Rente: Eine gewisse Ratlosigkeit ist verständlich

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In der Ampel wird über ein Programm zur Sicherung der Renten gestritten. Der Streit hat eine Wucht, dass er der Ampel eine Trennungssituation bescheren kann. Kann – nicht muss. Es geht um Leistungen für aktuell rund 21 Millionen (bis Mitte der dreißiger Jahre werden fünf Millionen hinzukommen) Rentnerinnen und Rentner. Wendet sich nur ein Teil dieser riesigen Zahl von CDU/CSU einerseits und von den Sozialdemokraten andererseits ab, brauchen die, salopp geschrieben, zur Bundestagswahl im September 2025 nicht mehr anzutreten. Was läuft also da gegenwärtig und woher kommt das?

Der Zweck von Renten war Lebensstandard-Sicherung im Alter. Das „war“ ist wichtig. Aus diesem Grund wurde das heutige „System“ 1957 geschaffen, es bekam als Basis ein Umlageverfahren. Umlageverfahren? Was im Laufe eines Jahres an Rentenbeiträgen eingesammelt wird, das wird binnen desselben Jahres auch wieder ausgegeben. Restlos? Nein. Die Rentenversicherung sammelt eine Rücklage für den Fall an, dass überraschend mehr Geld zur Verfügung stehen muss. Derzeit sind das etwa 35 Milliarden €, anderthalb Monatsausgaben. Über viele Jahre, während Zeiten zunehmender wirtschaftlicher Prosperität, funktionierte das tadellos. Das Umlageverfahren hat freilich einen „Webfehler“, über den fast nie gesprochen wird.

Manche wollen Probleme der Rentenversicherung dadurch beheben, dass mehr Bürgerinnen und Bürger unter dem Dach der Rentenversicherung versammelt werden. Richtig: Viele neue Mitglieder füllen die Rentenkassen auf. Es wird aber stets vergessen, dass das Umlageverfahren später einmal mehr Geld ausgeben muss, weil auch die neuen Mitglieder zu Rentnerinnen und Rentnern werden. Paul Henckels Sätze aus der Feuerzangenbowle:  „Wo simmer denn dran? Aha, heute krieje mer de Dampfmaschin. Also, wat is en Dampfmaschin? Da stelle mehr uns janz dumm. Und da sage mer so: En Dampfmaschin, dat is ene jroße schwarze Raum, der hat hinten un vorn e Loch. Dat eine Loch, dat is de Feuerung. Und dat andere Loch, dat krieje mer später.“ – Dies funktioniert in der Rentenversicherung nicht, oder „nitt“, wie Henckels alias Professor Bömmel gesagt haben würde.

Sozialromantik? Ein Fortschritt

Ein weiterer Vorschlag lautet: Systemwechsel! Vorsicht! Wer den Systemwechsel zu einer kapitalgedeckten Rente haben will, der muss den Betroffenen schon offen erklären: Wenigstens eine Generation hätte eine zweifache System- Last zu tragen: Die Last für die Versorgung im zu Ende gehenden Umlage- System und die Last während des Aufbaus der Kapitaldeckung. Wird gern verschwiegen. Auch ein langsames Ineinanderschieben zweier Rentensysteme bedeutet: doppelte Last, wenngleich gestreckt.  

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Wie kam man seinerzeit auf das heute Geltende? 1950 lag die durchschnittliche Rente eines Arbeiters in Westdeutschland bei 60,50 Mark. Zehn Mark über der damals gesetzlich festgelegten Mindestrente von 50 Mark. Das Wirtschaftswachstum wurde beschleunigt. Und die Rentnerinnen wie die Rentner sollten am daraus resultierenden Wohlstand beteiligt werden. Nach 1957 stieg die durchschnittliche Rente rasch um 60 v.H. 1960 lag sie bei etwa 150 D-Mark. Heute liegt die Durchschnittsrente der Männer bei knapp über 1300 €, die der Frauen bei 900 €.

