Tat herausfordernd, aber alles halb so wild. Oder sehe ich das falsch?

Kühn: Ihre Frage sieht unsere Befunde jedenfalls auch mit einer bestimmten Haltung und betont die ‚positive‘ Lesart. Die Antworten, auf die Sie Bezug nehmen, stammen aus einer deutschlandweiten Umfrage, die wir in diesem Mai 2024 durchgeführt haben, konkret bezogen auf die Unterbringungssituation. Diese schätzten rund 70 Prozent der etwa 800 Kommunen, die antworteten, als „herausfordernd, aber (noch) machbar“ ein. 23 Prozent sahen sich im Notfallmodus — weniger als noch im Herbst zuvor. Allerdings sagten auch nur sechs Prozent, sie schafften es „ohne größere Probleme“ — daher wäre ich mit Ihrer Wortwahl „alles halb so wild“ zurückhaltend.

Aber von der Debatten-Panik ist konkret vor Ort offensichtlich weniger bis nichts zu spüren. Oder?

Kühn: Richtig ist schon, dass die Einschätzungen vor Ort mehrheitlich weniger panisch klangen als die mediale und politische Debatte. Auch der Anteil der Kommunen, der überhaupt auf Notunterkünfte zurückgreifen muss, lag mit 35 Prozent niedriger als vielfach vermutet. Sporthallen, die wir so oft in den Medien sehen, nutzen sogar nur rund sechs Prozent.

Haben Sie denn Ihre Befunde bisher geheimgehalten?

Kühn: Überhaupt nicht! Unser Kooperationspartner, der Mediendienst Integration, bemüht sich sehr stark um eine mediale Verbreitung. Vor allem die erste Befragung vor etwa einem Jahr wurde in dutzenden Artikeln aufgegriffen und in Talkshows zitiert. Ich habe einigen großen Tageszeitungen und Radiosendern Interviews gegeben. Dieses Jahr im Mai war das Interesse allerdings schon etwas geringer. Das Thema stand in dem Moment etwas weniger im Fokus. Nun sind unsere in der Regel eher auf Differenzierung ausgelegten Erkenntnisse sind nicht unbedingt das, was in die Pro-Kontra-Logik klassischer Polit-Talkshows passt. Für die eine oder andere Reportage wurden wir aber durchaus befragt und hatten den Eindruck, dass es von journalistischer Seite auch ein Bemühen gab, zu verstehen und zu differenzieren. In der aufgeheizten Debatte seit dem Sommer dringen diese Differenzierungen aber kaum noch durch.

Von ganz groß bis winzig — es gibt in Deutschland etwa 10.000 Kommunen. Sind denn Ihre Befunde empirisch seriös und vor allem repräsentativ erhoben?

Kühn: Seriös ja, klar. Aber eine Repräsentativität mit Blick auf alle denkbaren Merkmale: beispielsweise Größe der Kommunen, regionale Verbreitung, Bevölkerungsstruktur, Zuständigkeit für Unterbringung, Wirtschaftsstärke — die lässt sich bei einer Umfrage mit Kommunen, anders als bei Personen, kaum herstellen. Wir haben über Verteiler der kommunalen Spitzenverbände und direkte Emails alle deutschen Kommunen adressiert und rund 800 Antworten bekommen. Einige mussten wir wegen Dopplungen oder Unklarheiten aussortieren. Wir hatten insgesamt eine gute Verteilung über alle Kommunengrößen hinweg. Einige Bundesländer waren deutlich überrepräsentiert, deren Gewicht haben wir deshalb zur Prüfung statistisch nach unten korrigiert — ohne größere Veränderungen bei den zentralen Ergebnissen.
Unsere Ergebnisse sind daher nicht unbedingt auf den Prozentpunkt exakt zu nehmen, aber die Tendenzen stimmen mit Sicherheit.

Wer antwortet denn in den befragten Kommunen? Die BürgermeisterInnen oder Leiter von Flüchtlingseinrichtungen?

Kühn: Das ist ein wichtiger Punkt! Wir haben uns an die Kommunalverwaltungen gerichtet, es haben unterschiedliche Abteilungen geantwortet. Teilweise die Bürgermeister:innen, teilweise Mitarbeitende aus dem Ordnungs- oder Sozialamt. Die politisch Verantwortlichen haben dabei in der Tendenz die Lage negativer eingeschätzt als die Fachabteilungen. Auch ein interessanter Befund.

Sie haben wesentliche Unterschiede zwischen west- und ostdeutschen Kommunen festgestellt. Worin bestehen diese?

Kühn: Dass der Anteil an Kommunen, die sich überfordert sehen, im Osten deutlich geringer ist als im Westen. Wir gehen davon aus, dass das im Wesentlichen auf einen entspannteren Wohnungsmarkt zurückzuführen ist. So ist die Leerstandsquote in den meisten ostdeutschen Regionen höher, die Mieten sind niedriger. Daher gelingt Geflüchteten auch eher der Auszug aus den Unterkünften in privaten Wohnraum — während sie in (westdeutschen) Ballungsräumen teils noch lange, nachdem sie eigentlich hätten ausziehen dürfen, in den Unterkünften bleiben.

Eines Ihrer konkreten Ergebnisse: Die Unterbringung ist gar nicht das zentrale Problem, was ist es dann?

Kühn: In der Tat wurden andere Bereiche deutlich häufiger als überlastet eingeschätzt: die Ausländerbehörden, die KiTas, die Jobcenter, die Schulen, auch die Anbieter der allgemeinen Integrations- und Sprachkurse. Gerade die Ausländerbehörden sind eigentlich seit Jahren strukturell überfordert: aufgrund immer komplexerer Regelungen bei gleichzeitig steigenden Zahlen. Und auch der Mangel an KiTa-Plätzen besteht ja schon länger. Die Kinder der Geflüchteten kommen hier zu den bestehenden Herausforderungen noch ‚on top‘.

Wenn Sie Ihre Befunde nehmen und die panische Debatte in der allgemeinen politischen Öffentlichkeit, was ist Ihr Rat?

Kühn: Mein Wunsch als Forscher wäre, dass auch kontroverse Debatten auf Basis von Zahlen und Fakten und von wissenschaftlichen Erkenntnissen geführt werden. Man kann dann durchaus für mehr oder weniger Migration, für ein strengeres oder liberaleres Asylrecht plädieren — aber auf einer gemeinsamen Basis und idealerweise auch ohne Panik. Dass das geht, sehen wir in vielen Kommunalverwaltungen, in denen relativ pragmatisch mit migrationsbedingten Herausforderungen umgegangen wird.

Boris Kühn ist wissenschaftlicher Leiter des Projekts GENIUS in der Forschungsgruppe Migrationspolitik an der Universität Hildesheim; das Projekt beschäftigt sich mit der Frage, wie speziell in Hessen die Strukturen in Kommunen so verändert werden können, dass die Integration besser als bisher gelingt. Von 2016 bis 2023 war Kühn in baden-württembergischen Kommunen zu diesem Thema tätig. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Migrationsbereich der Universität Luxemburg. Gemeinsam mit dem Mediendienst Integration hat er knapp 800 Kommunen zum Stand der Flüchtlingsaufnahme befragt. Die erste Umfrage erfolgte im Oktober 2023, die zweite in diesem Frühsommer. Der Mediendienst Integration ist wiederum ein Projekt des „Rat für Migration e.V.“, einem bundesweiten Zusammenschluss von Migrationsforscherinnen und -forschern. Er arbeitet unabhängig und will den Austausch zwischen Wissenschaft und Medien intensivieren.

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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