Kant weist der Publizistik die Aufgabe zu, zwischen Politik und Moral zu vermitteln. Im laufenden Kant-Jahr scheint es einmal angebracht, darüber nachzudenken, wie gut die publizierte Öffentlichkeit dieser Aufgabe nachkommt. Natürlich gibt es die publizierte Öffentlichkeit nicht, denn wir genießen doch eine Vielfalt politischer Meinungen. Genießen wir? In der Debatte um Migration erlebt der Medienkonsument ein Meinungsmonopol, an dem sich vor allem Die Grünen bislang die Zähne ausbissen. Wer sich asylrechtlichen wie moralischen Standards verpflichtet fühlt, erfährt kaum publizistische Unterstützung. Der grüne Bundesvorstand scheint nun daraus zu folgern, es sei klug, sich diese Unterstützung zu erschleichen, indem man, wie die anderen Parteien auch, auf solche Standards pfeift.
Die Philosophie Kants verweist darauf: Gegenstand der Erfahrung kann nur sein, was ein Produkt des Subjekts ist. Die erste Natur ist kein Produkt der menschlichen Gattung, daher ist es unserer Vernunft nicht möglich, ihren Wesenskern zu erfassen. Die weltweite Migration ist aber nicht der ersten Natur zuzurechnen. Armut und Umweltverheerung gehen aus der Natur nicht hervor wie ein Vulkanausbruch. Sie sind, was man einmal zweite Natur genannt hat. Wäre die Menschheit ein wirkliches Subjekt und das Wort kein bloßer Hauch, der weltweiten Not ließe sich steuern. Die materiellen Güter dazu wären vorhanden, jedoch sind Wohlstand und staatliche Wohlfahrt zwischen dem Norden und dem Süden völlig ungerecht verteilt. Die Erdkugel ist in Einfluss-Sphären aufgeteilt, und was die Bürger ökonomisch abgehängter Staaten begehren, verteidigen die der OECD-Staaten mit Zähnen und Klauen.
Lieber Realitäten leugnen als Wähler verlieren
Laut der Welthungerhilfe müssen 820 Millionen Menschen Hunger leiden. Weitere zwei Milliarden sind von Mangelernährung betroffen, weil Nahrung unzureichend und sauberes Wasser unzugänglich sind. Zehn Prozent der Menschheit leben von vier Dollar am Tag; darunter fängt gleich das Sterben an. 36 Prozent haben das Doppelte zur Verfügung, was sie der Lebensnot nicht wirklich enthebt. Neun von zehn extrem Arme werden laut Schätzung der Weltbank in wenigen Jahren auf dem afrikanischen Kontinent ihr Dasein fristen. Es sind gerade einmal 16 Prozent der Weltgemeinschaft, die in den sogenannten reichen Ländern leben, was ihnen keineswegs eine staatliche Altersvorsorge und Krankenversicherung garantiert. Dass die Flüchtlingsströme – gegenwärtig geschätzte 80 Millionen Menschen – um die Grenzen der entwickelten Industrienationen einen Bogen machen, ist so wahrscheinlich wie die Einhaltung des beschlossenen Ziels, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen.
Das seien traurig stimmende Fakten und eine stetige Aufforderung, caritativ tätig zu werden, aber kein politischem Handeln zugänglicher Tatbestand, wird der aufgeschlossene Zeitgenosse sagen. Es sei denn, einer verfechte einen völlig überzogenen, zwischen moralischem Sentiment und politisch Machbaren nicht unterscheidenden Politikbegriff. Den sogenannten Gutmenschen wird solcher Kategorienfehler – unter den Gebildeten ihrer Verächter Gesinnungsethik genannt – gerne in die Schuhe geschoben; eine merkwürdige Sottise. Was soll daran verkehrt sein, wenn man ein guter Mensch sein will?