Ich bin in einer Straße groß geworden, in welcher die Rentner, ehemalige Bergleute, Knappschaftsrenten hatten. Die lagen damals schon über dem Durchschnitt. In den anderen Arbeiterfamilien war´s so, dass die Arbeitenden den Alten halfen, über die Runden zu kommen. Alter war zugleich erbärmliche Armut. Das hat sich in Millionen Familien geändert. Heute sind die Alten oft in der Lage, den Jüngeren, den Erwerbstätigen beziehungsweise deren Kindern zu helfen. Man mag das, was ich hier schreibe für eine etwas verschrobene „Sozial-Romantik“ halten. Geschenkt. Aber darin steckt eben auch ein ungeheurer Fortschritt.

Der Streit in der Ampelkoalition dreht sich um den Anstieg der Renten bis 2040. Ursprünglich hatten sich die drei politischen Richtungen in der Ampel, FDP, Grüne und SPD auf ein Zukunftskonzept geeinigt, in dem

  • der Durchschnitt unselbständig erzielter Löhne und Gehälter auf der einen Seite und
  • Renten andererseits
  • dauerhaft auf ein bestimmtes Verhältnis zueinander festgelegt werden; und zwar auf 100 zu 48. Der Terminus der Fachleute hierfür lautet: Nettorentenniveau von 48 v.H.

So steht es im Koalitionsvertrag. FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner hatte dieses Konzept kürzlich mit Arbeitsminister Hubertus Heil zusammen vorgestellt, es für ausverhandelt bezeichnet. Nun gilt das nicht mehr. Lindner sagt, das sei ungerecht gegenüber den Jüngeren;  und bezweifelt zudem, dass die Bundesrepublik wirtschaftlich in der Lage sein werde, die dadurch erzeugte Summe an Renten zu finanzieren.

Das erwähnte Rentenniveau wird häufig missverstanden. Wer seine Rente daraufhin überprüft, ob die in diesem Verhältnis steht, der wird in der Regel verblüfft sein. Denn das Verhältnis stimmt in den aller-allermeisten Fällen nicht. Das liegt daran, dass dieses Verhältnis, 100:48, eine statistische Größe ist; die sich nur unter folgenden Bedingungen real einstellt: Jemand hat 45 Jahre lang durchgehend in jedem Jahr an Lohn oder Gehalt den statistischen Durchschnitt erzielt – und entsprechend Beiträge in die Rentenversicherung gezahlt. In diesem konkreten Fall liegt das individuelle Rentenniveau auf 48 v.H. Das gibt es auch, ist aber  fast so selten wie die blaue Mauritius.

Bis 1992 war das erwähnte Rentenniveau völlig nebensächlich. Denn bis zu diesem Jahr folgte die Rente der Bruttolohnerhöhung. 1986 hatte die Basler Prognos  im Auftrag der Bundesregierung errechnet, wie sich der Beitragssatz für die Rentenversicherung entwickeln würde

  • unter den absehbaren demografischen Entwicklungen bis 2030
  • und zweitens unter der Bedingung, dass sich im Rentenrecht nichts Wesentliches ändern würde.

Ergebnis: Der Beitragssatz würde bis 2030 auf eine Größenordnung von wenigstens 26 v.H. steigen. Mit der Tendenz zu über 26. Das hätte der Rentenversicherung den Garaus gemacht. Daher verabschiedete der Bundestag am 9. November 1989 (!) eine Reform mit den Stimmen der oppositionellen SPD, der die bislang praktizierte Bruttoerhöhung verwarf und Rentenerhöhungen nach dem Nettoanstieg der Löhne und Gehälter festlegte. Diese neue Weise der Rentenerhöhungen trat 1992 in Kraft. Das heißt: Vom Brutto werden seit 1992 die durchschnittlichen  Sozialabgaben abgezogen: ergibt einen Nettowert – allerdings vor Steuern. Im Verlauf der Jahre und Jahrzehnte wurden so hunderte Milliarden D-Mark beziehungsweise Euro eingespart; auf der Seite der Beitragszahlenden und auf der Seite der Renten- Beziehenden.

Blüms berühmter Eckrentner

Damit bekam die Rentenversicherung wieder eine Perspektive, die sich vertreten ließ. Statt der befürchteten 26 v.H. und mehr würden sich, so wurde geschätzt,  die Rentenversicherungs-Beiträge 2030 in Richtung 21 bis 22 v.H. bewegen.

Es wurde erforderlich, einen Mittelwert zu definieren, und der wurde an Norbert Blüms berühmten „Eckrentner“ geknüpft. Genau den. Das war der mit (a) den 45 Versicherungsjahren und (b) mit den durchschnittlichen Löhnen während dieser 45  Arbeitsjahre.

Die durch die Nettoanpassung erstrebte Perspektive funktionierte freilich nicht so, wie erwartet worden war. Denn schon 1997 kündigte Arbeitsminister Blüm an, dass die Rentenversicherung ohne zusätzliche Hilfe im Wahljahr 1998 einen Beitragssatz von über 21 v.H. bräuchte. Massenarbeitslosigkeit und die durch die deutsche Einheit veränderte Demografie erforderten für die Rentenversicherung höhere Einnahmen. Wiederum mit Hilfe der SPD wurde der Rentenversicherung mehr Geld zugeführt (mittels eines neuen Bundeszuschusses waren das 98: 9,6 Milliarden D-Mark, 1999: 15,6 Milliarden). So wurde der Beitragssatz auf 20.3 v.H. „gedimmt“. Damals lag das erwähnte Nettorentenniveau übrigens bei 54 v. H (der Höchstwert betrug knapp 60 v.H. 1977).

Die 54 v.H. wurden von Blüm und anderen als Bedingung definiert, damit die Rente die Funktion der Lebensstandard- Sicherung erfüllen könne. Nach 1998 wurde ziemlich rasch klar, dass der neue Bundeszuschuss langfristig nicht reichen werde.

  • Ohne weiter erhöhte Unterstützung der Rentenversicherung durch die Steuerzahlenden würde es sehr schwierig werden, ein akzeptables Rentenniveau zu halten.
  • Denn es würden in den folgenden Jahrzehnten die in die Rente gehen, die durch Arbeitslosigkeit unterbrochene Erwerbsverläufe hatten.
  • Die Kindererziehungszeiten würden teurer werden,
  • Das Recht auf Teilzeitarbeit würde sich langfristig rentenmindernd auswirken.
  • Die Frühverrentung würde sich auswirken.
  • Und die demografischen Verschiebungen würden stärker ausfallen als erwartet.

Sicherungskonzept installiert

Walter Riester und in der Folge auch von 2002 bis 2005 Ulla Schmidt haben durch eine Reihe von Initiativen, die als  Gesetze  beschlossen wurden, Brisanz aus der Beitragsentwicklung genommen.

  • Renten- begründende Faktoren wurden auf die rein berufliche Ausbildungszeit begrenzt.
  • Es wurde ein Dämpfungsfaktor geschaffen, der den Rentenanstieg reduzieren soll, wenn besonders hohe Rentenanpassungen  bevorstehen, und ein
  • Nachhaltigkeitsfaktor, der immer dann wirksam werden soll, wenn sich das Zahlenverhältnis zwischen Beitragszahlenden und Rentenempfängern gravierend zu Lasten der der „Aktiven“ ändert.
  • Auch die Verlängerung der Lebensarbeitszeit wurde damals bereits diskutiert, allerdings erst nach 2005 durch Arbeitsminister Franz Müntefering durchgesetzt.
  • 2005 trat zudem die soziale Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Kraft. Die Grundsicherung ergänzt besonders kleine Renten nach einem Bedarf, der im Einzelfall ermittelt wird.
  • Ferner hatte Riester eine Zuschuss- gestützte Ergänzung zur gesetzlichen Rente auf den Weg gebracht, die sogenannte „Riester-Rente“.
  • Riester hat damals dem Innenminister abgerungen, dass das End-„Ruhegehalt“ in der Beamtenversorgung nicht mehr bei 75 v.H. liegen dürfe sondern bei 72,5 v.H. der letzten Bezüge. Bitte kein lautes Gelächter. Das war bereits ein sehr hartes Stück Arbeit.