Die Grünen, denen die Rechte, die Konservativen und Teile der Sozialdemokraten so gerne Realitätsflucht unterstellen, sind in der Parteienlandschaft die letzten Mohikaner gewesen, denn sie konfrontierten die deutsche Öffentlichkeit mit der ihr eigenen Realitätsverweigerung. Man will nicht wahrhaben, was offensichtlich ist: Die sich auf die Flucht begebenden Millionen, in der Absicht, sich in die hochentwickelten, ihnen als irdisches Paradies erscheinenden Länder durchzuschlagen, sind durch keinen Masterplan, kein Ankerzentrum und keine Drittstaatenregelung aufzuhalten. Dass dem so ist und das Wohlstandsgefälle seinen Tribut fordert, die Bevölkerungen der OECD-Staaten ahnen es. Das Gros der Parteien streut dem Wähler Sand in die Augen, und wem das Denken in Zusammenhängen zu anstrengend ist, der lässt sich dies gerne gefallen. Die von ihren Wahlergebnissen aufgeschreckten Partei zieht gerade den Schluss, Realität zu leugnen sei allemal besser als Wähler zu verlieren.
Massenmedien als Mittel der Gegenaufklärung
Wo Zusammenhänge zerrissen sind, scheinen unverständliche, von keiner Vorgeschichte verursachte, zerfaserte Ereignisreihen auf, und Nachricht reiht sich an Nachricht. Den Erfahrungszusammenhang zu vermitteln, ist in etwa das Letzte, dem sich die Massenmedien verpflichtet fühlen. Dann ist dies eben die Sache der Qualitätspresse, könnte man sich beruhigen, aber weit gefehlt. Der Gedanke, dass die weltweite Migration eine Folge der völlig ungerecht verteilten ökonomischen Ressourcen ist, darf nie auftauchen. Er darf nicht auftauchen, weil er den zweiten Gedanken unweigerlich nach sich zöge. Wenn vier Fünftel des in Kapitalwert bezifferten weltweiten Reichtums einem Prozent der Weltbevölkerung gehören, kann es nur ein politisch-ökonomisches Algebra geben, welches die Lösung der Aufgabe bringt.
Wer in den großen Redaktionen sein Auskommen finden will, hat das Revers unterschrieben, alles zu unterlassen, was die Kräfte des freien Warenverkehrs und des Privateigentums stören könnte. Gerne kann er mit pathetischem Tremolo über unsere Werte schreiben, aber die ökonomischen Wert- und Eigentumsverhältnisse darf er nicht in Frage stellen. Der Publizistik, als dem Hort der Aufklärung, hat das Bürgertum einmal seinen Aufstieg verdankt. Nachdem es kein Bürgertum mehr gibt, sind die Medien in weiten Teilen ein Mittel der Gegenaufklärung geworden. Die Presseleute sind die akkreditierten Lautsprecher der Unternehmer und posaunen deren zyklisch vorgetragene Torschlusspanik („Die Konjunktur kippt“) bereitwillig aus. Der Effekt dieser Tatarenmeldung bei den Adressaten ist immer der gleiche: Xenophobie. Steigt die Existenzangst, steigt die Wut auf die Fremden, die man beschuldigt, sich am Eigenen vergreifen zu wollen.
In der Wochenendbeilage der großen konservativen Zeitung darf es mittlerweile um Verhaltensregeln beim Analverkehr gehen, denn für prüde wollen selbst die Konservativen nicht mehr gelten. Jedoch einen Blick auf ein Jenseits der ökonomischen Verkehrsform zu eröffnen, gälte solcher Redaktion als undenkbar.
Talcott Parson hat eine das Geld und die Macht umfassende soziologische Theorie geschrieben, welche die Presse der Kategorie Macht subsumiert. Das Gemeinsame: Beides, Geld wie Macht, zirkuliere und lasse sich speichern. Dieser um geschichtliche Bestimmtheit unbesorgte Essentialismus ist wenig überzeugend und doch ist an einem Punkt etwas dran. Wer in den Medienkonzernen etwas zu sagen hat, den hat man sich vorher sehr genau angeschaut. Bietet er die Gewähr, keinen unreglementierten Gedanken zuzulassen? Wer sich bewährt, bekommt zu seinem Gehalt einen Bonus in Form des Prestiges, ein von Parsons betonter Aspekt.
Literatur:
Talcott Parsons: Sociological Theory and Modern Society. English edition. 440 S., geb., ISBN: 978-0029242001, The Free Press 196
Unter dem Titel „Presse und Macht“ erschien der Beitrag zuerst auf Textor
Ah, die Medien als „bösen“ Kapitalismus verteidigende, gar „Xenophobie“ verbreitende Macht: Das ist ein uralte, in dieser Pauschalisierheit falsche linke Plattitüde, die sich in kaum etwas vom Vorwurf der „Lügenpresse“ der Gegenseite unterscheidet. Ich habe mehr als 40 Jahren in div. großen Redaktionen gearbeitet, auch als leitender Redakteur, und niemals unterschreiben müssen, die Marktwirtschaft nicht angreifen zu dürfen. Das Privateigentum, auch das an Unternehmen und Betrieben, ist durch das Grundgesetz geschützt. Wer das ändern möchte, muss das „böse“ System überwinden. Das versuchen jedoch gerade ganz andere.