Alles in allem wurde in den Jahren zwischen 2000 und 2006 ein Sicherungskonzept für die gesetzliche Rentenversicherung installiert, dass eine enorme Wirksamkeit entfalten könnte – sofern es kontinuierlich angewendet würde.

Die Deutsche Rentenversicherung hat nun gerechnet: Bis 2035 werden die Renten über die Jahre gesehen um 35 v.H. steigen. Mit der Fixierung auf ein Rentenniveau von 48 würden die Renten bis 2035 um gut 38 v.H. erhöht. Die Anzahl der Rentnerinnen und Rentner wird bis 2035 um gut 22 v.H. zunehmen. Die zahlenmäßige Lücke zwischen den bis 67 Jahren Arbeitenden und den Renten-Berechtigten lässt sich nur schließen, wenn in jedem Jahr Zuwanderung „stattfindet“ – und zwar in einer erheblichen Größenordnung.

Gleichzeitig steigt das Rentenzugangsalter bis 2031 auf 67 Jahre. Die Verlängerung des Zugangsalters von 65 Jahre auf 67 Jahre war die Reaktion des Gesetzgebers auf eine durchschnittliche höhere Lebenserwartung. Das durchschnittliche, reale Zugangsalter stieg bis 2022 (das sind die jüngsten Zahlen) auf 64,5 Jahre. Es lag zu Beginn des Jahrzehnts bei 62,4 Jahren. Es steigt also langsam an.

Heil hat die Reform am Beispiel einer Krankenschwester erläutert, die 2040 in Rente geht. Die habe dann 1100 € mehr zur Verfügung als heute. Die Rentenversicherung gibt an, dass im Gegenzug die Beiträge bis 2040 auf 22,5 v.H. angehoben werden müssten statt der heute geltenden 18,6 v.H.

Was könnte Zuversicht wecken?

Die Zukunft der sozialen Sicherheit im Alter: Eine gewisse Ratlosigkeit angesichts der heutigen Bedingungen ist verständlich. Was könnte da Zuversicht wecken?

Erstaunlich ist, dass der Herr Bundesfinanzminister nun auf Ideen des Walter Riester gekommen ist. Über viele Jahre hinweg haben Lindner &Co für die Ideen des früheren 2. Vorsitzenden der IG Metall (von 93 bis 98, anschließend Bundesarbeitsminister bis Herbst 2002) nur Spott übriggehabt. Nun wollen sie die gesetzliche Rente durch ein zuschuss-gestütztes, kapitalgedecktes Ergänzungssystem in der Zukunft sichern. Exakt das wollte auch Riester. Riester hatte allerdings das Anleger-Risiko minimiert. Lindner will es mit Blick auf eventuell höhere Renditen vergrößern.

Dann wird es darum gehen, einen hohen Beschäftigungsstand zu halten. Bildungs- und Infrastrukturausgaben müssen erhöht werden. Es muss attraktiver werden, in der Bundesrepublik zu arbeiten. Kinderbetreuung muss weiter ausgebaut werden. Es müssen im Land mehr Arbeitsplätze entstehen, auf denen über 67-Jährige gut arbeiten können.

Unüberwindbar sind die Hürden also nicht, die einer Rentenreform für die nächsten Jahrzehnte entgegenstehen. Schließlich ist es so: Als die Prognos AG in den Achtzigern des vorigen Jahrhunderts warnte und auf die Warnung reagiert wurde, lag das Beitrags-Ziel der Rentenreformer für die Mitte dieses Jahrhunderts bei 22,5 v.H. Das gilt wieder. Kein schlechtes Ergebnis über die lange Frist gesehen.

Klaus Vater
Klaus Vater arbeitet als Kommunikationsberater und Autor. Er war stellvertretender Sprecher der Bundesregierung, zuvor Pressesprecher des Gesundheitsministeriums sowie des Arbeitsministeriums. Seinen Jugend-Kriminalroman "Sohn eines Dealers" wählte die Kinderjury des Literaturpreises "Emil" 2002 zum Kinderkrimi des Jahres.

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