Was die irreguläre Migration betrifft: Auf diesem wilden, lebensgefährlichen Weg kommen gerade nicht die Ärmsten der Armen zu uns. Die können die Schleuser nicht bezahlen und bleiben deshalb in aller Regel in ihrem Heimatländern oder Nachbarstaaten. Für Menschen, die ein besseres Leben suchen als in ihren korrupten, von den eigenen Eliten oftmals verheerten Ländern, ist das Asylrecht nicht geschaffen. Echte Flüchtlinge muss und wird Deutschland weiterhin aufnehmen. Aber mit dem Zustrom von Migranten v.a. aus dem arabisch-muslimischen Raum sind wir und die Politik überfordert. Wer verhindern will, dass als Folge die Ausländerfeinde und Nationalisten immer stärker werden und unsere Demokratie destabilisieren, muss deshalb etwas dagegen unternehmen. Das haben inzwischen auch führende Grüne erkannt. Man kann sie nur bestärken.
Wo bitte setzen Sie sich mit dem Argument des Textes auseinander, dem Hinweis auf die verschwindende Minderheit, in deren Besitz sich der gesellschaftliche Reichtum befindet, zu Lasten der Ausgepowerten dieser Welt? Der Kapitalismus, den als böse zu bezeichnen einen Infantilismus anklingen lässt, den Sie meinem Artikel unterstellen, schafft archaischen Hunger und Durst nicht ab, eine existentielle Not, die der Menschheit zur Schande gereicht und am Beginn der Migration steht. Sie nennen diese Fluchtbewegung irregulär und sehen ihre Veranlassung wohl eher in Abenteuerlust. Das von Ihnen in Anspruch genommene „Wir“ klingt nach gesellschaftlicher Majorität, deren Meinung über alle Zweifel erhaben ist und gegen die sich niemand mausig machen darf. In gleicher Weise konformistisch wirkt Ihr Hinweis auf 40 Jahre Berufserfahrung in „großen Redaktionen“ und als „leitender Redakteur.“ Waren vielleicht unreglementierte Gedanken in Ihren Texten unauffindbar und Sie haben deshalb nie angeeckt?
Es wäre hilfreicher, wenn der Autor statt groß über die Weltlage zu schwadronieren und zugleich Kant für seine Zwecke zu missbrauchen, einfach mal konkreter das Problem darlegte und analytischer argumentierte.
Im übrigen stimme ich meinem Vorredner Ludwig Greven zu und muss daher nicht auführlicher antworten.
„Auf diesem [..] Weg kommen gerade nicht die Ärmsten der Armen zu uns.“ Dieses Argument kann ich nicht mehr hören. Die Menschen in den ‚Flucht’ländern handeln da durchaus rational: die größte Chance, sowohl die lebensgefährliche Flucht zu überstehen, als auch mit Arbeit Geld für die im Land Verbliebenen zu organisieren, haben junge Männer.
Was mir bei diesem Argument aber wirklich aufstößt, ist, dass es vom sicheren Sofa des westdeutschen Heimes geäußert wird, aber in keiner Weise Wege aufgezeigt werden, wie WIR a) den ‚Armen der Ärmsten‘ konkret helfen können, um b) nebenbei auch den Haupttreiber der Migration zu beseitigen.
Um dieses Problem wirklich anzugehen, bedarf es nicht des Almosens, sondern eine klaren Umverteilung des Reichtums, von oben nach unten, von Nord nach Süd.
Ja, das GG schützt das Eigentum, aber es verpflichtet es auch! Dazu kommt noch, dass das existierende System der ‚Umverteilung‘ von unten nach oben, Kapitalismus genannt, ganz nebenbei auch noch die Lebensgrundlagen einer großen Zahl von Menschen zerstört bzw. schon zerstört hat. Ich bin sehr unsicher, ob eine statische Kreislaufwirtschaft einen Kapitalismus nötig hat (Empfehlung dazu das Buch von Ulrihe Herrmann dazu).